Aus den Fugen geraten

Meta Zweifel, 26.03.2021

Meta Zweifel
Meta Zweifel

Eben noch hat der Blütenstrauch seine rosarote Pracht entfaltet, und die Kirschbäume haben Knospen angesetzt – da kommt eine Frostnacht. Die Blüten erlahmen, die Knospen an den Obstbäumen leiden unter dem Kälteschock, und der Ernteertrag ist gefährdet. Rasche und zuweilen heftige Wechsel zwischen lauem Frühlingswetter und Kälteeinbrüchen sind seit Menschengedenken bekannt und werden von alten Bauernregeln bestätigt. 

Dennoch reagieren wir enttäuscht oder gar erzürnt, wenn das Wetter im April unangenehme Kapriolen macht. Denn nicht wahr: Zum Frühling gehören doch Blütenfülle, laue Luft und viel Sonnenschein? Der April und die Frühlingswochen sollen gefälligst den Vorstellungen entsprechen, die wir uns von ihnen machen und die von vielen wunderschönen Gedichten gepriesen werden.

Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
Man weiss nicht, was noch werden mag,
Das Blühen will nicht enden.
Es blüht das fernste, tiefste Tal:
Nun, armes Herz, vergiss der Qual!
Nun muss sich alles, alles wenden.

So hat einst Ludwig Uhland gedichtet, und so muss das sein.
Alles andere empfinden wir als Kränkung.

Wie sicher ist sicher?
Wir Schweizerinnen und Schweizer gehen immer gerne auf Nummer sicher. Zu Recht legen wir Wert auf Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Das Bedürfnis nach Absicherung, Rückversicherung und Planungssicherheit ist stark ausgeprägt. Der «April-Effekt», 
der im März 2020 über uns hereingebrochen ist, stellt eine Kränkung der ganz üblen Art dar – eine Krise. Unser Alltag ist aus den Fugen geraten, Weisungen und Anordnungen, Informationen und Forschungsergebnisse wirbeln durcheinander wie ein unerwarteter, heftiger Graupelschauer. Vieles, was wir im Griff zu haben meinten, zerfledderte wie zerzauste Blütenblätter, und – ganz besonders schlimm – unsere Planungssicherheit ist ins Wanken geraten.

Billige Sprüche wie «Das Leben ist kein Wunschkonzert» bekamen plötzlich einen höchst unangenehmen Wahrheitsgehalt. Uns wurde bewusst gemacht, dass das ganze Leben «April» sein kann.

«Über ein kleines», wie es irgendwo in der Bibel heisst, kann sich der Lebenshintergrund verändern. Betroffen ist jeweils nicht allein das Individuum, sondern auch das, was man «die Gesellschaft» zu nennen pflegt.

Die Mühsal der Vielgestaltigkeit
Unterscheidungen in schwarz und weiss und eine Reihe von akzeptablen Verhaltensnormen vereinfachten bislang die Lebensgestaltung, Nun hat sich – April, April! - die Ausgangslage verändert. Entscheidungen können nicht mehr nach dem Entweder-
oder-Prinzip gefällt werden. Jede Massnahme kann weitreichende und schwer zu bewältigende Folgen nach sich ziehen, jeder zu zögerlich oder zu spät gefällte Entscheid kann fatale Folgen haben. April-Unsicherheit auf vielen Ebenen, an die wir uns gewöhnen und mit der zu leben wir erst noch lernen müssen.

Dass die Vieldeutigkeit und manchmal abstruse Unübersichtlichkeit des Lebens im Grund schon immer bekannt war, aber oft verdrängt worden ist, belegt die folgende alte Geschichte.

An einem brutheissen Sommertag ist auf einer staubigen Strasse ein Bauer mit seinem Sohn unterwegs, der auf dem Esel reitet. Es naht ein Wanderer, der ungefragt seine Meinung sagt: «Total schräg, dass ein Bub mit seinen jungen Beinen reitet, während der Vater zu Fuss gehen muss!» Vater und Sohn wechseln also die Position – bis wieder jemand auftaucht, der meint, es sei ein Unrecht, wenn der Vater es sich auf dem Esel bequem mache, während sein Bub mühsam zu Fuss gehen müsse. Vater und Sohn beschliessen nun, sich beide auf den Esel zu setzen, Aber da empört sich eine Frau, die kreischt, das sei ja Tierquälerei. Resigniert trotten nun beide, Vater und Sohn, neben dem Esel her – und werden von allen Seiten her verlacht und verspottet.

Das Leben ist manchmal lauter April. Man muss sich warm anziehen – und gleichzeitig das Frühlings-Shirt bereitlegen.

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