Brief an meine Tochter

Edita, 03.10.2019

Edita
Edita

Dir mit Leichtigkeit zu schreiben, ist ein Unterfangen. Täglich bin ich in Gedanken bei dir, das wissen wir zwei. Manchmal kommst du im Traum vorbei, oder ich sehe einen jungen Menschen der sich ein bisschen ungelenk wie in verirrtes Vögelchen in der coolen Masse bewegt. Dann denke ich an dich, schaue diesem Menschen mit Zärtlichkeit nach, mit dem Wissen einer Gezeichneten. Manchmal wende ich mich auch an dich und frage ob du mir helfen kannst, denn wenn mir etwas schwer erscheint, dann trage ich es zusammen mit dir viel leichter.

Heute also ein Brief.

Dass du diesen Weg genommen hast, nicht mehr da bist, ist für mich heute, nach über sieben Jahren noch unglaublich schwer auszuhalten. In den Gedanken an dich neige ich nun öfter zur Verklärung, dabei war es viele Jahre lang, als du noch da warst, wahnsinnig schwierig, dich zu verstehen. Du hast dich aufgemacht in andere Dimensionen, noch bevor du uns ganz verlassen hast. Warst mit dieser Anderswelt schon bekannt.

Letzte Woche habe ich meinen Geburtstag gefeiert, habe Freundinnen und Geschwister an den Ort meiner Kindheit eingeladen, ich wollte ihnen zeigen, wo ich aufgewachsen bin. Bei deiner Oma im Garten war es sehr lauschig, und alle haben sich wohlgefühlt. Jeder hat vom Brunnen getrunken, sich unter die Linde gesetzt. Ich stand dann irgendwann in meinem alten Zimmer, und sah alles irgendwie anders. Mir kommt es in dem Haus vor, als sei ich im Mittelalter geboren, in einer solchen Kargheit dass es mich im Kontrast zu heute fast umhaut. Weisst du, ich bin gerade selber mit mir und meiner Kindheit sehr beschäftigt, am Aufarbeiten, irgendwie steigt da immer wieder etwas an die Oberfläche.

Dein Götti hat eine Führung durch die alten Gemäuer gemacht, durch den Schopf mit der Mostpresse, den alten Turbinen und Transmissionen zur Stromerzeugung und dem ganzen alten Krempel, den du auch so gut kanntest. Er ist ein brillanter Geschichtenerzähler, hat alles ausgeschmückt mit Anekdoten über Uropa, von denen ich bis dahin noch nie etwas gehört hatte, es war ein Spass für alle.

Aber nach dem Fest, am nächsten Tag, da habe ich alles wieder wie durch die Augen einer Erwachsenen gesehen, die von aussen auf das kleine Mädchen sieht, das in diesem Museum mit angepackt hat. Habe den Trester gerochen, die Rumpelbenne gehört, wie sie von den Pferden zum Stall gezogen wurde, die Strenge der Mutter, deiner Oma, gespürt, wenn sie uns mit scharfem Blick wortlos bedeutete, nun sei aber genug, ab ins Bett. Dabei waren es manchmal Festtage, zum Beispiel wenn gemostet wurde. Am Tag die Arbeit beim Obstauflesen, abends das ungewohnte Spektakel der Erwachsenen, die alles in Betrieb hielten. Die Mostpumpen klackten rhythmisch, die Holzstande lief voll, wir tauchten Gläser ins goldene Nass, tranken den Most der irgendwie zwischen Gaumen und Backen so trocken kitzelte. Aber in all den Erinnerungen meine beklemmende Erkenntnis als Mutter, dass es ganz schön hart war, in dieser Zeit des Aufbruchs zur Modernisierung seine Kinder in einer museumsreifen Umgebung, ohne viel Unterstützung von anderen Erwachsenen gross zu ziehen. Gezwungen sein, sie hart anzupacken, loszulassen, sich selber zu überlassen, einfach weil man keine Zeit und Kraft hatte, neben all der Plackerei im Stall und auf dem Feld auch noch auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen. Ich glaube, darum wollte ich euch besonders behüten, dir und deinem Bruder alles geben, was mir damals fehlte. Aber welche Aufgabe! Ich war zwar nicht mehr im Museum wie Oma, als ihr zur Welt kamt, und musste nur für euch zwei schauen, nicht für vier, doch es schien mir, als ob ich das alles gar nicht schaffen könnte.

Besonders du hast mich so fest gebraucht. Als du geboren wurdest, hast du mich von der ersten Minute an überrascht und verzaubert. Doch deine hohe Stimme hat mich alarmiert, ich wusste sofort, dass du dringend Hilfe brauchst, kaum warst du auf der Welt. Die Ärzte haben gut zu dir geschaut, doch du warst und bliebst ein Rätsel. Wir waren Komplizinnen vom ersten Augenblick an. Schon kurz nach deiner Geburt mussten wir unsere Strategien entwickeln. Aber später, als du erwachsen geworden bist, musste ich diese Rolle überdenken. Zu Komplizinnen wurden wir, weil die anderen dich einfach nicht erfassen konnten, die meisten waren überfordert. Du warst so leise, so langsam und bedächtig, fast wie eine kleine Muschel, dass nur die ganz Geduldigen, mit einem feinen Draht, sich auf dich einlassen wollten. Oft war ich die Dolmetscherin, und darum immer so nah an dir. Das hat mich in manchen Konflikt geführt, ich wollte ja für alle da sein, konnte aber nicht allen gerecht werden. Dein grosser Bruder hat es mir leicht gemacht, auch er war ein Vermittler, einer der bei dir stand, wenn nötig auch vor dir stand. Aber auch einer, der sich froh und stark in die Welt aufmachte.

Du hast mir gezeigt, dass niemand 0815 ist. Dass es nicht „den einen Weg“ gibt, dass die Farben anders leuchten können als ich sie sehe. Du hast versucht, mir zu zeigen, wie du die Welt wahrnimmst, aber es war eben auch für dich selber schwer, dieses Anderssein zu verorten, zu begreifen. Zum Glück hat uns deine Gotte da geholfen, und mit dir zusammen versucht, deinen Kosmos zu erforschen.

Was für mich aber bis heute so schwer ist, dass es diese Anderswelt gab. Du hast auch das Dunkle dunkler und tiefer ausgelotet. So dunkel, dass ich Angst hatte, dir dahin zu folgen und so weit zu gehen, so tief zu sehen. Dieses Dunkel hat dich gerufen, da gab es eine Türe hin, die ich nicht öffnen wollte, nicht einen Spalt breit, nicht mal hinsehen konnte ich. Du hast es gemalt, dieses Dunkel. Aber du wolltest mir keine Angst machen, wolltest mich verschonen, hast vieles für dich behalten. Oder hattest du Angst, dass ich zu viele Fragen stelle? Du hast mich lieber mit deiner Heiterkeit, deiner Lieblichkeit, deiner Muse verzaubert. Dabei ahnte ich, dass da das andere ist, aber erst als du Erwachsen wurdest. Das war die schwierigste Zeit für mich, nun galt es wirklich, Vertrauen in dich zu zeigen, dich gehen zu lassen. Zu wissen, dass diese Welt dir hart zusetzen wird, war für mich ein unglaublicher Prüfstein. Ich wusste ja bereits aus eigener Erfahrung, dass sich ein Grossteil unserer Gesellschaft oft nur einen Wimpernschlag Zeit nimmt, um über jemanden zu urteilen. Fast niemand hält sich lange mit Menschen auf, die nicht gleich schnell reagieren, die so besonders, oder eben anders sind.

Meine liebe Tochter, ich muss dir wohl noch viele Briefe schreiben, mit all den Fragen die dann kamen, als du weggegangen bis. Du glaubst nicht, wie sehr dein Lachen mir fehlt, dein süsses Gekicher, deine Kabbeleien mit deinem Bruder, die schönen Tänze die du mir vorgeführt hast, die wunderbaren Texte die du geschrieben hast, die leuchtenden Farben die du gemalt hast. Wie stolz bin ich doch, wie bebt mein Herz wenn ich an dich denke. Danke, dass du mich manchmal im Traum besuchen kommst.

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