Dieses Mutterbild!

Verena Lüthi, 30.04.2019

Verena Lüthi
Verena Lüthi

Liebe Mama,

nein, als Freundin habe ich dich nie gesehen. Ich war so anders als du, wollte auch anders sein – unbedingt! Ich liebte dich, trage dich noch heute in meinem Herzen, obwohl, eine zärtliche Frau warst du nie. Ich kann mich an keine Umarmung erinnern, kein Kuscheln, Gott bewahre.

Dennoch hatte Vater dich auf einen Thron gesetzt, betete dich an, verlangte das auch von uns Kindern. Dieses Mutterbild! Diese heilige, einzigartige Frau war allgegenwärtig. Du warst das Licht, welches wir wie die Motten die Lampe umschwirrten. Das kam nicht von dir aus, dafür hatte Vater gesorgt. Ich war längst erwachsen, bis ich mir überhaupt gestattete, dich kritisch zu hinterfragen und es dauerte nochmals Jahre, bis ich darüber sprechen konnte.

Doch diese Unfehlbarkeit, die dir mein Vater überstülpt hatte, machte dich auch zum Opfer. Du konntest diesem Anspruch gar nicht gerecht werden. Damals bedauerte ich dich. Ich sah dich, wie du den ganzen Karren mit Kind und Kegel durch die Jahre zogst, dabei hättest du doch ganz Anderes verdient! Dort oben auf dem Thron sollte man sich nicht die Hände schmutzig machen müssen. Mit deiner vermeintlichen Stärke wurde für mich Vater zwangsläufig zum Schwächling. Dies obwohl er immer seine Familie versorgte. Ich sah das nicht, ich sah nur dich mit der Last der Verantwortung. Als älteste deiner vier Kindern fühlte ich mich dir am nächsten zugehörig. Oft warst du eine unzufriedene Frau, schimpftest über uns, über Vater, seine Herkunftsfamilie, ich schimpfte mit. Es war sehr schwer, dir etwas Recht zu machen, die Möglichkeiten dafür waren auch ziemlich eingeschränkt. Zur Auswahl standen Helfen im Haushalt, im Garten, beim Kinderhüten. Alle anderen Aktivitäten wie Schule, Hobbys kümmerten dich nicht. Solange dasjenige, was gemacht werden musste, gemacht wurde, war alles gut.

Als junge Frau wurde ich innerhalb der Familie die Person für alle Fälle. Mich konnte man gebrauchen für Schulprobleme meiner jüngsten Schwester, Gespräche mit Behörden, Steuererklärungen ausfüllen, medizinische Unterstützung und Versicherungskram, alles Sachen, die du hasstest. Ich gebe es zu, ich gefiel mir in dieser Rolle, erfüllte sie gerne und fand es richtig. Das ging so lange gut, bis ich meinerseits übel betrogen und um meinen ganzen Besitz gebracht wurde. Davon erzählte ich dir nicht viel, wollte euch schonen und schämte mich auch. Ich zog mich lieber ins Ausland zurück, wollte dort meine Wunden heilen und neu durchstarten.

Richtig fremd wurdest du mir, als Vater starb. Da war dieser Fels in der Brandung plötzlich nur noch eine verängstigte, schwache Frau, die es nicht einmal fertigbrachte, allein mit dem Zug von A nach B zu verreisen, obwohl Du zum Zug gebracht und am Bestimmungsort wieder abgeholt worden wärst. Ich nahm dir das Übel, fühlte mich von dir um mein Weltbild betrogen. Ich konnte dich so kaum ertragen, du, die ich Jahrzehnte als die starke Frau mit einem schwachen Mann gesehen habe – jetzt kam eine andere Wahrheit ans Licht, es war genau umgekehrt. Ich konnte nicht längere Zeit mit dir verbringen, floh nach kurzen Besuchen, schnellst möglichst wieder ins Ausland. Ich konnte dich auch nicht damit konfrontieren, das kam für mich auch nach so vielen Jahren nicht in Frage.

Es ist jetzt 11 Jahre her, dass ich mir überlegte, wie es mit mir weitergehen solle. Im Ausland bleiben, oder zurückkommen? An Weihnachten kam ich zu Besuch in die Schweiz, du warst im Spital und der Arzt informierte uns, dass du höchstens noch zwei Wochen zu leben hättest, Krebs im Endstadium.

Man wollte dich zum Sterben in ein Pflegeheim abschieben, fort von deinem Daheim, wo du noch immer seit fast fünfzig Jahren lebtest. Da wurde ich mir meiner Rolle als Familien-Leithammel wieder bewusst und ich nahm dich kurzerhand mit in deine Wohnung. Jetzt wurde ich für dich zum Fels in der Brandung. Ich versprach dir, dass ich bei dir bleiben würde bis zuletzt. Nie mehr solltest du allein sein oder Ängste haben. Und endlich konnte ich dich so annehmen wie du wirklich warst.

Doch jetzt, wo ich nur für dich da sein wollte, wurdest du wichtig für mich. Du hast schön gewartet mit Sterben, bis ich mich definitiv entschlossen habe in die Schweiz zurück zu kehren. Du durchlittest mit mir alle Stadien und Überlegungen von Wenn’s und Aber’s. Bei meinen beruflichen Plänen konntest du mich nicht wirklich unterstützen, doch zugehört hast du mir. Du konntest Liebe zeigen, wie du das früher nie konntest. Dein Ausharren an meiner Seite hat viel dazu beigetragen, dass ich meinen Weg fand. Und erst als ich genau wusste, was ich wollte, bist du gegangen - nach sieben Monaten intensivstem Zusammenleben.

Datenschutzhinweis
Diese Webseite nutzt externe Komponenten, welche dazu genutzt werden können, Daten über Ihr Verhalten zu sammeln. Lesen Sie dazu mehr in unseren Datenschutzinformationen.
Notwendige Cookies werden immer geladen