1. August 2019

Julia Onken, 01.08.2019

Julia Onken
Julia Onken

1.August: Grund zum Feiern!

Gleichzeitig eine gute Gelegenheit, sich ein paar Gedanken zu machen, in welchem Land wir leben. Schliesslich blicken wir auf eine sehr erfolgreiche Landesgeschichte zurück, auf die ältesten Demokratie, die seit 1848 als Bundesstaat mit 26 Kantonen zusammengeschlossen ist. Die Schweizerischer Eidgenossenschaft, 1291 gegründet, darf sich sehen lassen. Das ist aber noch kein Grund, sich auszuruhen – im Gegenteil, alles daran zu setzen, Errungenes zu bewahren und zukünftige Themen rechtzeitig zu erkennen und zu bearbeiten. Wer die Geschichte der Schweiz zurückverfolgt wird an einem Wort nicht vorbeikommen, das für alles, was sich in diesem Land ereignet hat, eine zentrale Rolle spielte: Selbstbestimmung. Ja, Selbstbestimmung ist der wichtigste Begriff, der durch die geschichtlichen Stationen führt. Wer in seinem persönlichen Leben je die Erfahrung gemacht hat, nicht mehr über sein Leben selbst bestimmen zu können, abhängig zu sein, weiss, dass dies einer Tragödie von besonderer Härte gleichkommt. Denn es ist ein Menschenrecht, über sich und seine ihn betreffenden Lebensbereiche selbst zu bestimmen und zu entscheiden, wohin die persönliche Reise gehen soll. Selbstbestimmung ist das Gegenteil von Abhängigkeit, von Ausgeliefertsein, von Machtlosigkeit und Ohnmacht. Ein Mensch, der sein Selbstbestimmungsrecht verloren hat, kann mit einem steuerlosen Schiff verglichen werden, das von Wellen und Strömungen orientierungslos herumtreibt, und wahllos fremden Einflüssen ausgeliefert ist.

Und was im kleinen Persönlichkeitssystem gilt ist durchaus auf grössere soziale Systeme, wie Familie, Gemeinde und auch auf die Landespolitik übertragbar. In unserer direkten Demokratie haben wir die Möglichkeit – mehr noch, wir sind dazu aufgerufen – in politischen Belangen unsere Stimme einzubringen. Dabei steht das Koordinatensystem SELBSTDENKEN – SELBSTENTSCHEIDEN – SELBSTBESTIMMEN im Mittelpunkt und hilft bei der Vermessung eigener Positionen. Während uns Menschen aus anderen politischen Systemen darum beneiden, gehen wir damit gelegentlich fahrlässig um und denken, andere werden es schon richten.

Sich zurückzulehnen und damit auf die Durchsetzung des eigenen Standpunkts zu verzichten, ist keine neuartige Erscheinung, sondern hat es bereits früher gegeben. Anfangs der 20iger Jahre formulierte es Rainer Maria Rilke in folgenden Worten: «Ist es möglich, dass man Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und dass man Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause, in der man sein Butterbrot isst und einen Apfel? Ist es möglich dass man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist? Ist es möglich dass man sogar diese Oberfläche, die doch immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen Stoff überzogen hat, so dass es aussieht wie die Salonmöbel in den Sommer-ferien? Ist es möglich dass die ganze Weltgeschichte missverstanden worden ist?» (1)

Vielleicht haben wir tatsächlich nichts aus der Geschichte gelernt? Und haben die wichtigste Lektion, selbst zu bestimmen, selbst zu denken, selbst zu entscheiden nicht gelernt! Doch die Geschichte fordert uns immer wieder neu heraus und fordert uns auf, das Steuer für unser Geschick selbst in die Hand zu nehmen. Denn es klopfen wichtige Themen an unsere Tür, die zur Bearbeitung drängen: Naturschutz, Gleichstellung von Mann und Frau, Seniorendasein.

In der Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen geht es vor allem darum, sich darüber im Klaren zu sein, dass eine ernsthafte Beschäftigung nur möglich ist, wenn wir uns selbst einerseits als mitbestimmende Akteure und andrerseits gleichzeitig als Verursachende miteinbeziehen.

Als Leitplanke dient ein Zitat von Martin Buber: «Mit sich beginnen, aber nicht bei sich enden...» Dieser Leitsatz schützt davor, den Blick stets auf andere zu richten, sondern sich selbst ebenfalls im Auge zu behalten. Auf diese Weise fällt die oft in politischen Diskussionen stattfindende Anklage gegen Andersdenkende weg, was weder zu ausgewogenen Lösungen noch zu vernünftigen Kompromissen führen kann. So ist die Frage nach dem eigenen Beitrag Grundlage und Schutz zugleich, sich in lärmender Saloppheit zu vergaloppieren.

Ein Thema, das uns derzeit beschäftigt und nicht mehr wegdiskutiert werden kann: Natur- und Umweltschutz. Wie leicht wäre es, Verhaltensweisen anzuklagen, Forderungen und Verbote auszusprechen. Viel entscheidender ist doch die Frage, wie verhalte ich mich? Ein kurzer Shoppingtrip übers Wochenende für 80 Euro nach London, reisende Aktivitäten um an spassigen Eventveranstaltungen gegen Umweltverschmutzung teilzunehmen, Eingangstüren von Bankinstituten besprayen usw. Auch können wir uns nicht mit Natur- und Umweltschutz beschäftigen, ohne den eigenen Fleischkonsum zu reflektieren. Es ist kein Geheimnis, dass die Massenhaltung von Tieren eine gravierende Belastung für die Natur darstellt. Ich erinnere mich noch gut, im Anschluss an die 68er Jahre der Rebellion, wie sich ein empörter Songtext an die Protagonisten der erwachsenen Welt richtete. Der Text lautete (2): Was habt ihr nur aus dieser Welt gemacht!

Diese Erde war ein Garten
Die Menschen waren Brüder
Und die Luft wie Samt und Seide
Und alles Wasser
War wie Kristall so klar

Doch der Garten wird zur Wüste
Hört auf, ihn zu zerstören
Ihr zerstört euch doch nur selber
Bald wird's zu spät sein
Besinnt euch jetzt und gleich!

Ein anderes Thema brennt gleichermassen unter den Nägeln: Gleichstellung von Mann und Frau. Es kann durchaus sein, dass wir nie persönlich Diskriminierungen ausgesetzt waren und könnte dazu führen, selbstzufrieden zu sagen: Danke mir geht es gut. Ich habe alles. Mein Haus. Mein Auto. Mein Hund. Bei sich selbst beginnen heisst, sich auf Begegnungen mit Menschen einzulassen, die in weniger privilegierten Verhältnissen leben. Ich denke da vor allem an Frauen, die aus patriarchalen Kulturen bei uns leben, für die Selbstbestimmung ein Fremdwort ist. Auch hier genügt ein Blick in die Geschichte, vor 200 Jahren hat die bekannteste deutsche Lyrikerin Annette von Droste Hülshoff in einem Gedicht ihre eigene Situation wie folgt geschildert (3):

Wär' ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär' ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muß ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar,
Und lassen es flattern im Winde!

Es gehört doch zum Grundgedanken einer Demokratie, dass allen Menschen – und Frauen sind ja auch Menschen, welcher Nation zugehörig sie sind – die Grundrechte auf Selbstbestimmung zugestanden werden.

Und nun in eigener Sache. Seniorenbashing. Ich weiss, von was ich rede, obwohl ich selbst kaum davon betroffen bin. Aber ich blicke über den Gartenzaun und da beobachte ich vieles, was mir ganz und gar nicht gefällt. In unserer Gesellschaft wird Älterwerden statt als Erfahrungskapital gewürdigt, als belastende Hypothek behandelt. Wenn von «drohender Überalterung» gesprochen wird, ist das ein Frontalangriff auf das Lebensrecht älterer Menschen. Oder wenn es zum Beispiel darum geht, wie hoch der Betrag für die Ergänzungsleistung angesetzt werden soll, ist die knappe Berechnung, die keinerlei zusätzliche Vergnügen zulassen, mehr als beschämend. Von Würdigung der geleisteten Arbeit – auch für das Wohl der Gemeinschaft – keine Spur. Noch nie in der Menschheitsgeschichte war soviel Erfahrungswissen, Erfahrungskapital und Weisheit vorhanden! Noch nie in der Menschheitsgeschichte gab es einen derartigen Reichtum von gesammeltem Wissen. Statt dieses Wissen zu missachten, sollte dieses gigantische Kapital nutzbar gemacht werden, ältere Menschen zur beruflichen und persönlichen Beratung beiziehen, zum Coaching, Mentoring usw. - und Würdigung älterer Menschen.

Ich habe keine Patentrezepte. Ich kann lediglich auf jene Denkstrategien aufmerksam machen, die in einer Sackgasse enden. Deshalb soll Schluss sein mit parteipolitischer Ideologie – weder links noch recht, weder schwarz noch weiss, Lösungen finden sich in den Zwischentönen. Sich das Recht nehmen, selber zu denken, ungewöhnliche Denkpfade zu entdecken, querdenken – gegen den Strom schwimmen lernen, zu diskutieren, zu debattieren, mitmischen und mitentscheiden wollen – ja, und auch zu streiten. 

Dieses Land trägt keine Wunden aus Kriegen, ist nicht gebeutelt von Wiederaufbau, die Biografien der meisten Menschen sind nicht gezeichnet von schmerzlichen Verlusten und Kriegserfahrungen! Wir alle, die hier seit Jahrzehnten leben, tragen die Zeichen der Friedenserfahrung in ihren Zellen: Das sollte uns nicht nur stolz, sondern auch stark und mutig machen.

Wo denn sonst, wenn nicht hier?

In diesem demokratischen Land, einem Land, das für Selbstbestimmung, Frieden und Freiheit steht!

Ja, es ist möglich, aus der Geschichte zu lernen!
Denkgefängnisse zu sprengen!
Selbst zu denken, selbst zu entscheiden, selbst zu bestimmen!
Und - Dankbarkeit für dieses Land zu entwickeln!

Julia Onken

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(1) Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, 1910
(2) Song von Su Kramer, was habt ihr nur aus dieser Welt gemacht
(3) Am Turme, Annette von Droste Hülshoff ((1797-1848)

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