Julia Onken, 27.02.2019
Wie kommt es eigentlich dazu, dass Liebe stets mit sexuellen Aktivitäten gleichgesetzt wird? Obwohl die meisten im Laufe ihres Lebens oft andere Erfahrungen machen, halten sie an der Gleichung „Sex = Liebe“ fest.
Testfragen
Auflösung
Falls Du eine Frage mit Ja beantwortet hast, befindest Du Dich in bester Gesellschaft mit vielen Menschen, die sich noch nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht haben. Es gibt viele Empfehlungen und Strategien, um möglichst umfassende Befriedigung in der Sexualität zu finden. Aber irgendwie ist alles viel zu kurz gegriffen. Sexuelle Lust hat weder mit ausgeklügelten Körperverrenkungen noch mit spitzfindigen Strategien zu tun!
Sexualität hat die Menschen immer und zu allen Zeiten
bewegt und in Atem gehalten. Ob unbekümmert und lustgeladen ausgelebt, atemlos
verdrückt oder gar unterdrückt, als unwürdig und schmutzig ausgeschlossen und
abgeschoben - sie wirkt und bringt so oder so gewaltige Bewegungen in das
Leben. Wir geben in der Schweiz jährlich über vier Milliarden Franken für das
Sex-Geschäft aus. 2,6 Milliarden werden für Rüstungsmaterial ausgegeben, 3,2
Milliarden für Bildung- und Grundlagenforschung. Für die offizielle
Prostitution geben unsere Schweizermannen bei 4000 Prostituierten 6oo Millionen
Franken aus, die illegale Prostitution wird rund auf das drei- oder gar vierfache
geschätzt. Das Sex-Geschäft floriert und ist
wohl als einziges nicht der Rezession unterworfen. Hier herrschen andere
Gesetzmäßigkeiten, und es scheint eine völlig eigene Dynamik am Werk zu sein.
In keinen anderen Bereichen finden wir zwiespältige Einstellungen, Verhaltensweisen und Handlungen, sich widersprechende Aussagen, derart häufig wie im Bereich der Sexualität. Die Widersprüchlichkeit hat gute Gründe. Bereits die Frage nach der funktionellen Seite der Sexualität enthüllt beinahe Unvereinbares:
Zur Fortpflanzung gibt es nicht viel Spannendes zu sagen, die Fakten sprechen für sich. Auch dem Bereich Sexualität als vitalisierende Erlebnisquelle ist nichts Unbekanntes hinzuzufügen. Hingegen sich mit Sexualität als Vehikel zur Transzendenz auseinanderzusetzen lohnt sich und gibt den Blick frei in neue vielleicht ungeahnte Perspektiven.
In der deutschen Sprache muss der
Begriff „Liebe“ für verschiedene Spielarten menschlichen Liebes-Verhältnisse
hinhalten, ob wir von Geschlechterliebe, von Mutterliebe, von Nächstenliebe
oder von körperliche Liebe sprechen, immer erhält der Begriff „Liebe“ eine
vollkommen andere Qualität. In der griechischen Sprache wird es einfacher. Da
stehen drei Begriffe zur Verfügung, die klar definiert sind: Eros, Philia und
Agape.
Herman Weidelener, ein Religionsphilosoph, der leider nur wenigen durch seine Bücher bekannt ist, überträgt diese drei griechischen Begriffe auf das Bild eines Berges. Am Fusse des Berges befindet sich Eros. Im Mittelfeld: Philia. Und auf der Bergesspitze, die den Blick freigibt in die Unendlichkeit der Weite, Agape. Um den Gipfel zu erreichen, müssen wir am Fusse des Berges mit der Wanderung beginnen. Ohne die Antriebskraft des Eros bekämen viele nicht den nötigen Schwung, um den gelegentlich anstrengenden Weg weiterzuführen.
Nun ist es interessant zu sehen, wie der menschliche Lebensentwurf angelegt ist, wie wir mit einem Thema von verschiedensten Seiten und in unterschiedlichen Lebensphasen immer wieder konfrontiert werden. Das Thema heisst Ganzsein, Einssein, rund, komplett, vollständig oder vollkommen sein. Wir tragen bereits bei der Geburt den Herkunftsort als Erinnerung in uns. Ob wir nun davon ausgehen, dass es so etwas wie ein vorgeburtliches Aufgehobensein gibt oder eher von einem rein materialistischen, zellularen Weltbild ausgehen, spielt keine Rolle. Der Ursprung wird aus etwas Ganzem gedacht, ob als geistige Heimat oder vollständige Zelle.
Weitere Stationen, in denen das Thema Ganzsein aufleuchtet sind Schwangerschaft, nach der Geburt die Zeit der Symbiose, dann folgt die Ausweitung auf den Familienverbund, später werden die sozialen Bezüge erweitert auf Freunde, Schulkollegen usw.
Mit dem Einbruch der Pubertät erhält das Beziehungsgeflecht nun eine andere Ausrichtung. Waren bis jetzt die unterschiedlichen Beziehungsverbindungen durchaus familiär integrierbar, so werden sie es bald nicht mehr sein. Hier scheint eine Kraft einzufahren, die so leicht nicht mehr zu steuern ist. Die sexuelle Energie drängt sich in die Zentrale und übernimmt das Kommando. Wir können es auch auf folgendes Bild übertragen: Das Küken pickt die Eierschale auf, und nichts auf der Welt könnte es daran hindern, dem Leben entgegenzufiebern, indem es schliesslich aus der Behausung ausschlüpft. Die sexuelle Energie sorgt dafür, dass Jugendliche aufbrechen, ausbrechen, und gelegentlich müssen sie hinter sich alles abbrechen, um dem Impuls zu folgen, der sie bewegt und sie ins Leben hinein stösst.
Sie verlassen etwas Ganzes, die Familie, ob diese nun im traditionellen Sinne mit Vater und Mutter besetzt ist oder als Einelternfamilie existiert, spielt überhaupt keine Rolle. Kaum ist der junge Mensch halbwegs aus dem Ei geschlüpft, wird das alte Thema Ganzsein belebt und wird ihm keine Ruhe lassen, bis er sich irgendwo mit einem anderen verbindet und sich wieder ganz fühlt. Die sexuelle Energie, die Sehnsucht nach Ganzwerden, nach Einssein lässt uns immer wieder auf die Suche gehen: So wirkt Sexualität als Motor und Antriebskraft. Im Augenblick des Orgasmus erleben wir etwas von diesem Erhofften, Ersehnten und tauchen in das ozeanische Gefühl der Verschmelzung ein, werden eins mit dem anderen, und letztlich auch mit Universum. Wir wissen, es sind nur ein paar Atemzüge, mehr nicht. Und schon fällt ein jeder wieder auf sich selbst zurück. Die Sehnsucht indessen bleibt. Und bald machen wir uns wieder erneut auf den Weg. Wir können zweifellos lebenslang am Fusse des Berges herumkurven. Und wir werden stets dieselben Landschaften und dieselben Verhältnisse vorfinden: Sehnsucht – Erfüllung - Enttäuschung , Sehnsucht – Erfüllung – Enttäuschung .....
Nun gibt es viele, die gehen auf ihrem Entwicklungsweg ein Stück weiter, verwenden den Schwung, den sie aus der Eros-Erfahrung gemacht haben, um weitere Strecken aufwärts zurückzulegen. Sie suchen das Einverständnis, das Einssein nicht mehr im sexuellen Erleben, sondern im freundschaftlichen Miteinander mit anderen Menschen, mit der Kunst, der Tierwelt und der Natur. Sie erleben ausserhalb der Sexualität Momente höchsten Glücksgefühls, weil sie sich ganz im Einklang mit der Schöpfung fühlen. Es gibt Partner, Eheleute, die gehen gemeinsam diesen Weg in den Bereich der Philia. Sie werden Freunde, Herzensfreunde. Sie wollen nicht mehr Liebe machen, denn sie sind Liebende geworden.
Die körperliche Leistungskurve steigt bis zur Lebensmitte, dann fällt sie allmählich ab. Während aber die körperliche Leistungskurve sinkt, überschneidet die geistige Potenz die absinkende körperliche. Es ist die geistige Kraft die uns hinaufträgt, die uns dazu veranlasst, immer einen Schritt weiter zu gehen, die Luft wird dünner, Gepäck muss zurückgelassen werden und wir müssen uns auch von Dingen verabschieden, um der Zeit entgegen zu reifen. Und wenn auf der Bergesspitze Agape steht, so ist es dennoch nicht das Ziel, in das man wie ein Marathonläufer siegreich einläuft. Wir haben es hier nicht mit einem linear verlaufenden Prozeß zu tun. Agape gibt lediglich die Richtung an, die anzupeilen ist, die zeigt, wohin wir mit dem Eros-Strom letztlich hinfliessen sollten.
Zweifellos lassen wir vieles zurück. Aber wir gewinnen auch. Wenn sich die sexuelle Energie nur durch das dünne Ventil der Geschlechtsorgane hindurchseufzen muss, dann kann sie niemals in den grossen Strom allumfassender Liebe einmünden und bleibt irgendwann in einer Sackgasse stecken. So geht es auch darum, auf dem Weg durch gelegentlich ungastliche oder beschwerliche Gebiete, die breite Palette der Sinnlichkeit zu entfachen, die uns beschwingt und vitalisiert und die weit über die reine Sexualität hinausreicht. Ich denke an das Zurückgewinnen jener Fähigkeit, die wir alle als Kinder einst besassen. Welches Glücksgefühl strömte durch unsere Herzen, wenn wir bei den ersten warmen Sonnenstrahlen im Frühjahr die einengenden schweren Mäntel und Jacken abwarfen, um federleicht und bewegungsfreudig durch den Morgen zu hüpfen und für Mädchen war es ein besonderes Vergnügen, mit Kniestrümpfen und einem schwingen Rock dem milden Wind entgegenspringen. Da fühlten wir uns eins mit der Schöpfung, und ein grosses Einverständnis erfüllte uns vom Scheitel bis zur Sohle.
Und später, wenn sich der Uebermut in dieser Unbeschwertheit nicht mehr einstellen mag und vielleicht eher herbstliches Geschehen die seelische Landschaft spiegelt, so wird das Gefühl des Einsseins mit der ganzen Schöpfung keinen Einbruch erleiden. Marion Dönhoff schreibt in einem Brief an ihren Bruder: „Solche Bilder: das Fallen der Blätter, die blaue Ferne, der Glanz der herbstlichen Sonne über den abgeernteten Feldern, das ist vielleicht das eigentliche Leben. Solche Bilder schaffen mehr Wirklichkeit als alles Tun und Handeln - nicht das Geschehen, das Geschaute formt und verwandelt uns. Ich bin voller Erwartung. Was werden wir noch alles schauen in diesen Tagen der reifen Vollendung. Ich weiss nicht, ob es Dir auch so geht, dass Du manchmal das Gefühl hast, ganz dicht davorzustehen, nur noch durch einen dünnen Schleier davon getrennt zu sein - wovon eigentlich? Von der Erkenntnis? der Wahrheit? dem Leben? Ich weiss es nicht, aber ich ahne es und warte darauf mit jener Gewißheit, mit der man nur das Wunder erwartet.“
Sexualität ist ein schmales Rinnsal im Verhältnis zum breiten Strom der Sinnlichkeit.
Deshalb: Wenn wir nicht wieder werden wie die Kinder, kommen wir nicht ins Himmelreich. Ja, der Horizont ist eben weiter als du sehen kannst.