Brigitte Bartholet, 27.12.2019
Wollen mich die gefiederten Freunde ärgern oder machen Sie sich lustig über mich?
Allabendlich, sobald es dunkel wird und sie sich an ihre Schlafplätze zurückgezogen haben, beginnt dieses Ritual für mich. Körnchen um Körnchen vom Boden aufsammeln. Leere Schalen der geknackten Sämereien in den Kompost wischen. Futterhäuschen reinigen und frische Nüsse, Beeren und Körner nachfüllen. Jeden Tag staune ich, wie sie es schaffen, meinen Balkon in kürzester Zeit derart unordentlich aussehen zu lassen. Bei aller Tierliebe, verstehe ich nicht, weshalb geziemtes Körnlipicken nicht möglich zu sein scheint. Besonders bei dieser Kälte, wo Futter Mangelware ist. Sind die vielen Granreste auf dem Terrassenboden wirklich der Dank dafür, dass ich den Vögeln den ganzen Winter über, täglich frische Kerne, Samen und Früchte anbiete, da sie nicht mit den anderen Artgenossen in den Süden ziehen? Wollen sie mich – die Ordnungsfanatikerin – etwa ärgern oder machen sie sich lustig über mich?
«Du hast echt eine Meise» lachen mich meine Kollegen aus. «Du immer, mit deinen kreativen Ideen». Dabei möchte ich von meinem Besuch nur einen handwerklichen Tipp erhalten, wie ich den zum Futterhäuschen umfunktionierten Korb in seiner Dienlichkeit optimieren könnte. Natürlich hat keiner von ihnen eine brauchbare Idee. Umso mehr amüsieren sie sich bestens drinnen, während ich draussen Körnchen um Körnchen…
Was soll das – sinniere ich. Ich gebe zu, bei mir läuft manches diametral anders. Und ja, ich habe oft unkonventionelle Ideen, welche in meinen Gedanken umherspicken, wie die Nusskerne winters. Wer spielt schon freiwillig Aschenputtel und legt die Guten ins Töpfchen und die Schlechten ins Kröpfchen? Sollte ich nicht besser in der warmen Stube sitzen und mir Gedanken über Vorsätze und neue Ziele für das neue Jahr machen? Möchte ich Entscheidendes in meinem Denken und Tun ändern oder lasse ich mich ganz einfach überraschen, was das Leben wundersames bereithält?
Zum Auftakt am Morgen beglückt mich ein aufgeplustertes
Rotkehlchen mit seinem zarten Frühkonzert. Ich meine zu verstehen, dass die
Strophe von Freiheit handelt. Die Baumkrone ist Singbühne und Revier zugleich,
von wo aus die Umgebung aufmerksam beäugt wird. Sobald das Rotbrüstchen die Haferflocken
entdeckt hat, flattert es zielstrebig auf das Futterschälchen zu, nimmt sich etwas
und fliegt schnurstracks zurück auf den obersten Ast des alten Apfelbaums.
…dieses Feuervögelchen mit den schwarzen Knopfaugen erinnert mich an die schönen
Dinge im Leben.
Noch bevor es taghell ist, hüpfen die Kohlmeisen zum
Futterhäuschen. Sie picken mit Vorliebe Sonnenblumenkerne. Ihr fröhliches Gezwitscher
lockt bald die Blaumeisen und die kleinen Sumpfmeisen an. Die farbigen Vögel zu
beobachten, macht mich auch an nebelkalten Tagen fröhlich und zuversichtlich.
…ich bewundere den Mut dieser kleinen Tiere und ihre Leichtigkeit, jeden Tag
so anzunehmen wie er ist. Sie hüpfen vergnügt im Hier und Jetzt, ohne in
Grübeleien zu verfallen, ob es auch Morgen wieder Körner haben wird.
Auf dem nahen Apfelbaum gesellen sich geschwätzige
Haus- und Feldsperlinge zur Vogelschar. Obwohl mir die Spatzen meist als
selbstbewusste kleine Gauner auffallen, warten sie geduldig, bis es Platz gibt
an der Körnerbar.
…ich höre ihnen zu und beobachte, wie kompromissfähig und bescheiden sie
sich gegenüber den anderen Vögeln am Futterhäuschen benehmen. Sie finden auch
die kleinsten nahrhaftesten Sämchen. Manchmal ist weniger doch mehr.
«Für Wunder muss man beten, für Veränderungen aber arbeiten».
Es klopft im Takt, während ich dieses Zitat von Thomas von Aquin lese. Der
Buntspecht ringelt wie jeden Tag um den Stamm des Apfelbaums. Behende trommelt
er den ganzen Baum ab und fördert versteckte Dinge unter dem Gehölz zu tage.
…der Specht balanciert und turnt kopfüber, dabei scheut er keinen Aufwand,
seine Ziele zu erreichen. Zwischendurch gönnt auch er sich ein paar Nüsse und
Beeren aus meinem Futterhäuschen. Durchsetzungsvermögen und Ausdauer werden dem
Specht als besondere Eigenschaften nachgesagt.
Es ist wieder Abend, Zeit für mein Ritual. Ich sammle Körnchen um Körnchen vom Boden auf und bin dankbar für die Botschaften meiner gefiederten Freunde: Warte nicht auf grosse Wunder. Achte dich der Kleinen!