Die letzte Kinnborste ist gezupft

Monika Marti, 04.09.2020

Monika Marti
Monika Marti

«Das kann doch nicht wahr sein!» Das morgenfrische Leuchten in meinen Augen ermattet. Mein Gesicht ähnelt einem ausgebrannten Feuerwerkskörper. Das Wunderwerk der Jugend ist erloschen. Der tägliche Blick in den Spiegel entwickelt sich zu einer Mutprobe. Die Haut, faltig wie ein Gebirge, ist unschön gerötet. Der Kinnpartie entspriessen borstige Haare, die wie Pfeile in alle Windrichtungen zielen. Sie erinnern mich an die Prachtsexemplare, die ich meiner Mutter vor vielen Jahren mit den Worten «siehst du den Bart eigentlich nicht?» irritiert ausgezupft habe. Dass ich nun am selben Punkt angelangt bin, lässt die Vermutung zu, dass es mit meiner Sehkraft auch nicht mehr zum Besten steht. 

Die einst straffe Haut meines Dekolletees verliert an Spannkraft und hängt mir am Hals. Im Gegenzug beginnt mein Haarwerk zu leuchten. Die einst dunkelblonden Fäden färben sich weiss und legen sich auf meiner Schädeldecke zur Ruhe wie Schneeflocken auf ein Feld. Der pathologische Zerfall ist nicht mehr zu übersehen. Zeit also, ans Alter zu denken. Mehr noch, den Träumen der Schönheit zu entfliehen und in der Welt der Gegenwart anzukommen. Bald bin ich der Sparte «alten Eisens» zuzuordnen. Einst einem rätselhaften Nichts entsprungen wandere ich unausweichlich dem Ende zu.

Mitten in die ungastlichen Gedanken der Vergänglichkeit sprüht ein Lebensfunke auf. Mich gibt es noch, ich lebe! Altern ist keine Frage des Alters. Es beginnt am Tag meiner Geburt. Nach neun Monaten wohliger Geborgenheit im Mutterleib werde ich gemeinsam mit Plüschtierchen in eine Wiege gelegt. Bald bin ich zu schwer um auf dem Arm getragen zu werden und zu gross um meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Überraschend schnell zu alt, um am Daumen zu lutschen.  Eines schönen Tages, dieser bricht immer zu früh an, ist spielen nicht mehr angesagt. 

Lernen, wissen und leisten heisst das neue Ziel. Leben ist zu kostbar um mit unnützen Dingen vertan zu werden. Verantwortung und Pflichtgefühl nisten sich im Paket des Seins ein. Eines Tages muss der Lebensunterhalt selbst verdient werden und plötzlich bin ich alt genug um mich zu verlieben und Kinder zu kriegen. Um von diesen dann nicht viel später zu hören: «Du bist zu alt, Mum, das verstehst du nicht mehr». 

Nachdem mir das Mutterleben aufgrund des Älterwerdens von Töchtern und Söhnen langsam entgleitet, scheine ich endlich reif genug zu sein um mich ohne Fremdbestimmung auf die Suche nach mir selbst zu machen. Wer bin ich? Was kann ich? Was begeistert mich? In dieser Phase der Selbstfindung werden mir nebst meiner eigenen Veränderung die Hürden des Fortschritts bewusst. 

Die Entwicklung im technischen Bereich und die Ausdrucksweise der Gesellschaft fordern mich heraus. Beispielsweise verschwindet der bekannte Einzahlungsschein aus meinem Handlungsrepertoire. In Zukunft werde ich meine Rechnungen per QR-Code begleichen müssen. Der Gedanke «vom alten Eisen» schleicht sich wieder ein, gepaart mit dem Gefühl von Verlust und Orientierungslosigkeit. Der Boden des Vertrauten wankt unter meinen Füssen, ich drohe, im Meer der Vergänglichkeit zu ertrinken. Das Rad der Zeit dreht unaufhörlich weiter.

Die Spiegelung vergangener Lebenswelten weckt leise Zuversicht. Der Lebensgeist regt sich. Altern ist in der Tat keine Frage des Alters. Alle paar Jahre werde ich aufgrund meiner Entwicklung angehalten, Spuren der Gewohnheit zu verlassen und Pfade des Unbekannten zu betreten. Ich darf mich den Lernfeldern entgegenstrecken, die im nächsten Lebensabschnitt für mich von Bedeutung sind. Damit, wenn sich der Lebenskreis schliesst, meine Seele die irdische Hülle beglückt loslassen kann.

Die letzte hässliche Kinnborste ist ausgezupft. Ich lege die Pinzette zur Seite und betrachte mein Ebenbild im Spiegel. Das Leuchten ist in meine Augen zurückgekehrt, der Feuerwerkskörper wieder mit Sprengkraft gefüllt. Ein neuer Tag liegt unberührt vor mir und wartet darauf, erobert zu werden.

Wie aufregend!

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