Es brodelt und kocht in mir

Renate Schwertel, 30.12.2021

Renate Schwertel
Renate Schwertel

Meine Mutter ist 92. Ich bin fast 70.

Meine Mutter sagt: „Ich bin schon alt“. Ich sage: „Ja, und ich auch schon.“

Wir schauen uns an und lachen zusammen und fühlen uns in der Gemeinsamkeit des Alters verbunden.

Und weil Weihnachten ist, erzählen wir uns eine Weihnachtsgeschichte. Es liegt mir schon lange auf dem Herzen, meine Weihnachtsgeschichte zu erzählen, die vom schrecklichsten und einsamsten Weihnachten meines Lebens, Weihnachten 1964:

Wir stehen ums Klavier herum. Mein Bruder und ich, meine Mutter und meine Großeltern. Mein Großvater spielt Klavier, wie immer am Heiligabend Weihnachtslieder und wir versuchen, gemeinsam zu singen. Unsere Stimmen sind dünn und halten nicht durch bis zum Ende eines Liedes. Tapfer setzen wir immer wieder an und schauen uns nicht an dabei. Wir wissen alle, das wäre das Ende aller Tapferkeit. Mit weichen Knien bleiben wir stehen im Kreis der Familie, wir halten durch, auch wenn wir schwanken, innerlich und äußerlich.

Mein Vater ist vor 6 Wochen gestorben. Er wurde 35. Und wir sind sprachlos. Wir reden nicht von ihm und halten uns an die unausgesprochene Regel, nur nicht zu weinen und auf keinen Fall, seinen Namen zu erwähnen. Wenn wir es nicht aussprechen, ist es nicht wahr. Wir versuchen, dieses Weihnachten durchzuziehen. Wir tun alle so, als würde das Entsetzen und die Trauer uns nicht in die Knie zwingen. In mir brodelt es und kocht und droht zu explodieren und irgendwann finde ich mich in der Küche wieder, wo ich heimlich in das Küchenhandtuch beiße, um die Explosion zurückzuhalten.

Dieses Weihnachten macht uns alle einsam. Es verbindet uns nicht, wir verbinden uns nicht. Jeder leidet für sich allein.

Diese meine Weihnachtsgeschichte erzähle ich meiner Mutter in abgespeckter Form. Ich fühle mich der Familientradition immer noch verpflichtet, nur ja nicht auszusprechen, was wehtun könnte und die schmerzenden Gefühle unter dem Deckel zu halten. Aber immerhin schaffe ich eine „Version Light“ nach 57 Jahren.

Meine Mutter erzählt ihre Weihnachtsgeschichte 1964 anders und sie ist kurz:

Sie wollte uns Kindern einen Weihnachtsabend schenken, der nicht von Trauer durchtränkt ist. Sie wollte stark sein und uns beschützen. Das verstehe ich und ihre Version, ihre Weihnachtsgeschichte rührt mich. Ich sehe ihre Not, ihre Liebe und ihre Überforderung.

Meine Mutter wird sich morgen nicht mehr an unsere Weihnachtsgeschichten erinnern. Aber heute haben wir der familiären Sprachlosigkeit gemeinsam ein Schnippchen geschlagen.

Meine Mutter ist 92. Ich bin fast 70.

Wenn ich Glück habe, dann habe ich noch 20 Jahre Alter vor mir. Und in dieser Zeit werde ich einiges von dem, was noch unter dem Deckel liegt, besichtigen und, wenn ich kann,

in die Freiheit entlassen.

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