Der sichere Weg, um sich zu verpassen

Judlia Onken, 04.03.2020

Julia Onken
Julia Onken

Wir hatten uns viele Jahre nicht mehr gesehen. Umso grösser war meine Freude, einem ehemaligen, von mir sehr geschätzten Berufskollegen unerwartet zu begegnen. Einige Jahre hatten wir zusammengearbeitet und interessante Projekte auf die Beine gestellt. «Wie geht es Dir?», will ich sofort von ihm wissen. Er blickt auf seine «Armbanduhr» und liest ab: «Gestern habe ich 4,6 Kilometer zurückgelegt und bin vier Etagen hochgestiegen, dabei habe ich 2135 Kalorien verbraucht, die Schlafzeit betrug 6 Stunden und 23 Minuten, davon 4 Stunden im leichten Schlafmodus, 50 Minuten Tiefschlaf, die REM-Phase betrug 56 Minuten, Herzfrequenz 68 bei Bewegung, 59 in Ruhe.»

«Wie spassig», dachte ich, «ganz wie in alten Tagen, immer zu einem Schalk aufgelegt.» Ich lachte. Er aber blieb ernst. Das machte mich stutzig, und ich legte nach: «Nun sag doch mal, wie es Dir geht!» «Also Vorgestern zum Beispiel habe ich zwar 5,3 Kilometer zurückgelegt, habe aber nur drei Etagen erklommen, deshalb habe ich nur 1860 Kalorien verbraucht. Auch mit der Schlafzeit sieht es nicht besser aus, insgesamt 26% Wachzeit, und das bei nur fünf Stunden Schlaf! Die Herzfrequenz ist zwar zufriedenstellend, nämlich 69 tagsüber, in Ruhe 60.»

Erst da begriff ich, er meint es ernst. Es scheint, als ob er den Selbstkontakt verloren habe, er hat also keine Ahnung, wie es ihm geht, sondern muss zuerst die Messdaten auf seinem Tracker abholen. Ich wusste, es wäre hoffnungslos, ihn auf diese eigenartige, ferngesteuerte Daseinsform aufmerksam zu machen. Die allerletzte Strecke seines Lebens, wenn er durch das Tor des Todes schreiten wird, muss er sich von seinem Tracker verabschieden, damit er den Weg ins ewige Leben finden kann. 

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