Im Galopp durch den Winter

Béatrice Stössel, 25.11.2019

Béatrice Stössel
Béatrice Stössel

Sie waren nicht kalt, die Wintertage 1962/1963. Nein, sie liessen das Blut in den Adern erstarren. Sie waren von einer Frostigkeit, die sich gewaschen hatte. Nasen trieften nicht, denn der Rotz fror augenblicklich ein. Selbst bei Sonnenschein klirrte die Kälte, verwandelte Hände und Füsse in Sekundenbruchteilen zu Eisblöcken. Plötzlich fristeten auch die ältesten Pullover kein trostloses Dasein mehr in den hintersten Ecken der Kleiderschränke. Dankbar streifte man sie als zweite oder dritte Schicht über und fand es plötzlich chic, etwas voluminöser auszusehen.

Ich erinnere mich sehr gut an diese Winterwochen, in denen alles Stein und Bein gefroren war. Der Zürichsee konnte von der Quaibrücke bis hoch nach Rapperswil erwandert werden. Sogar „Der Ritt über den Bodensee“ war möglich. Zahlreiche Reiter wagten es, mit einem, im Gegensatz zur Geschichte von Gustav Schwab aus dem Jahr 1573, guten und sicheren Ende.

Tief ins Gedächtnis eingebrannt hat sich, trotz der wochenlangen Minustemperaturen von 20 Grad, ein Ritt auf einem Vollblutrappen. Eine Stallkollegin und ich weilten gleichzeitig im Engadin. Doch die Grippe hatte sie ins Bett gezwungen. Deshalb bat sie mich, in Begleitung ihrer ortskundigen Schwester ihr Pferd zu reiten.

So wurden die ledernen Skischuhe und meine Keilhose, in den 60-ern der letzte Schrei, kurzerhand umfunktioniert. Wir fuhren in den Stall. Bei 20 Grad minus ist das Pferdestriegeln nicht der optimale Spass. Die Finger klamm, weil man dazu keine Handschuhe tragen konnte. Also zügig bürsten, Sattel auflegen, Zaumzeug montieren, nachgurten und aufsteigen.

Draussen strahlte die St. Moritzersonne, Champagnerklima inklusive. Sie liess die Schneekristalle funkeln wie leuchtende Diamanten. Der Himmel wölbte sich über die Bergspitzen, wolkenlos und saphirblau. Ein Kaiserwetter, kitschiger als auf den Postkarten.

Unser Weg führte runter zum See. Der Schnee knirschte unter den Hufen als wir über die Uferböschung auf den Lej da San Murezzan zusteuerten. Meine Begleiterin fragte: „Und, wie fühlst du dich? Bereit für einen Wintergalopp?“ Und ob ich bereit war! Die Pferde tänzelten unter dem Sattel als wir uns in Position brachten und im leichten Sitz angaloppierten. Mit einem Freudensprung gaben sie uns zu verstehen: Wir wollen davonpreschen, nichts wie los. Seite an Seite. Der Schnee wirbelte auf unter den stampfenden Hufen. Die beiden Vollblüter legten sich ordentlich ins Zeug und wurden schneller, immer schneller. Aber wir hatten alles unter Kontrolle. Die Tiere unter sich zu spüren, sie einfach laufen lassen. Reiterherz, was willst du mehr. Der Pulverschnee tanzte durch die Luft und legte sich hinter uns wieder auf die dicke Eisdecke.

Wir erreichten den Übergang vom St. Moritzer- zum Silvaplanersee,  gönnten den Pferden eine Schrittphase und lobten sie mit flattierender Hand. Es tat allen gut. Schon bald ging es weiter. Noch eine gänzlich unberührte Schneedecke lag vor uns. „Wollen wir?“ „Aber immer“, jauchzte ich Wir stieben über den Schnee, unsere Rösser schnaubten und legten ihre geballte Kraft in den Vorwärtstrieb. Herrlich, einfach herrlich. Am Ende des zweiten Engadinersees schalteten wir zwei Gänge runter. Ich war überglücklich. So lange zu galoppieren in einem Gelände in dem weder Strassen noch Autos oder andere Gefahren lauerten war traumhaft. „Und wo geht es weiter“, wollte ich wissen. „Auf dem dritten See!“ Der Silsersee - oder Lej da Segl, wie er auf Rätoromanisch heisst, bot uns seine gefrorene Fläche mit einem Schneesahnehäubchen obendrauf für die dritte Galoppade an. Ich weiss nicht, wer mehr Freude hatte, die Pferde oder wir.  Bis ganz nach hinten zur Ortschaft Sils trugen sie uns.

„Lust auf einen kleinen Imbiss?“. Ich liess mich nicht zweimal bitten. Der Veltliner funkelte tiefrot im Glas. Bündnerfleisch, Alpkäse und frischgebackenes Bauernbrot kitzelte den Gaumen und schmeckte vorzüglich. Die Pferde genossen die Ruhepause, schnupperten mit der Nase im Schnee und staunten über die Flocken, welche sie mit ihrem Atem aufwirbelten. Wir zogen unsere Windjacken aus, legten sie auf die Kruppe der dampfenden Pferde. Das waren wir ihnen schuldig. Die Sonne wärmte uns genügend in der windgeschützten Ecke des schmucken Engadinerhauses, so dass wir für eine Weile gut ohne auskamen.

Bald ging es wieder zurück. Nochmal donnerten acht Hufe über den Schneeteppich der gefrorenen Seen. Gegen Ende wurde unser Ritt ruhiger. Der Übermut der Tiere hatte sich gelegt. Doch Seite an Seite im Gleichtakt zu reiten war ein beglückendes Erlebnis.  Weder die Eiseskälte noch die durchgefrorenen Hände und Füsse störten. Im Stall rieben wir die Pferde mit Stroh trocken, striegelten das Fell und belohnten die treuen Vierbeiner mit einer Extraportion Hafer und Heu. Man hörte nur noch ihr zufriedenes Schnauben und sah, wie sie den Hafer mit den Zähnen mahlten.

Was für einzigartige, klirrendkalte Erinnerungen, die selbst nach sechsundfünfzig Jahren noch so präsent sind, als sei es gestern gewesen.

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