An meinen Onkel Sepp

Eveline Keller, 29.01.2020

Eveline Keller
Eveline Keller

Onkel Sepp, du warst der Bruder meiner Mutter und der Jüngste von sieben Geschwistern. Du hast zeitlebens keinen von uns kalt gelassen. Obwohl du sehr bescheiden und zurückgezogen gelebt hast, haben wir uns oft um dich gesorgt. Wie damals, als du beim Besuch der öffentlichen Toilette, mit Haare Kämmen beschäftigt warst und darüber vergessen hast dein Gebiss wiedereinzusetzen. Es blieb trotz sofortiger Suchaktion, spurlos verschwunden.

Ein anderes Mal, hast du dein neues Hörgerät vergessen. Dieses elektronische Pfeiff-Ding hattest du sowieso gehasst, und hattest es wohl kaum vermisst. Obwohl du ohne das kleine Wunderding kaum ein Wort verstanden hast.

Du magst etwas gehadert haben mit dem Zwischenmenschlichen, aber auf der Skipiste warst du der absolute Champion und eine Augenweide. Ich werde nie vergessen, wie du in Reschen über die Buckelpiste von Schöneben gewedelt bist. Du bewältigtest den hügeligen Abhang mit einer Eleganz und Harmonie, als bestünden deine Knie aus Gummi, das war wunderschön anzusehen. Ich war damals um sechzehn herum, pubertierend mit null Bock auf gar nichts, und fand Freizeitsport absolut lächerlich.

Aber ich muss neidlos zugeben, dass ich mir wünschte, ich könnte auch so schnittig die Piste heruntersausen, gerade so, als gäbe es die buckeligen Hügel unter den Skiern nicht. Ich dachte damals: Mein Gott, der kann das wahnsinnig gut, und das in seinem Alter! Hut ab! Heute weiss ich nicht mehr genau, in welchem Winter das war, aber wenn ich nachrechne, müsstest du damals plus, minus dreiundvierzig Jahre gewesen sein. Womit du für mich, vom Alter her, mehr in die Nähe von Methusalem gehörtest.

Heute, nun, lässt mich das schmunzeln. Ja, ich habe geübt und ja, ich kann das heute beinahe so gut wie du, und ich bin gerade sechzig geworden. Also viel älter als die MethusalemIne… Wie sich mit der Zeit doch die Perspektive verschiebt? Selbstverständlich fühle ich mich heute nicht alt, obwohl man mit sechzig definitiv nicht mehr jung ist. Höchstens noch junggeblieben, was ganz schön anstrengend sein kann.

Aber zurück zu dir. Das Skifahren hattest du als Bergler in die Wiege gelegt bekommen. Deine andere grosse Leidenschaft war das Alteisen sammeln. Wo du gingst und standst, hast du Metall angehäuft. Jahrelang bist du mit einem sogenannten "Kipperli" herumgefahren, einem kleinen Laster mit Ladefläche, und hast damit jederzeit achtlos weggeworfenes Metall eingesammelt.

Deine Schätze hast du, zum Leidwesen der Verwaltung, im Hausflur der Alterssiedlung gelagert, den Keller damit vollgestopft, und mangels Platz auch in der Wohnung angehäuft, sogar in deinem Bett lagerte Alteisen. Bescheiden wie du warst, hast du stattdessen einfach auf der Couch geschlafen.

Du gingst deinen eigenen Weg, Familienbande und Beziehungspflege waren nicht in deiner DNA. So vergingen die Jahre, auch mein Leben war satt-voll, mit junger Familie, und mit austarieren der Work-Life-Balance. Folglich trafen wir uns nur noch bei Beerdigungen oder an einem deiner seltenen Besuche. Dafür kreuzten sich unsere Wege manchmal unverhofft in Zürich, an den unmöglichsten Orten. Meist wurde mir erst hinterher und zu spät bewusst, dass du das gewesen sein musstest, der da vorbeigefahren war. Wahrscheinlich ging es dir ebenso.

Du warst nicht der Typ, der sich um andere kümmert. Du warst ein Eigenbrötler und hast dich standhaft geweigert, ein Telefon anzuschaffen. Wenn jemand mit dir in Kontakt treten wollte, musste er persönlich vorbeikommen und dir vorher eine Karte schreiben, dass du ihn anrufst. Mit der Reduktion der öffentlichen Telefonkabinen in der Stadt, wurde auch das immer schwieriger. Deine Schwester, meine Mutter, hat sich oft darüber genervt. Denn entweder bist du viel zu spät zur Verabredung gekommen oder gar nicht. Stimmt, sie hat ihre Art, sich in anderer Leute Leben einzumischen. Vielleicht konntest du so ihre unliebsame Neugierde auf Distanz halten.

Später, nach einem Verkehrsunfall war der Laster kaputt. Du hattest im Laufe deines Lebens mehrere Unfälle und galtest in unserer Familie als unverwüstlich, aber wie sich herausstellen sollte, gab es auch da Grenzen. Du erholtest dich nach den Unfällen zwar immer wieder und lebtest weiter wie bisher, aber jedes Mal, auf einem etwas tieferen Niveau. Nach dem Unfall mit dem Laster also, und auch aus Altersgründen, du warst inzwischen Mitte siebzig, bist du aufs Rad umgestiegen, natürlich mit Anhänger fürs Alteisen. Von da an bist du überallhin mit dem Velo gefahren. Bis du damit einen, deiner gröberen Unfälle hattest, mit Schädelhirntrauma und dem Verlust des rechten Auges. Was dich nicht gehindert hat, dich gleich wieder aufs Rad zu schwingen. Nur langsam, fast unmerklich ging auch dir die Kraft aus, und es wurde ruhiger um dich. Und du hast es vorgezogen, das Velo vor dir herzuschieben.

In diesem Kontext lässt sich nun nachträglich auch einordnen, dass uns die Nachricht, dass du verunfallt bist und im Krankenhaus liegst zwar überraschte, aber nicht allzu sehr beunruhigte, ausser natürlich deine Schwester. Die jedoch ihrerseits gerade ihre Schulter in einem anderen Spital operieren liess und von uns umsorgt wurde. Der Onkel Sepp, witzelten wir, wird auch diese Verletzung auf seine unverwüstliche Art wegstecken, wie die anderen davor. Keiner ahnte, dass diesmal Endstation sein würde.

Es geschah am Abend, du warst alleine in der Stadt unterwegs, ohne Freundin. Hier sei erwähnt, dass ein Exkurs über dich und deine zahlreichen Freundinnen ein separates Buch füllen würde. Doch dein Liebesleben soll dein Geheimnis bleiben.  

Du warst also alleine unterwegs, das war auch der Grund warum uns später keiner genau sagen konnte, was tatsächlich passiert war. Klar war, dass du zusammengebrochen bist und dir dabei einen Oberschenkelbruch zugezogen hast. Im Krankenhaus erholtest du dich langsam, doch kam es aus unerfindlichen Gründen zu einer Sepsis, und hinterher stellte man fest, dass mit der Verabreichung der Medikamente etwas falsch gelaufen sein musste. Wie sagt der Wolksmund: Wenns Zweitelet, daenn Drittelets.   

Nun liegst du da, aufgebahrt im Andachtsraum des Grossspitals, und bist ganz kalt anzufassen. Man glaubt es fast nicht, dass dein pulsierender Körper so kalt sein kann. Und das ist eben das Wunder: Du hast längst deine sterbliche Hülle verlassen. 

Nun bist du also, zumindest für uns, völlig überraschend gestorben. Du bist 85 Jahre alt geworden. Es wäre falsch dein Leben mit der eleganten Abfahrt über eine Buckelpiste zu vergleichen. Dein Leben spielte sich eher auf der Verliererseite ab und der entsprach wohl mehr dem 'Wandern im tiefen Tal'.  Aber du hattest glückliche Momente erleben dürfen.

Uns Zurückgebliebene trifft dein Verlust dennoch hart. Aber auf Erden überlebt keiner. Und ganz ehrlich: An irgendetwas werden wir alle sterben, ob gesund oder nicht. Nur hätte ich dir gewünscht, dass es noch ein Weilchen dauert. Ich stelle mir vor, dass du da, wo du jetzt bist, ungestört Alteisen sammeln kannst und je nach Laune, eine schneebedeckte Buckelpiste elegant und in vollendeter Harmonie, hinunterwedeln kannst, gerade so als wären deine Knie aus Gummi.

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