Festfieber

Brigitte Bartholet, 29.10.2019

Brigitte Bartholet
Brigitte Bartholet

Da stehe ich nun. In voller Tracht. Mitten auf dem Festplatz, zwischen Sonnenblumen-geschmückten Strohballen und dem Geranien-dekorierten Wagenrad. Erstmals als Aktive, mit der Nr. 89. Einem Jodlerfest gebührend, flattern Fahnen mit Schweizerkreuz und Verbandsinsignien im Sommerwind. Mit der Hand streiche ich meine enzianblaue Trachtenschürze glatt, mein Blick schweift von der vollen Zuhörertribüne zum Jurywagen, direkt vor mir.

Das Adrenalin kitzelt unter der Haut und ich freue mich, einen traditionellen Choral als Solovortrag zum Besten zu geben. Wenige Sekunden bleiben mir, um das Melodiebild vor meinem geistigen Auge nochmals zu visualisieren.

15:25 Uhr. Das Glöckchen klingelt als Startzeichen. Die nächsten drei Minuten gehören mir und meinem edelweissverzierten Alphorn. Drei Juroren halten ihre Benotungsblätter parat, um meinen Vortrag strikt nach technischem Regulativ für AlphornbläserInnen zu bewerten. Los! Lippen präzise an das rosenhölzerne Mundstück setzen, tief einatmen, Atemmuskulatur und Zwerchfell stützen, bis drei zählen und zum ersten Melodiebogen ansetzen.

Der erste Takt in Piano, Steigerung bis Mezzoforte. Alles prima. Der zweite Melodiebogen besteht aus mehreren Takten. Einatmen und konzentrieren. Ein Streifer beim dritten Ton. Das entgeht dem geschulten Ohr der Jury nicht. Punktabzug, blitzt es in meinen Verstand. Luft holen für den dritten Melodiebogen. Dieser fordert mich, er wird über die ganze Tonreihe und dynamisch gespielt. Das obere C klirrt. Wieder Punktabzug. Plötzlich! Meine Hände zittern bis zum spitzenbesetzten Ärmel der schneeweissen Trachtenbluse. Die Finger verkrampfen sich um das Alphorn. Immerhin sind die nächsten zwei Takte etwas einfacher. Sekunden, um mich zu sammeln. Nerven flattern, wie die Fahnen im Wind. Gedankenfetzen durchkreuzen die Melodie. Den Blick starr auf den Alphornbecher gerichtet. Der nächste Takt klingt mechanisch und stumpf. Kein Wunder. Atmen, fokussieren, trichtere ich mir ein. Endlich schaffe ich melodische Klänge. Aber zu früh gefreut. Als nächstes schlottern meine Knie. In mir zieht sich alles zusammen. So gut es geht und alles andere als heiter, entlocke ich dem Instrument die letzten Takte des Chorals. Ich schaffe keinen Melodiebogen mehr und spiele nur noch Stakkato. Atemlos bleibe ich stehen, bis der letzte Ton als Echo verklingt.

Es gibt nichts Schöneres, als mit dem Alphorn am Waldrand eine melodische Geschichte zu erzählen, den Sonnenuntergang mit Naturtönen zu begleiten oder im Vogelgezwitscher mitzuschwingen. Um Festreife zu erlangen ist die Beherrschung der Atem- und Ansatztechnik entscheidend. Die geduldigen Waldbewohner können bezeugen, wie viele Stunden ich mit Üben verbringe. Von der Jury wird Tonkultur, Interpretation, Metrik und Blastechnik bewertet. Für die mentale und körperliche Vorbereitung mache ich mir Erfahrungen aus sportlichen Wettkämpfen und Präsentationsaufgaben zunutze.

Obwohl ich mich gut vorbereitet habe, spielte mir mein vegetatives Nervensystem soeben einen gehörigen Streich. Warum?

Noch bevor ich das 3,60 Meter lange Holzinstrument schultere und Nr. 90 den Vortragsplatz überlasse, weiss ich, dass ich dieses Geheimnis lüften muss!

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