Fortsetzungsroman: Die Kirschen in Nachbars Garten / Teil 2

Julia Onken, 21.09.2022

Von Treue- und anderen Brüchen / Teil 2

Julia Onken
Julia Onken

Auszug aus dem Buch "Die Kirschen in Nachbars Garten", erhältlich im Bücher-Shop:

8. Wie sich das Arbeitsende im Steinbruch ankündigt und ein Herzbruch zur Sprache kommt

Mein neuer Beruf als Bäuerin, Haushälterin, Putzfrau, Kinderbetreuerin und Pflegerin einer magersüchtigen Wöchnerin bringt es mit sich, dass ich mich jeden Morgen sehr früh aus den Federn erheben muss. Punkt sechs Uhr dreissig stehe ich gewaschen und gestriegelt an meinem Arbeitsplatz. Nun hat mich Ernst gebeten, noch etwas früher zu kommen, um vor­ her die Hühner zu füttern. An die Eier habe ich mich bereits gewöhnt. Als letzte Arbeit am Abend durchleuchte ich zwischen 240 und 260 Stück und packe sie in Schachteln ab.

Abends komme ich selten vor neun Uhr ins Hotel. Entweder ruft Raina an oder liegt bereits auf meinem Bett. Sie fühlt sich von mir sträflich vernachlässigt. Macht mir grösste Vorwürfe. Ich sei eine elende Verräterin, dass ich nun auch noch diese Schlampe pflege. Samt Kind von Hubertus! Sie wütet. Wiederholt ihre Anschuldigungen. Immer mit gleichem Text. Gelegentlich gewinne ich gar den Eindruck, sie verfange sich immer stärker in ihren Wahnvorstellungen.

Wanda indessen liegt kraftlos in ihrem Wochenbettglück, sie isst so gut wie nichts und ist bis auf Haut und Knochen abgemagert, während ich zweifellos drei Kilo zugenommen habe, die von Rainas figurlosen Schlabberhosen überspielt werden. Ich gehöre zu jenen Unglücklichen, die in Stresssituationen an Gewicht zulegen. Das ohnehin volle Gesicht wird noch runder und rosiger und bekommt dieses schrecklich gesunde Aussehen. Ernst, sonst nicht gerade gesprächig, meint in einem kommunikativen Höhenflug, das Leben plus Bewegung auf dem Lande wirke sich gut auf mein Äusseres aus.

„Es kommt darauf an, von welcher Seite man das Ganze sieht.“ Wehmütig denke ich dabei an meinen neuen Jersey­Zweiteiler, bewusst etwas knapp gekauft, da dehnbar und zum Reisen sehr bequem. Den Reissverschluss des Rockes konnte ich schon vorher nicht bis zur Taille schliessen. Nun werde ich den Rock, Dehnungsfaktor miteingerechnet, mit Sicherheit überhaupt nicht mehr anziehen können. Ich sehe mich schon in Rainas schrecklicher Hose irgendwann, vielleicht in Jahren, nach Hause fahren, mich an den Autobahnraststätten unbemerkt ins Gewühl der Touristen mischen, eintauchen in die Lumpen- und Fetzenkultur der Freizeit­ und Urlaubsbekleidung des modernen Menschen im ausgehenden zweiten Jahrtausend.

Nach drei Wochen liegt Wanda noch immer im Wochenbett, noch dünner, noch etwas weltentrückter. Nein. Sie will unter keinen Umständen einen Arzt. Allenfalls einen anthroposophischen Naturheilarzt. Diesen bestelle ich. Er weist mich an, Wandas Knochengerüst stündlich mit kaltgepresstem Olivenöl einzureiben, das entsetzlich nach ranzigem Pommes-frites-Öl stinkt. Dazu stellt er mir für den systematischen Kräfteaufbau einen ausgeklügelten Ernährungsplan zusammen. Allein diese Pflege, die Kocherei, vor allem die Gemüsezubereitung, die nur in mildem, vitaminschonendem Dampf erfolgen darf, hätte einen einzelnen Menschen arbeitsmässig total ausgefüllt. Ich will Ernst für Wandas aufwendige Pflege gewinnen. Er schüttelt den Kopf: „Du hast tatsächlich von Landwirtschaft keine Ahnung“, und geht seiner Arbeit nach.

Felix informiert mich über den Stand der Fremdgeh-Umfrage. Er erhält bereits erste Antworten. Wenigstens diese Angelegenheit scheint reibungslos abzulaufen. Er empfiehlt mir, mich hier auf mein ursprüngliches Vorhaben zu konzentrieren, mit diesem ganzen verrückten Verein zuerst ein offenes Wort zu reden, mich dann konsequent zurückzuziehen und mich unter keinen Umständen weiter in ihr Alltagschaos einspannen zu lassen. Leichter gesagt als getan. Ob­ wohl Wanda von mir erwartet, Hubertus nochmals zu besuchen, sehe ich darin keinen grossen Sinn. Ich bete heimlich jeden Abend zum lieben Gott, ein schreckliches Grippevirus möge mich jäh befallen und ans Bett fesseln. Einmal nur, ein einziges Mal so unendlich erschöpft, ermattet und vor allem abgemagert daliegen wie Wanda!

Es will mir nicht gelingen. Jeden Tag nehme ich mir vor, mit ihnen zu sprechen. Wenn ich dann aber dort bin, verblasst mein Entschluss. Ich komme mir unheimlich egoistisch vor. Verwöhnt! Würde einfach lieber im Bett liegen und in der Vergangenheit und in Sebastians Briefen herumstrolchen. Ernst und Wanda scheinen mir aber nicht in der Lage zu sein, für sich selbst zu sorgen und eine Hilfe zu organisieren. Wenn ich nun nicht mehr komme, wer wird sich um die Kinder kümmern? Wer pflegt Wanda und den Säugling? Wer macht den Haushalt? Wer durchleuchtet die Eier? Die Eierkartons sind schon zweimal in meinen Träumen erschienen. Einmal als Matratze mit grauen Saugnäpfen. Das andere Mal turmhoch ineinandergestapelt, in jeder Einbuchtung wuselten Familien durcheinander. Und ich hätte ausrechnen sollen, wie­ viel Impfstoff man für alle dort Wohnenden benötigt.

Nachdem ich umsonst versucht habe, mich auf faire Weise abzusetzen, wendet sich unerwartet das Blatt. Eine Telefonnachricht, Antonia bittet um Rückruf. Es ist schon gegen 22 Uhr. Im Kloster anrufen? Um diese Zeit? Die freundliche Dame an der Rezeption klärt mich auf. Dies sei eine Privatnummer. Ich rufe zurück. Wie früher: Herzlichkeit von der ersten Sekunde an. Gegenprogramm zum Einsatz in Wandas wortkarger Wüste. „Woher weisst du, dass ich hier bin?“ will ich wissen. Sie kümmere sich um Raina. Gestern, zufällig, habe sie es von ihr erfahren. Und jetzt werde ich erstmals wütend. Mir werden sämtliche Informationen vorenthalten. Alle geben vor, nichts voneinander zu wissen, nicht zu wissen, wo die anderen wohnen, was sie machen. Und ich durchleuchte jeden Tag wie blöd 260 idiotische Freilufteier von biologischen und glücklichen Hühnern!

Von Antonia erfahre ich, sie sei nach dem katastrophalen Brand nur für wenige Tage ins Mutterhaus zurückgekehrt. Dann habe sie durch Zufall von einer Stelle als Personalchefin in der grössten chirurgischen Privatklinik gehört. Kurzentschlossen habe sie zugegriffen und sich bereits sehr gut eingelebt. Wir wollen uns so schnell wie möglich sehen. Anfang nächster Woche hat sie ihre freien Tage. Ich werde zu ihr fahren!

Endlich habe ich einen guten und zwingenden Grund, mich abzusetzen. Und dazu noch fair. Wanda und Ernst haben Zeit und können sich um eine andere Hilfe bemühen. Später er­ fahre ich, dass die Gemeindehelferin, die über die familiäre Situation bestens Bescheid weiss, schon lange in den Startlöchern darauf wartet, aufgefordert zu werden.

Der Tag mit Antonia entschädigt mich für alles. Sie ist noch eigenwilliger geworden. Ihre Schwesterntracht, die sie nur noch privat trägt, hat sie nach ihrem modischen Geschmack modifiziert. Sie kombiniert einen langen, faltenreichen schwarzen Rock aus fliessendem Crêpe-de-Chine, der ihre zarten Glieder wie eine Kostbarkeit umspielt, mit einem nachtblauen, halsfernen, kurzärmligen Seiden-T-Shirt, das über der Taille endet, darunter blitzt ein breiter Krokoledergürtel. Im androgynen Kurzhaarschnitt kommt ihr Gesicht noch klarer zur Geltung. „Man sollte alles nicht so eng sehen“, antwortet sie auf meinen erstaunten Blick. Wir umarmen uns. Lange. Und sehr herzlich.

„Setz dich. Mach es dir bequem. Zieh die Schuhe aus.“ Ich erzähle zuerst von meinem Unglück bei der magersüchtigen Wanda und dass ich wieder drei Kilo zugelegt habe. Alles sammle sich bei mir am Bauch, der förmlich aufgehe, wie ein Hefeteig, der über den Schüsselrand quillt. Und dann habe ich nur noch einen einzigen Wunsch, ihr, dieser wundervollen Ästhetin, meinen hässlichen Bauch zu zeigen. „Darf ich?“ frage ich.

„Selbstverständlich.“ Ich ziehe mich nackt aus und stelle mich vor sie hin.

Sie schaut mich lange an: „Ja. So ist das eben.“ Dann ziehe ich mich wieder an.

Wir sprechen von all den anderen Dingen, den letzten Jahren, in denen wir uns nicht gesehen haben.

Dann erzähle ich ihr, weshalb ich hier bin. Sie wird nachdenklich, holt tief Luft und sagt mehrere Male, wie zu sich selbst: „Das ist eine schwierige Sache.“ Dann wendet sie sich zu mir: „Es mag verrückt klingen, aber irgendwie ist es gar nicht so schlecht, dass das Schloss abgebrannt ist und sich all die unsäglichen Beziehungen und Verstrickungen unter den Menschen auf einen Schlag aufgelöst haben.“ Ich verstehe überhaupt nichts mehr.

Antonia, leicht verärgert: „Du hast uns alle idealisiert! Auf Schloss Ripsen, im Mitarbeiterinnenteam der kirchlichen Tagungsstätte für Erwachsenenbildung ging's drunter und drüber.“

Ich bin verblüfft, wem nicht, wie ich das verstehen soll. Und dann erzählt mir Antonia von ihrer Liebschaft mit dem hauseigenen Theologen. einem verheirateten Mann und Vater von vier Kindern. Er kam regelmässig aus der benachbarten Gemeinde ins Tagungshaus, hielt den Gottesdienst in der Ka­ pelle und führte Kurse für angehende Eheleute durch. Er war zwanzig Jahre älter als sie. Er glühte. Sie glühte. Die Ehefrau zu Hause kränkelte vor sich hin und hatte keine Ahnung. Beide wurden gelegentlich von Gewissensbissen gepeinigt, wollten dann die Beziehung beenden, halbherzig zwar, aber mit jedem Mal des Zusammenseins wurde die Leidenschaft stärker. Er schlich nachts lautlos ins Schloss. Und sie erwartete ihn. Viele Nächte liebten sie sich. Er grub sich atemlos in ihren zarten Leib, und sie liess sich von ihm ins Paradies hineintragen: „Meine Seele floss in die seine. Ich verschmolz mit ihm zu einem einzigen Pulsschlag, und nichts auf der Welt hätte mich daran hindern können. Er war in mir. Ich in ihm. Ach. wie mir dieses schreckliche Romantikvokabular ‚Du­ mir-ich-dich‘ auf die Nerven geht! Wenn man liebt, läuft man immer Gefahr, vorn Erhabenen ins absolut Lächerliche abzustürzen.“

Dann wurde Antonia schwanger. Schwangerschaftsabbruch. Dann noch einmal.

„Weshalb hat er sich nicht scheiden lassen?“ will ich wissen.

Antonia, überrascht von dieser Frage: „Das hatten wir nicht nötig. Ich war doch seine Frau. Er mein Mann. Das war unsere innere Wirklichkeit. Die äusseren Gebundenheiten konnten uns nichts anhaben.“ So dachte sie. Die ersten Jahre.

Dann, plötzlich, eigentlich unerwartet, war es aus mit der Herrlichkeit. Antonia wollte mehr. Unersättlich. Heisshunger nach Tag-und-Nacht-Einssein. Nur halb sein ohne ihn. Wundschmerz beim Hälftigkeitsschnitt. Da habe ihr die geheime Gewissheit nicht mehr genügt. Sie suchte nach Beweisen. Sie wollte, dass er sich zu ihr bekannte. Trotz allem. Sie hätte jederzeit Kopf und Kragen riskiert. Aber er? Besessen von der Idee, ihn für sich ganz und gar und rund um die Uhr zu haben, zu besitzen, rannte sie mit dem Schädel gegen die Wand.

Da machte er schlapp. Brach von einer Stunde zur anderen die Beziehung ab.

Er hielt weiter die Messe, führte seine Eheseminare im Schloss durch. Sie malte sich aus, ihn umzubringen. Zu vergiften. Zu erschiessen oder eigenhändig zu erwürgen. „Oder ihn aus seiner erstarrten Haltung herauszerren, ihn anspringen, ihn ins Leben zurückküssen, ihn ins Leben zurückvögeln.“

„Antonia!“

„Ja! Nur keine Animositäten! Es gibt Menschen, die müssen über ihren Geschlechtsapparat zum Leben erweckt wer­ den!“

Dass sie es dennoch nicht getan hat, war weniger ihrer bewussten Zurückhaltung zuzuschreiben als einem unbändigen Hass auf ihn. „Mein Schmerz war so gross, dass ich ihn tatsächlich hätte umbringen können. Aber ich dachte mir etwas noch Schlimmeres aus. Soll er doch neben seiner unsäglichen halbtoten Ehefrau lebendigen Leibes vertrocknen und eingehen. Nun, inzwischen ist er Grossvater geworden, alt, mausgrau, tattrig. Und das Schloss ist abgebrannt. Keine Aussenstation mehr, um sich vom ehelichen Alltag zu erholen. Geschieht ihm recht. Aus und vorbei. Unsere Wege haben sich ganz natürlich getrennt.“

Ich will mir meine Überraschung über Antonias Erzählung nicht anmerken lassen, ihre Leidenschaftlichkeit, ihre Fähigkeit zu hassen verblüfft mich. Als läse sie meine Gedanken, sagt sie beiläufig: „Es ist ein grosser Unterschied, ob du aus einer unbeteiligten Position heraus etwas beurteilst und kluge Ratschläge erteilst, oder ob es dich selbst erwischt hat. Der Mensch scheint zwischen beiden Polen ausgespannt zu sein, mit dem Verstand etwas zu begreifen und dennoch genau das zu tun, was er gar nicht gutheisst. Die Kunst besteht darin zu verstehen, dass beides zusammengehört. Basta.“

Ob ich noch mehr Geschichten hören wolle, fragt sie beiläufig, da wir doch gerade dabei sind?

Wanda hat seit mindestens fünf Jahren ein Verhältnis mit Hubertus. Bevor sie dieses einging, war sie einige Jahre mit dem Verwalter liiert.1 während Ernst, ihr Mann, regelmässig zu Laura, der Hausbeamtin, ins Bett stieg. Ernst wurde aber ziemlich bald abgeschrieben, da ein geistlicher Herr, der regelmässig nach Schloss Ripsen zur Erholung kam, diese Partitur übernahm. Ernst drehte damals total durch und erzählte überall herum, er lasse den ganzen Verein auffliegen. Dann tröstete er sich schnell mit Sophia, die damals gerade neu ins Team kam. Frisch geschieden mit zwei Kindern, zog sie in Ripsen ein. Es ging jedoch nicht lange, da lernte Sophia einen sehr viel jüngeren Mann kennen und verliebte sich in ihn. Und Ernst sass wieder auf dem Trockenen.

Mir schwindelt, und ich möchte gehen. Antonia meint, ich sei selbst schuld, wenn ich mir unrealistische Bilder und Vorstellungen über Menschen zurechtzimmere. Und wenn diese dann einfach ihrer Natur gemäss leben, falle ich aus allen Wolken. Sie hat Recht.

Schloss Ripsen war für mich eine heile Welt, in die ich fliehen konnte, wenn es mir draussen zu turbulent wurde. Die ganze Hausgemeinschaft, samt Gärtner und Putzfrau, traf sich morgens und abends zur besinnlichen Stunde. Sie lasen ein paar Stellen aus der Bibel und dachten in aller Stille darüber nach. Ich nahm, so oft ich konnte, daran teil, nicht wegen der Bibeltexte, sondern wegen des wunderbaren Gefühls, zu so einer wunderbaren, heilen Gemeinschaft dazuzugehören.

Beim Abschied umarmen wir uns. Sie begleitet mich noch zum Auto. Beim Einsteigen sagt sie: „ Übrigens, du musst unbedingt abnehmen! Laura führt ganz tolle Diätkurse durch.“

Das sitzt.

9. Wie ein Esel auf einer Bruchkante balanciert und ich versuche, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen

Im Hotel stelle ich mich sofort vor den Spiegel, kann jedoch in meinem Anblick nichts Beschwichtigendes oder Tröstliches finden.

Was soll ich mit einem Diätkurs. Es gibt nichts, was ich nicht schon über Diäten wüsste. Je mehr Wissen ich mir an­ eigne, umso schlimmer wird es. Deshalb will ich von Diäten nichts mehr wissen.

Auf alle Fälle will ich ab sofort täglich ins Hotelhallenbad zum Schwimmen gehen. Bewegung soll sehr viel wirksamer sein. Jetzt, da ich nicht mehr als Hilfskraft bei Wanda eingesetzt bin, habe ich ja Zeit genug. Bereits am nächsten Tag vor dem Frühstück will ich mit meinem Wasserfitnesstraining beginnen.

Seit meinem Einsatz bei Wanda hat sich meine innere Uhr umgestellt, und ich wache nun jeden Morgen bereits vor sechs Uhr auf. Das passt wunderbar in meine neuen Pläne fürs Schwimmtraining. In dieser Herrgottsfrühe ist keine Menschenseele im Schwimmbad. Ein leises, verlorenes Plätschern. Dazwischen schnurrt die Wasserpumpe.

Ich drehe meine Runden. Zwanzigmal, so habe ich es mir vorgenommen, rund um das Becken. Die ersten drei Runden fühlen sich grossartig an, bewegungsfroh strebe ich von einer geplättelten Ecke zur nächsten. Ach, wie gut Bewegung tut, da ist wahrlich etwas dran. Während der nächsten drei Run­ den befallen mich erste Zweifel in puncto Nützlichkeit. Dann höre ich zu zählen auf und denke nur noch darüber nach, ob diese völlig hirnlähmende Bewegungsmotorik nicht weit unter der Würde eines menschlichen Wesens steht. Relativ rasch komme ich zu der Überzeugung, dass es so nicht geht, und ich höre mit diesem albernen Rundenschwimmen auf. Ich will gerade aus dem Bassin steigen, da sehe ich den ersten Bade­ gast herannahen. Ich warte also ab. Schliesslich habe ich keine Lust, mich mit meiner ganzen Überfülle vorzuführen. Der Badegast ist männlichen Geschlechts und bereits älteren Jahrgangs. Er trägt seinen Bauch mit grösster Selbstverständlichkeit zur Schau, beinahe mit Stolz.

Er strebt unverzüglich zur Unterwasserdüse, stellt sich mit dem Rücken gegen sie. Und während er sich unterwässerig massieren lässt, blickt er unternehmungsfreudig umher. Ich habe wohl so schnell keine Möglichkeit, unbeobachtet dem Wasser zu entkommen, und so muss ich wohl oder übel noch ein paar Runden schwimmen. Ewig wird er sich wohl nicht massieren lassen. Jedesmal, wenn ich an ihm vorbei­ schwimme, nickt er mir freundlich zu. Ich nicke zurück. Beim fünften Mal fragt er:

„ Rapunzel, bist du es?“

Das kann nur ein ehemaliger Schulkollege sein. Die Stimme kommt mir bekannt vor. Ich schaue genauer: Konrad. Wir schütteln uns die nassen Hände. Ich stelle mich ebenfalls vor eine Düse. Und während der Wasserstrahl richtige Dellen in Bauch und Schenkel hineindrückt, unterhalten wir uns über Gott und die Welt. Er ist inzwischen geschieden und zum zweiten Mal frisch verheiratet. Die erste Frau reichte die Scheidung ein. Sie hat ihm oft aussergewöhnlich hässliche Szenen gemacht und ihm laufend vorgeworfen, er gehe fremd. Jahrelange Streitereien habe er auf sich genommen, dabei sei er nur höchst selten fremdgegangen - und die wenigen Male, die habe er sehr rücksichtsvoll an seiner Frau vorbeigeschleust, und ihr habe es an überhaupt nichts gemangelt. Unter Fremdgehen verstehe er schon etwas anderes! Nun hoffe er doch sehr, die zweite Frau sei vernünftiger und vor allem grosszügiger. Er wohnt in der Nähe des Hotels und kommt jeden Morgen wegen Rückenproblemen zur Unterwassermassage.

„Ja, wir sind eben nicht mehr die Jüngsten!“

„Ja, ja“, antworte ich seufzend.

Was war er doch früher für ein windschnittiges Bürschchen gewesen. Sportlich vorn Scheitel bis zur Sohle. Er hatte als erster ein Rennrad, mit dem er zur Schule kam, weil er einen ziemlich weiten Schulweg hatte. Er lag stromlinienförmig auf seinem Renner, drehte gewagte Kurven, sauste pfeifend an uns vorbei, überholte uns wieselflink bergaufwärts, die wir unsere schwerfälligen Alteisenfahrräder vor uns herschoben. Ich hätte mir damals nicht vorstellen können, dass ein so beweglicher Sportheld jemals zu einem ungelenken, rücken­ geplagten, dickbauchigen älteren Herrn mutieren könnte.

Inzwischen sind noch weitere Badegäste angekommen. Zwei junge Frauen, bildschönschlank. Und Konrad, dieser alte Esel, kann es nicht lassen, seinen Altherrenblick begehrlich auf sie zu richten. Er kommentiert auch noch: „Nicht schlecht, beide haben ordentlich Holz vor der Hütte.“

Und später, bei genauerem Hinsehen noch: „Die Dunklere würde mich mehr anmachen. Schau mal diesen hohen Wasserfall! Aufregend! „

Ich denke ans Gehen. Konrad wird beschäftigt sein und mich nicht unter die Lupe nehmen. Bevor ich aber gehe, möchte ich ihm noch eine Lektion verpassen. Die alte Wut schäumt in mir auf. Männer dürfen aussehen, wie sie wollen, sie gehen in ihrer Phantasie immer davon aus, dass jede Frau ihnen zur Verfügung steht. Wir dagegen! Welche Fünfzig­ oder Sechzigjährige würde es auch nur klammheimlich wagen, einem leckeren Jüngling nachzuschmachten. Nicht einmal in ihrer Phantasie! Sie hat sich längst selbst abgeschrieben! Aus dem Verkehr gezogen. Pickt dankbar noch die wenigen Brotkrumen auf, die vom prallen Tisch der Lüste fallen. Der freundliche Blick des Bahnschaffners lässt sie schon in den siebten Himmel auffahren. Wir werden bescheiden. Mit zu­ nehmendem Alter werden wir immer noch bescheidener. Während unsere gleichaltrigen männlichen Kollegen sich nach wie vor aus dem breitgefächerten Angebot sämtlicher Alters-, Bildungs- und Schönheitskategorien mit grösster Selbstverständlichkeit eine mögliche Partnerin heraussuchen.

„Sag mir nur noch eines“, beginne ich im lockeren, aber vertraulichen Plauderton. „ Es interessiert mich seit langem, und ich frage mich stets, wie ein Mann mit deiner Figur, also mit einem stattlichen Bauch ausgerüstet, es fertigbringt, einen Geschlechtsverkehr ordentlich hinzukriegen.“

Konrad hüstelt. Ich hake nach.

„Der Bauch muss da ja irgendwie im Weg sein, also rein geographisch gesehen müsste ja dann der Penis um die Grösse des Fettüberhangs verlängert werden, um einen Bogen um den Bauch unten herum zu machen [ich deute auf seinen Bauch und zeichne die Rundung etwas übertrieben nach], damit der Intimkontakt überhaupt zustande kommen kann.“

Konrad hüstelt abermals. Ich setze noch eins drauf: „Zugegeben, ich habe wirklich keine Ahnung von derartigen Vorgängen. Es wäre mir einfach aus ästhetischen Gründen unvorstellbar, mich mit einem Mann ins Bett zu legen, der nicht gertenschlank ist.“

Konrad wirkt etwas verlegen. „Klargeht das!“ sagt er. „ Aber klar, aber klar, das geht schon!“

Und ich sehe mit grösstem Vergnügen, wie er mit seiner Hand über seinen Bauch fährt, die Luft anhält, auf seinem Bauch kreisende Bewegungen durchführt, als ob er sich selbst sagen wollte, so schlimm ist es auch wieder nicht.

In diesem Moment verabschiede ich mich schnell. Nun bin ich sicher, dass er mit sich genug zu tun hat, um mir nicht blöd hinterherzuschauen und mich unter die Lupe zu nehmen. Ein kurzer Blick zurück bestätigt meine Vermutung. Er ist ganz und gar damit beschäftigt, die Luft anzuhalten und den Bauch einzuziehen.

Zweifellos wird er es nach wenigen Minuten wieder vergessen haben. Und wird wieder wie zuvor jungen Mädchen aus seinen alten Eselsaugen nachschielen. Selten habe ich mich so wohl gefühlt. Aus diesem Geschlechterkampf gehe ich ausnahmsweise als Siegerin hervor.

Ich lasse mir ein üppiges Frühstück aufs Zimmer bringen.

10. Wie ein junges Leben bricht und alte Spielregeln sich verfestigen

Ich will mich gerade über das köstliche Frühstück hermachen und mich darüber freuen, dass ich Konrad, diesem alten Esel, eins auswischen konnte.

Ernst steht vor der Tür.

„Das Baby ist tot.“ Er spricht leise.

„Wanda geht es sehr schlecht. Du musst alle Hebel in Bewegung setzen, damit Hubertus aus der Untersuchungshaft raus kann. Wenigstens für die Beerdigung. In drei Tagen.“

Das Baby ist tot. Dieses rosige Baby, friedlich lag es da, und nun ist es einfach gestorben. Mir nichts, dir nichts. Manchmal hören Kinder auf zu atmen. Als ob sie sagen wollten: „Nein danke.“ Als ob sie uns mitteilen wollten: „Ich habe es mir bei den Menschen anders vorgestellt. Ich gehe wieder und suche mir einen besseren Landeplatz.“

Wandas Baby wurde zwar gefüttert, aber es bekam zweifellos zu wenig emotionale Nahrung. Wanda war selbst halb tot. Mich fröstelte ebenfalls in ihrer Nähe. Und so ein Kind. Noch schutzlos. Der Welt ausgeliefert.

Wie soll ich das mit Hubertus machen? Ich habe keinerlei Einfluss. Ich kann nur tausend Telefonate starten, etwas in Institutionen herumrühren, wühlen, geschäftig und betroffen daherreden und mir selbst das Gefühl geben, nicht einfach hilflos dazusitzen. Alles wird aber ohne Ergebnis bleiben. EinMensch wie ich bleibt einflusslos, da nützen auch gelegentliche öffentliche Auftritte in den Medien nichts. Wir sind nur das Beilagengemüse, die Garnitur, wir helfen höchstens mit, den Leuten etwas Sand in die Augen zu streuen. Unterhaltung ist gut, sie lenkt vom Denken ab, vom kritischen Nachdenken über dies und das.

Wäre ich irgendwo auf einer politischen Bühne tätig, sässe mitten im Wirtschaftspfuhl, wo es um die Wurst geht und Millionen hin und her geschoben werden, könnte ich zweifellos mehr Einfluss ausüben.

Ja, wäre ich dazu noch ein Mann und zugleich in wirtschaftlichen Belangen verwaltungsrätlich tätig, hätte ein politisches Amt oder Ämtchen und zugleich im Militär ein gewichtiges Pöstchen, wäre zudem verkumpelt und verbrüdert mit Hans, dem Staatsanwalt, und Fritz, dem Vollzugsbeamten, und Franz, dem Oberrichter, und säf6e auch noch in irgendeiner Kommission, die seit Jahren über den Ausbau von Feldwegen diskutiert, dann könnte ich den Hans oder den Fritz oder den Franz anrufen und sagen: Du Hans oder Fritz oder Franz, kannst du mir mal eben einen Gefallen erweisen? Entweder würde der Hans oder der Fritz oder Franz sofort irgendeine Hintertür kennen, einen Schleichweg erkunden und unverzüglich alles in die Wege leiten, schliesslich hätte ich doch auch dem Hans und dem Franz und dem Fritz, und der Franz hätte dem Fritz und der Fritz dem Hans, und umgekehrt, einmal einen kleineren oder grösseren Dienst erwiesen. So wäscht die eine Männerhand die andere.

Zwar kenne auch ich einen Hans, einen Fritz und einen Franz, aber ich habe keinen für sie interessanten Gegenwert zu bieten. Nicht mehr. Bis kurz vor vierzig können wir noch erotische Versprechen in Aussicht stellen. Und da viele Männer darauf reagieren wie Frauen auf schöne Kleider oder Süssigkeiten, ist auf diesem Weg ein kleiner, allerdings zeitlich befristeter Einfluss geltend zu machen. Da nur ganz wenige Frauen in wichtigen Kaderpositionen sitzen und etwas zu sagen haben, funktioniert die „Basenwirtschaft“ unter Frauen nicht. Die Chance, als Frau über Frauenfilz eigene Interessen zu verfolgen, ist sehr viel geringer, als auf einem Geschäftsausflug Filzläuse einzufangen.

Haben die erotischen Trümpfe einer Frau ihr Verfalldatum überschritten, bleiben sämtliche Hintertüren verschlossen. Gut, resümiere ich, wenn's durch die Hintertüre nicht klappt, dann will ich es wenigstens durch das Hauptportal versuchen. Ich melde mich beim Untersuchungsrichter an und bekomme sofort einen Termin. Die Untersuchung gegen Hubertus R. sei soeben mangels Beweisen eingestellt worden, er werde heute um 14 Uhr entlassen.

Ich lasse Hubertus über den Untersuchungsrichter ausrichten, dass ich ihn abhole.

Ich sitze neben Hubertus im Auto. Bevor ich den Motor anlasse, sage ich: „Das Baby ist tot.“

Hubertus starrt mich fassungslos an.

„Was?“ brüllt er laut. „Was ist mit dem Baby?“

„ Es ist tot.“

Dann weint er und kann beinahe nicht mehr aufhören. Er erholt sich nur langsam, schluchzt zurück, fällt erneut in eine Schmerzwelle, die ihn ins Uferlose hinauszutragen scheint, wo er beinahe zu ertrinken droht. Aber die Welle spült ihn wieder an Land. Die Intervalle werden kürzer.

Er möchte, dass ich ihn schnellstmöglich zu Wanda fahre. Die Beerdigung des Babys wird von beinahe unerträglich heiterem Sonnenschein begleitet. Überall blüht und duftet es dem Sommer entgegen, Vögel zwitschern vergnügt, ein zitronengelber Schmetterling lässt sich zitternd auf dem kleinen Sarg nieder.

Die Trauergemeinde schreitet zur allerletzten Segnung. Allen voran die Eltern des Kindes: Hubertus und Wanda. Es ist ihr Kind, das sie zu Grabe tragen. Wanda durchsichtig und schwach, von Hubertus gehalten, dahinter Ernst und die drei Kinder, die längst aufgehört haben, etwas verstehen zu wollen. Sie blicken unbeteiligt in die Gegend. In der Kirche beginnen die zwei Kleinen zu kichern, nur kurz allerdings, ihr Vater verpasst ihnen unkompliziert eine Ohrfeige. Wanda dreht sich um und blickt mit strafend-leidendem Blick auf die Kinder, als ob sie sagen wollte: ))Das dürft ihr mir jetzt nicht auch noch antun.“ Die Kinder scheinen immunisiert gegen derartige Schuldzuschieberei und weichen kurzentschlossen und selbstverständlich dem mütterlichen Blick aus. Sie sind trainiert durch die chaotischen Wochen und Monate davor, wo ein Kind nur drei Möglichkeiten hat, entweder sich end­ gültig zu verabschieden wie das Baby, sich gegen sämtliche äusseren Wirrnisse zu schützen und sich zu panzern oder einfach durchzudrehen.

Auch Antonia ist zur Beerdigung gekommen. Obwohl es ihr grösste Mühe macht, nicht in Ohnmacht zu fallen, als sie ihren ehemaligen Geliebten, den Pfarrer, wiedersieht, ihn, den sie so innig geliebt hat und der jetzt die Totenfeier zelebriert. Die Frau des Pfarrers ist ebenfalls anwesend, eine ältere, blasse, weisshaarige Frau. Ob sie etwas von der Geschichte mit Antonia ahnt? Sie gibt ihr liebevoll lächelnd die Hand und schaut Antonia lange an. Und Antonia hält ihrem Blick stolz stand. Raina hat zuerst nicht zur Beerdigung erscheinen wollen, kommt dann aber doch. Als ich ihr vom Tod des Babys erzählte, atmete sie auf und sagte: „Dieses Kind hatte kein Recht, auf die Welt zu kommen.“ Sie hält es für Gerechtigkeit auf Erden, an der sie bis dahin zweifelte. Sie lässt sich von ihrem Wohlgefühl nichts anmerken, ignoriert Hubertus und seine Wanda und all die anderen ebenso. Auch redet sie mit mir kein einziges Wort, sondern steht wie ein Mahnmal, über­ gewichtig und unbeweglich, zwischen den Trauergästen.

Der Pfarrer spricht tiefsinnige, aber etwas windschiefe Worte. Die Erwähnung der Elternschaft umschifft er geschickt, indem er stets von jener Gemeinschaft spricht, die einmal als Team auf Schloss Ripsen zusammenarbeitete. Es gebe zweifellos grössere Zusammenhänge im Leben der Menschen, als die, die vordergründig zu sehen sind. Und manch­ mal führe einen der liebe Gott eben in Versuchung. Nicht aber, um an ihr vorbeizugehen, sondern um durch die Versuchung hindurchzuschreiten und danach gestärkt, geläutert und gereinigt hervorzugehen. Wie bei einem Waschmaschinenvorgang, denke ich und schaue, ohne zu wollen, zu Antonia hinüber, die den Blick beinahe triumphierend zu Boden richtet.

Beim Leichenschmaus kommt es noch mal zu einer kleinen lrritierung. Wanda bricht schluchzend am Tisch zusammen und klammert sich wie eine Ertrinkende an Hubertus. Diese Szene veranlasst Raina dazu, geräuschvoll aus dem Saal zu stürzen und die Türe heftig hinter sich zuzuknallen. Antonia rennt ihr hinterher, als sie aber bei ihr keinen Trost ausrichten kann, kommt sie zurück und landet direkt in den Armen des Pfarrers, der gerade dabei ist, ebenfalls nach draussen zu gehen. Antonia gibt einen herben, kaum hörbaren Zischlaut von sich und stösst den Exgeliebten von sich. Erhobenen Hauptes schreitet sie zurück zur traurigen Gemeinde. Zudem haben sich zwei Polizisten diskret auf dem Flur des Restaurants aufgestellt. Sie wollen bis zum Ende der Trauerfeierlichkeit warten, um hinterher Ernst in Untersuchungshaft zu nehmen, auf den nun ein Haftbefehl wegen Brandstiftung ausgestellt ist.

Die Atmosphäre ist gespannt und alles andere als geeignet, um Gespräche über vergangene Zeiten zu führen. Es wird denn auch kaum gesprochen. Lediglich die Kinder werden von Zeit zu Zeit von Ernst angeherrscht. Als er jedoch erfährt, dass er gleich nach der Trauerfeier wegen Verdachts auf Brandstiftung in Untersuchungshaft genommen werden soll, erlahmt sein Erziehungseifer sichtlich. Es sind dann nur noch die Kinder zu hören, die allmählich immer stärker aufdrehen und aktiv werden. Sie spielen unbekümmert unter dem Tisch Fangspiele und springen zwischen den Erwachsenen herum. Zweimal fällt dabei ein Glas zu Boden, einmal leer, einmal mit Rotwein gefüllt, der über Lauras dunkles Seidenkostüm tröpfelt und ihre beige Bluse besprenkelt.

Laura schrubbt auf der Toilette gerade an den Rotwein­ flecken und erzählt mir von ihren neuartigen Diätkursen, als sich Sophie durch die für sie etwas enge Tür hindurch­ quetscht. Ich will alles von Laura erfahren, wie sie das macht, und vor allem, um wie viele Kilos erleichtert man den Kurs verlässt.

„In fünf Tagen fünf Kilo. In zehn Tagen zehn Kilo.“

Mir läuft das Wasser im Munde zusammen. Ich kann es nicht glauben. Auch Sophie strahlt mit naiver Hoffnung auf ihrem runden Gesicht, wie das nur Dicke vermögen.

Laura wiederholt selbstbewusst: „In fünf Tagen fünf Kilo.

In zehn Tagen zehn Kilo.“

Sophie schliesst sich unverzüglich an. Auch sie will. Endlich. Wieder wie ein Mensch.

Laura teilt uns mit, dass erst nächstes Jahr wieder ein Kurs vorgesehen sei.

„So lange kann ich nicht warten“, sage ich entschieden, unterstützt von Sophie. Es ist mir nun unvorstellbar, auch nur einen einzigen Tag länger in meinem Übergewicht zu stecken.

Laura klärt uns auf, dass wir mindestens fünf Teilnehme­ rinnen sein sollten. Sonst würde sich das Ganze nicht lohnen. Ich denke sofort an Raina, sie würde sicher auch mitmachen. Ich gehe sie draussen suchen. Sie aber sitzt mit trübem Blick unter einer Trauerweide und will sich umbringen. Nein, nicht sofort, aber demnächst, lässt sie mich wissen.

Es ist zweifellos nicht der richtige Moment, sie auf einen Diätkurs anzusprechen, vielleicht wird sie mir ins Gesicht springen. Aber ich bin von der Vorstellung derart angetan, dass ich es dennoch wage. Ich habe mich getäuscht. Die Depression ist wie weggeblasen. Selbstverständlich will sie. Sie habe ihr verdammtes Übergewicht schon lange satt, nein, es hänge ihr zum Hals heraus. „Lieber tot als dick!“ ruft sie in den Spätnachmittag hinein. Und wiederholt es einige Male. Als sich die Trauergemeinde auflöst, tauschen Sophia, Laura und ich noch schnell unsere Adressen aus. Nächste Woche soll es losgehen.

Während Ernst unauffällig von der Polizei abgeführt wird, steigt Wanda in Hubertus' Auto.

11. Wie die Leidenschaft zusammenbricht und zu neuen Lustquellen aufgebrochen wird

Nun sitzt Ernst in Untersuchungshaft. Hubertus wohnt bei Wanda. Eigentlich will ich mich von diesen ganzen Verflechtungen zurückziehen, als mich aber Hubertus und Wanda zum Essen einladen, nehme ich die Einladung an. Noch ein letztes Mal. Und in zehn Tagen werde ich um zehn Kilo leichter wieder nach Hause fahren.

Wanda, noch immer überdünn und klapprig, aber immer­ hin so weit, dass sie aufstehen und herumgehen kann, ohne gestützt zu werden, kommt auf mich zu. Hubertus hat für uns gekocht. Die Kinder wurden zu einer Tante in Ferien geschickt.

Und dann verbringe ich den langweiligsten Abend meines Lebens. Hubertus und Wanda hängen spannungslos und ohne gegenseitige hormonelle Vitalisierung ineinander. Die Luft ist draussen. Die Faszination erloschen. Die Verheimlichung trug wohl einen grossen Teil dazu bei, Dynamik in das Verhältnis zu bringen und die Beziehung mit Spannung zu versorgen.

Wanda kuschelt sich leidenschaftslos an ihn. Aber Hubertus' abfallende Schultern wollen nicht einmal mehr beheimaten. Was haben sie sich wohl ·bei ihren geheimen Treffen zugeflüstert? Welcher paradiesischen Vision folgten sie? Wir bringen weder ein reges Gespräch noch sonst einen einiger­ massenbefriedigenden Austausch über dies und das zustande. Als ich mich auf die Toilette zurückziehen will, um mich etwas von der anstrengenden Spannungslosigkeit zu erholen, folgt mir Hubertus, und in der dunkelsten Ecke des Flurs flüstert er mir zu, er hätte nichts dagegen, wieder zu Raina zurückzukehren. Ob ich vielleicht gelegentlich ein gutes Wort für ihn einlegen könnte. Kurz darauf verabschiede ich mich. Ich bin wütend. Und dann heule ich im Auto ein paar Runden, mehr recht als schlecht, ein Trotzflennen, die Tränen kullern nicht wehmütig über die prallen Wangen, sondern springen wie kleine Funken aus dem Gesicht. Das ist also die grosse, die übergrosse, einzige und einzigartige Liebe. Und dafür sind wir bereit, alles aufzugeben, was uns gut und teuer und bisher wichtig war. Wir sprengen unsere Familie einfach in die Luft, mir nichts, dir nichts, und pulverisieren das Familiengebilde. Schicken die Kinder zum Mond. Die Ehefrau/den Ehemann zum Teufel. Wenn's im Schritt kribbelt, knauft, stösst, juckt, zerrt, saust und braust, setzen wir Heimat und Frieden aufs Spiel, verlieren den Verstand und hecheln dem Glück hinter­ her, jagen über Stock und Stein, um die Illusion eines Liebesglücks beim Schopf zu packen. Kaum haben wir zugelangt, zerplatzt die Seifenblase.

Im Hotel rufe ich Felix an. Ich bin gerade in Fahrt und will wissen, wie es eigentlich bei uns steht. Mit der Liebe. Und der Treue und so. Der ewigen. Der immerwährenden. Und überhaupt.

„Was soll schon sein? Es gibt Dinge, die sind grösser, als du erfassen kannst“, philosophiert er ganz untypisch.

„Wie meinst du das?“ will ich wissen.

„Wenn man von einer Rose fasziniert ist, und man pflückt sie auseinander, um hinter das Geheimnis ihrer Schönheit zu kommen, bleibt von der Schönheit nichts mehr übrig.“ Dazu kaut er irgendetwas Hartes und ermahnt die Hunde, sich ruhig zu verhalten.

Es ist wohl besser, über die Hunde zu sprechen. Oder über mein Vorhaben, eine Diätkur bei Laura zu machen. Felix unterstützt mich darin, was sehr verdächtig ist. Findet er mein Vorhaben gut, heisst das im Klartext, dass ich ihm nicht gefalle, so wie ich bin. Möchte er mich indessen davon abhalten, könnte ich ihm mangelndes Einfühlungsvermögen in meine Probleme vorwerfen. Felix sitzt so oder so in der Falle. Und so bleibt mir nur noch ein Problem, wo um Gottes willen kann ich noch mindestens zwei Teilnehmerinnen auf­

treiben.

Ich erinnere mich, auf einer Frauentagung eine Autorin kennengelernt zu haben, die ein Erfolgsbuch zum Thema Abnehmen geschrieben hat und ebenfalls Diätkurse veranstaltet. Ich rufe sie an. Cornelia will zu meinem grossen Er­ staunen gleich selbst mitmachen. In zwei Wochen werde sie nämlich wieder einen ihrer sehr erfolgreichen Diätkurse

„Spielend abnehmen“ abhalten. Nur habe sie in den letzten Wochen derart an Gewicht zugelegt, dass sie sich unmöglich den Teilnehmerinnen des Kurses überzeugend als Vorbild präsentieren könne. Ihre eigene Methode wirke bei ihr nicht mehr.

Nun fehlt nur noch eine Teilnehmerin. Kurz entschlossen schlage ich Laura vor, sich doch nicht so kleinlich an die Teilnehmerinnenzahl zu halten, sondern einfach mal das Gesamtgewicht der teilnehmenden Frauen zusammenzuzählen.

„Wir vier bringen ein Gewicht zusammen, da könnte man mindestens sechs bis acht schlanke Menschen daraus formen.“

Das leuchtet ihr ein.

Gleich Anfang der Woche soll es also losgehen. Freudig packe ich meine Siebensachen zusammen, alles vom Hotel frisch gewaschen und gebügelt. Dann fahre ich los. Ich habe einen Plan von Laura erhalten, mit genauer Reisebeschreibung.

Mühelos finde ich den Weg. Das Haus befindet sich unweit vom schuhschachtelgrossen Häuschen, das ich damals für Sebastian und mich für unsere allererste Liebesnacht gemietet hatte. Nach zehn Monaten intensivstem Liebesgeflüster per Brief hatten wir 48 Stunden Zeit, all unsere Illusionen und Träume in die Realität herunterzuholen. Die kleine Räuber­ braut hatte bereits seit drei Tagen nicht mehr schlafen können. Sie explodierte beinahe vor Aufregung. Vor allem beschäftigte sie Tag und Nacht die Frage, was sie anziehen wollte. Schliesslich sollten es Kleidungsstücke sein, die sich nicht nur mühelos öffnen liessen, sondern auch noch möglichst verführerisch über die mit köstlichen Essenzen eingeriebene kurvenreiche, aber damals noch schlanke Körperlandschaft glitten, akustisch umrahmt von aufregendem Knistern fallender Textilhüllen. Sie stellte fest, dass es völlig unerotische Stoffe gibt, die sie vor ein kaum überwindbares Problem stellten. Es war Herbst und im bergigen Engadin zweifellos schon sehr kalt. Sollte sie einfach warme Unterwäsche anziehen und sie dann kurz vorher klammheimlich auf dem Klo gegen Lieblicheres auswechseln? Oder bereits frierend die Reise antreten? Vielleicht würde ihr die Zeit fehlen, sich vorher umzuziehen. Schliesslich hatte Sebastian angekündigt: „Ich werde Dich achtundvierzig Stunden lang auf Händen tragen! Mit kurzen Unterbrechungen allerdings. Und etwas längeren. Da werden wir au/Lustwogen ins offene Meer hinausfluten, auf dem gischtspritzenden Wellenkamm davon­ reiten, einmal Du oben, ich unten, dann wieder umgekehrt, einmal bin ich hinter Dir, um gleich wieder irgendwo wie ein kleiner Kobold zu verschwinden und mit dem nächsten Atemzug wieder unverhofft zwischen Deinen weissen, weit geöffneten Schenkeln aufzutauchen Ach, Lenchen. Es werden unvergessliche Stunden sein!“

Er hatte Recht.

Nach 48 Stunden war die Herrlichkeit ausgetrunken. Ich brachte ihn zum Gefängnis zurück. Er verschwand hinter dem grossen Eisentor. Dann liess er nichts mehr von sich hören. Kein Brief. Nach elf bangen Tagen erhielt ich das erste Lebenszeichen. Ein Gedicht von Villon. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger:

„Die Bäume standen alle grau und krank

im Wald herum, weil in dem Bach der Tag ertrank.

Du aber warfst die Kleider fort vorn Leib

und hast ein weisses Licht

mir angezündet, du, mein Abendweib,

mit Wurzelhaar und Tiergewicht.

Und immer werden meine Augen hell und weit,

wenn in der Nacht mir solch ein Mond erscheint.

Die Bäume wuchsen in den Mai hinein

und wollten nicht mehr grau und einsam sein.

Ich aber weiss nicht, wo du weilen magst,

ich weiss nur, wie du hautnacktheiss.

Und über uns der Mond zog seinen Kreis

die lange Nacht

und hat mich still und hat mich krank gemacht.

Ich bin nach deinem Muttermal so krank,

das sich an meinem Blut betrank.

Das werd' ich manche Nacht im Wald

noch wissen ... du, noch einmal kehr

zurück, im weissen Kleid. Bald bin ich alt

und wie die Bäume krank und leer ...

Doch heute, in dem milden Licht,

wie quält es mich nach Wurzelhaar und Tiergesicht.“

Es dauerte nochmals zwölf endlose Tage, bis der erste kurze Brief kam. „Hallo, Du Wurzelweib! Der Nachtflug über den Ozean hat mich in die Knie gezwungen. Und sprachlos gemacht. Wollte Dir weder Melancholie in die Ohren plärren noch die kleinen Hörmuscheln mit Kummermüll vollstopfen. Deshalb die Verspätung. Bin inzwischen wieder an Land gerobbt und wohlauf Und ganz der alte Maulwurf lässt grüssen.“

Das Diäthaus ist zwar grösser als mein damaliges Liebesnest. Aber trotzdem für fünf Personen viel zu klein. Da sich aber Raina sofort mit Cornelia anfreundet, und die beiden spontan darauf bestehen, zu zweit in einem Zimmer zu wohnen, ist das Problem gelöst. So bleibt für mich das kleine Dachzimmer, abgeschrägt und sehr gemütlich, das winzige Fenster gibt den Blick in die herrliche Landschaft frei, unter mir das ruhende Tal, dahinter Bergkulissen, die entschlossen den Horizont begrenzen, der Himmel stahlblau über mir, einige Sonnenstrahlen, die etwas verloren durch die mächtige Krone des Kastanienbaums vor dem Haus blinzeln, die unverhältnismässig wuchtig beinahe über das ganze Hausdach reicht. Ein Raum, um sich wohl darin zu fühlen. Das Bett, wohlbehütet unter der Abschrägung, ein Stuhl ohne Lehne, ein kleines Gestell. Später bemerkte ich, dass die einzelnen Räume nur optisch voneinander getrennt sind. Das Haus ist ein Wunder an Hellhörigkeit. Jede hört alles von jeder. Wenn eine sich die Halskette umlegt, klirrt es durchs Haus. Jedes Öffnen oder Schliessen eines Reissverschlusses erschüttert sämtliche Mitbewohner, von intimeren Verrichtungen ganz zu schweigen. Sophia leidet die ersten zwei Tage unter Totalverstopfung. Sie kann unmöglich, wenn alle ihr zuhören. Ich verrate ihr meinen eigenen Trick, den ich immer auf öffentlichen Toiletten anwende, die nur durch dünne Trennwände unterteilt sind und oben und unten offen sind: Ich halte mir einfach die Ohren zu. Dadurch bin ich sofort von der Aussenwelt abgeschnitten, ich höre nur Geräusche aus meinen eigenen Eingeweiden und habe den Eindruck, allein auf der Welt zu sein. Wir besorgen uns Ohropax, um auch für andere Aktivitäten die Illusion aufrechtzuerhalten, ungestört und allein zu sein.

Laura, unsere Diätkursleiterin, ist in Hochform. Und sie hat guten Grund dazu. Schliesslich ist sie als einzige mit ihrer Figur zufrieden. Äusserst zufrieden! Sie eröffnet den Kurs wie folgt: „Liebe Frauen, nehmt euch ein Beispiel an mir. Ich bin jetzt siebenundvierzig und wiege noch immer gleich viel wie mit siebzehn, nämlich achtundvierzig Kilo und kein Gramm darüber, und Willi hat mich noch nie mit einer anderen Frau betrogen, nicht einmal im Traum oder in der Phantasie, er hat ja schliesslich auch keinen Grund. Zwei Schwangerschaften habe ich hinter mir. Bei der ersten habe ich nur zwei Kilo zugenommen, bei der zweiten sogar nur ein Kilo und neun­ hundert Gramm. Es gehörte zu meinem Ziel, niemals mehr als fünfzig Kilo zu wiegen, auch nicht während der Schwangerschaft. Das erste Kind wog drei Kilo hundertfünfzig, das zweite sogar drei Kilo vierhundert. Jetzt könnt ihr selbst ausrechnen. Und wie habe ich das erreicht?“ Es scheint eine echte Frage zu sein, denn sie blickt uns alle an und wartet. Wir sitzen ratlos da, mehr oder weniger eingeklemmt zwischen Eckbank und Eichentisch. Sophie hat den ungünstigsten Platz erwischt, ihr Bauch stösst direkt an die Tischplatte. Während wir überlegen, räkelt sich Laura auf ihrem Stuhl, sie hat unter dem Tisch unendlich viel Platz, so dass sie die Beine locker übereinanderschlagen und sich seitlich hindrapieren kann, sich mit der einen Hand lässig auf der Sitzfläche ab­ stützt, während sie mit der anderen sichtlich mit Genuss über den vorstehenden Hüftknochen kreisende Streichbewegungen macht. Sie reckt ihren schmalen Hals kerzengerade in die Höhe: „Na, und?“ Dabei schiebt sie ihre absolut doppelkinnfreie Kieferpartie nach vorn, richtet den ganzen Gesichtsaus­ druck himmelwärts, fest entschlossen, uns eine Antwort abzuringen.

Neben dieser spannungsgeladenen Drahtbürste wirken wir alle wie formlose Säcke.

Raina äfft sie genervt nach. „Na und? Ich nehme an, zwei Karotten, anderthalb Selleriestangen und vier Liter Wasser pro Tag.“

Laura entzückt: „Nicht schlecht, gar nicht schlecht.“ Dann schreitet sie zum ersten Grundsatz:

Wenig essen, vor allem Ballaststoffe, und viel trinken.

Nichts Neues, denke ich.

Die Lektion geht weiter. „Aber das genügt noch lange nicht“, spricht Laura mit Nachdruck. „Wirmüssen auch für eine gute Verbrennung besorgt sein. Und Verbrennung findet statt, wenn wir uns bewegen. Also müssen wir uns bewegen.“

Auch dies ist nicht neu, und ich überlege kurz, ob uns Laura auf die Berge und wieder hinunter hetzen wird.

Aber es kommt noch schlimmer.

„ Um sich zu bewegen, braucht man keine grossen Wanderungen zu machen, das können wir an Ort und Stelle, ohne uns auch nur einen Meter fortzubewegen.“ Sie springt flink von ihrem Stuhl auf und beginnt federleicht mit beinahe gestreckten Beinen zu hüpfen. Ohne aufzuhören. Nein, sie spricht dabei lächelnd weiter, hüpft und lächelt, sie steigert sich noch, indem sie nur auf einem Bein hüpft. Sophia wendet fast angewidert den Kopf von diesem Schauspiel ab. Laura aber hüpft weiter und erzählt dabei ausführlich, wie sie selbst während ihrer Schwangerschaften nicht auf diese wohl­ tuende, energieverbrennende Hüpfübung verzichtete und beim ersten Kind bis zwei Tage vor dem Geburtstermin, beim zweiten noch am Morgen der Geburt federnd vor sich hin hüpfte, ja, gewissermassen in die Geburtswehen hineinhüpfte. Laura streicht sich nun, noch immer hüpfend, mit beiden Händen über ihre Hüftknochen, die unübersehbar sind und wohl den markantesten Punkt in ihrem Körper darstellen.

Sophie ist sauer. „Mit mir nicht. Ich dachte, das sei etwas Vernünftiges zum Abnehmen. Und jetzt bietest du einen jämmerlichen Turnkurs an. Ohne mich!“ Und nur der Tatsache, dass ihr Bauch hoffnungslos zwischen Eckbank und Tisch­ kante eingequetscht ist, ist es zu verdanken, dass sie nicht unverzüglich aufspringt und geht.

Laura referiert weiter: „Bis jetzt habe ich ja nichts Unbekanntes vorgebracht. Aber jetzt kommt die absolute Neuigkeit. Nach neuesten amerikanischen Forschungen ist es eindeutig erwiesen, dass der Stoffwechsel, also die Verbrennung, wesentlich verbessert wird, wenn zusätzlich zu der Bewegung alle fünfundzwanzig Minuten eine kleine Mahlzeit eingenommen wird.“

Das kann sich hören lassen, und wir atmen alle fröhlich auf.

„Tatsächlich alle fünfundzwanzig Minuten?“ will ich mich vergewissern.

„Ja, so ist es“, bestätigt Laura.

Alle 25 Minuten etwas essen können, einfach paradiesisch! Als dann aber Laura konkreter wird und uns feierlich mitteilt, dass wir pro Mahlzeit zwölf gekochte Reiskörner essen dürfen, gut eingespeichelt und fünfzigmaI gekaut, möchte ich die Kur abbrechen. Ich rechne mir sofort die messerspitzgrosse Portion aus. 25 Minuten hin oder her. Sophie bekommt einen hysterischen Lachanfall, Raina flucht, dass die Wände wackeln, nur Cornelia bleibt unbekümmert und unbeeindruckt. Seit neuestem hat sie ein rezeptpflichtiges Präparat gefunden, das den Appetit ziemlich zu zügeln vermag. Aber sie fühlt sich aufgedreht, angekurbelt und fahrig, gelegentlich auch allem etwas fern, und vor allem wiederholt sie jeden Satz mindestens dreimal.

„Hör bloss mit diesem Zeug auf, du bist schon ziemlich am Verblöden mit deinen Wiederholungen“, meint Sophie unverblümt. „Ja, äh, ich weiss, äh, ich weiss, ich weiss.“

Auch Raina wiederholt sich laufend. Hubertus. Dieser Hund. Wanda, die elende Schlampe. Gott sei Dank ist das Baby tot. Das ist wenigstens Gerechtigkeit.

12. Wie ein Treuebruch die Lust auf die eigene Frau stimuliert und eine systematische Willensschulung erfolgt

Laura hat nicht nur eine klare Vorstellung davon, wie sie uns den Speck vorn Leib herunterholen will, sie ist auch davon überzeugt, dass übergewichtige Menschen einer gezielten Nacherziehung bedürfen.

„Übergewicht entsteht durch zu viel Essen. Also muss man weniger essen. Und wer nicht weniger isst, obwohl er es will, ist willensschwach. Das ist alles.“

Mit ihrer Diätkur hat sie deshalb auch noch eine Willensschulung kombiniert. Und am besten, so Laura, kann man den Willen schulen, indem man lernt zu schweigen. Es gibt pro Tag eine Stunde der Geselligkeit, da wir miteinander sprechen dürfen. Sonst wird ausserhalb der Gruppenstunden geschwiegen.

Gleich am ersten Abend kommt dann aber noch die Hauptlektion: Sexualität. Laura meint, übergewichtige Menschen seien im Grunde genommen nicht fähig, eine normale Sexualität zu praktizieren. Die dicken Frauen mit ihren riesigen Bäuchen, Schenkeln und Ärschen, ohnehin für jeden Mann eine abscheuliche Zumutung, unappetitlich, unästhetisch, ungeheuerlich. Es gibt Frauen, die sehen nicht einmal mehr über den Bauch zu ihren Schamhaaren. Einmal hatte sie eine 52jährige Teilnehmerin in einem Diätkurs, die nicht einmal wusste, dass ihre Schamhaaare grau, absolut mausgrau geworden waren. Und wenn wir meinen, damit noch einen Mann sexuell stimulieren zu können, hätten wir uns gehörig getäuscht. „ Es gehört zur selbstverständlichen Pflege jeder Frau, sich auch um diese Gegend kosmetisch zu kümmern und nicht nur eine Haartönung auf dem Kopf vornehmen zu lassen, sondern auch unten wieder etwas Farbe mit ins Spiel zu bringen.“ Auf jeden Fall hat sie für uns alle kleine Zahn­ bürsten und Joghurtgläser mit verschiedenen Tönungsshampoos bereitgestellt. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn unsere Männer fremdgehen und sich bei einer ranken, schlanken Frau amüsieren und sexuell befriedigen. Aber die meisten Frauen kommen nicht einmal auf die Idee, den Fehler bei sich selbst zu suchen, sondern fallen immer nur über die Männer her und beschimpfen sie. Nun will sie einen Gesprächsabend einführen, an dem jede von uns in puncto Sexualität die Karten auf den Tisch legen soll.

Nach dieser Einleitung schleicht Sophia aus dem Raum. Kurz darauf kommt sie, weiss wie ein Leintuch, zurück: „Ich habe mich mit Hilfe meines Spiegels informiert. Bei mir ist kein einziges graues Haar vorhanden. Es sind überhaupt fast keine mehr da!“ Und dann heult sie los. Hemmungslos und herzerweichend. Laura eilt zu ihr, beruhigt sie einerseits, andererseits ermutigt sie sie, den Schmerz zuzulassen. Dann springt sie in die Küche, holt ein Stück Gartenschlauch, drückt ihn Sophia in die Hand und fordert sie auf, auf einen Stapel Zeitungen, den sie sofort zurechtgerückt hatte, einzuschlagen und loszuschreien. Sophia will nicht. Laura wirft ihr vor, sie sei eigensinnig und wolle nichts lernen. Dann fordert Laura uns auf, mit dem Schlauch auf die Zeitungen einzuschlagen, um unsere Wut loszuwerden. Ich bin nicht wütend, weiss im, Moment gar nicht, weshalb ich wütend sein soll. Laura hilft nach, ich müsse mit diesem Übergewicht zweifellos grosse sexuelle Probleme haben und solle mich jetzt nicht so anstellen und so tun, als ob bei mir alles in Ordnung sei.

Raina hingegen liefert die gewünschte Wutinszenierung. Sie kreischt, zetert, flucht und schreit, während sie mit dem Schlauch auf die Zeitungen eindrischt. „Du verdammtes Luder, du Hure, Scheisshure, verdammter Kotzbesen“ und so weiter. „Na,siehst du!“ Laura ist zufrieden.

Cornelia macht nicht mit.

Laura erklärt uns hinterher, dass sie diese Methode „Schlagen mit Schlauch auf Zeitungen“ einmal in einem Trauerseminar kennengelernt habe.

Sophia kommt noch kurz vor Schluss, auf Touren und beschimpft Laura als „ abgehalftertes Klappergestell“. Diese Aussage wird dann den Auftakt am nächsten Morgen bilden, weil Laura darauf beharrt, dass, Sophie sich bei ihr entschuldigt. Sophie weigert sich.

Da wir uns gemeinsam weigern, die Hüpfbewegungen aus­ zuführen, ist Laura verärgert. Sie besteht darauf, dass wir wenigstens mit ihr auf der Wiese stehen und die frische Bergluft in unsere Lungen einströmen lassen, während sie unermüdlich in die Luft springt und motivierend lächelnd oder ziemlich säuerlich ihr tägliches Pensum demonstrativ absolviert. Wir stehen um sie herum und machen mit den Armen die Hüpfbewegung mit, als ob wir fliegen wollten, das bringt Laura noch mehr in Schwung. Sophie meint, wir hüpften eben mental, und das sei doch in jedem Abmagerungsprogramm mindestens ebenso wichtig, wenn nicht sogar am wichtigsten.

Gegen Nachmittag, nach etwa der achtzehnten Mahlzeit, bekomme ich ein schreckliches Schädelbrummen und falle in einen der Bewusstlosigkeit ähnelnden Meeresschlaf. Kielwärts hängt schwer mein Bauch, mit tausend kleinen Muttersaugnäpfen parasitenübersät. Weniger ein Schiff als eine über­ grosse Müllschiffsdeponie. Nachtwanderung, durch Darmkanalisationen robben. Abtransport von Sondermüll. Trotz allem entschlossen, durch und durch. Alle Nachschubkanäle dichtgemacht. Nur zwölf halbstündlich verabreichte Reiskörner, ködernd am Fischhaken ins Wasser geworfen.

Dazwischen auftauchen, den Kopf übers Wasser halten, Orientierung suchen. Wo sind die andern? Stimmen. Weit entfernt und dicht am Ohr. Raina und Cornelia. Im Zimmer nebenan. Schrill. Laut. Wo sind die Ohrstöpsel? Bleischwer das Gliedmassenwasserwerk. Im Kopf tausend giftige Geigen­ virtuosen.

Raina läuft über. Sprudelt. Ohne Punkt und Komma. Hubertus, ach, ihr Liebgemahl, und Wanda, diese elende, abscheuliche Schlampe. Ihre einstige Freundin. Beste! Wohl dosierter Betrug. Über Jahresraten erschlichen. „Die Sache mit dem toten Baby geschieht ihr recht. Soll sich nicht in fremde Betten schleichen, kotz- und magersüchtig. Fressen ja! Aber nicht dazu stehen. Hubertus ist ein Idiot. Fiel prompt auf dieses Weib herein. Dabei sind sie doch glücklich gewesen. Er. Und auch sie. Zwei Kinder. Wie kann das sein. Die Männer sind alle gleich! Er ist zwar glücklich verheiratet, steigt aber jedem Rock sofort nach, fährt sein Rohr aus und steckt es flugs in jede Rille, Ritze, Falte, bohrt in jedes Loch, drechselt in jede Vertiefung, schraubt in jede Windung, plumpst in jede Grube. Und ausgerechnet bei Wanda, dieser dummen Nuss produziert er Nachkommen! Nachkommen! Ich habe es seit einem Jahr gewusst. Die verdammte Heimlichkeit flog auf, plötzlich, aus heiterem Himmel. Ich kam zu früh von einer Reise zurück. Und da lag sie in unserem Ehebett. Er japste auf ihr wie ein Frosch. Sie, so klapprig dünn und mager, verschwand total unter dem schweinchenrosaroten Japsfrosch. Ich dachte, er sei krank, im Kopf, am Durchdrehen, fasste ihn bei den japsenden Wippschultern. Da sah er mich. Erstarrte. Bleich. Leichenbleich. Und da entdeckte ich diese elende Schlampe unter ihm, dünn wie ein Leintuch. Er in ihr. Ich riss ihn von ihr runter. Und dann habe ich sie verprügelt, bis sie winselnd wie ein Hund davonschlich, nicht ohne sich vorher noch ihre griessbreiweisse Baumwollunterhose anzuziehen.

Hubertus blieb Herr der Lage. Ich soll nicht ausrasten. Es sei doch nichts dabei. Im Grunde liebe er nur mich. Das sagte er, als Wanda weg war. Ich heulte die ganze Nacht. Davor habe ich ihm noch seine Stereoanlage samt allen CDs ruiniert. Hubertus wollte das Verhältnis zu Wanda beenden. Doch dann legte sie sich ins Bett und hörte zu essen auf. Hubertus musste jeden Tag an ihr Bett, sie zum Essen motivieren. „Ein Löffelehen für Mama, eins für Papa und eins für mich.“ Sobald er von ihrer Bildfläche verschwand, hörte sie sofort wieder auf. Und er, dieser Vollidiot, sprang sofort wieder auf diese Masche an. Diese miese Hexe hatte ihn ganz schön in der Zange.

Unter seiner fürsorglichen Pflege genas sie erstaunlich schnell. Das Verhältnis ging weiter. Obwohl er mir versicherte, es sei aus. Aus und vorbei. Aber ich roch es, suchte nach Beweisen. Ich suchte. Ich wollte es genau wissen. Und da, da entdeckte ich das Liebesnest, eher zufällig als dedektivisch superschlau. Ich ging eines Abends noch in sein Büro, weil ich meine Agenda bei ihm vergessen hatte. Er sass noch an seinem Schreibtisch. Er hatte mich wohl nicht eintreten gehört und führte deshalb sein Telefongespräch weiter. „Also“, flüsterte er, „heute, um ein Uhr, in der Kapelle.“

Gegen elf Uhr gingen wir ins Bett. Wie immer. Noch etwas lesen. „Schatz, schlaf gut.“ Händchenhalten. Hänsel und Gretel. Und dann blieb ich wach. Mit Herzklopfen. Wie macht er das wohl? Wecker kann er nicht stellen. Wir lagen beide wach und warteten. Traumhaft schön, nicht wahr? Dann wurde mir klar, er wartet, bis er denkt, ich sei eingeschlafen. Dann atmete ich tief und schwer. Kaum zu glauben. Nach den ersten drei Atemzügen schlich er sich behende aus dem Bett, zog sich lautlos an und verschwand. Ich hinterher. Zuerst musste ich mich noch anziehen. Und dann machte ich mich auf den Weg zur Kapelle. Es war kurz vor zwölf, und ich nahm nicht an, dass Wanda schon unterwegs oder bereits da war. Als ich jedoch die Kapellentür aufmachen wollte, war sie verschlossen. Ich wartete hinter einen grossen Blumenstock in der Fensternische. Und wartete. Es ging schon gegen ein Uhr. Keine Wanda weit und breit. Ich war viel zu dünn angezogen und fror jämmerlich. Aber ich hätte meinen Posten um nichts in der Welt aufgegeben. Um halb zwei war sie immer noch nicht da, und ich begann zu überlegen. Erst da begann ich zu vermuten, dass sie wohl schon lange vor Hubertus hineingegangen war, um auf ihn zu warten. Als er dann kam, schob er den Riegel vor, und die Tür war verschlossen. Wie blöd ich war. Ich hatte es mir so schön vorgestellt: Wanda würde leise mit ihrer mageren Pfote an die Tür klopfen, Hubertus würde eilends öffnen und sie zärtlich in seine verheirateten Arme schliessen und zu sich in die Kapelle ziehen. Ich würde wie eine Rakete aus der Ecke springen, würde mich mit ihnen in die Kapelle drängen, mich breit in die vorderste Bank fläzen und sie auffordern: „Nur zu!“ Ich würde aus vollem Halse schreien: „Nur keine Hemmungen. Vögelt, bis der Altar zusammenkracht. Fickt euch wund! Bumst euch zu Tode!“ So hatte ich es mir ausgedacht, und ich muss zugeben, ich fühlte einen eigenartigen Schmerz, süssbitter, wehwohl, der mich faszinierte.

Gegen drei Uhr platzte ich fast vor Wut und ging nach Hause. Ich war total durchgefroren. Ich .schlief sofort ein. Bleischwer. Gegen sieben weckte mich Hubertus, küsste mich mit absolut unverständlicher Leidenschaft, bestieg mich sofort und besorgte es mir einmal von vorne, einmal von hinten. Ich verstand die Welt nicht mehr. Aber ich war zu müde und zu verwirrt, ihn abzuwehren. Zudem, das gebe ich zu, triumphierte ich über diese Hexe und nahm mir vor, es ihr brüh­ warm zu erzählen. Ha, hast wohl mit deinem Knochengerüst doch nicht so viel Wonne ausgelöst, dass er sich noch in mein Übergewicht hineinbohrt.

Ich fand heraus, dass sie sich jeden Donnerstag trafen. So wurde der Donnerstag zu meinem unglücklichen Feiertag, und ich versuchte stets, Hubertus von seinem Treffen abzuhalten. Ohne Erfolg. Jour fixe. Ich inszenierte kleine und grössere Pannen, setzte Einladungen auf den Donnerstagabend an. Er fand immer das Zeitloch um ein Uhr, wo er einfach lautlos verschwand. Nichts konnte ihn abhalten.“

Rainas Stimme dringt verzerrt zu mir ins Unterwasserreich, schlingt sich um tang- und algenübersäte Wrackteile, und ich irre orientierungslos zwischen den Geschichtsfetzen. Ratlos liege ich in meinem Bett, ein halb angefressener Mond hängt im Fenster, das gekippt (von wem?), einige Zentimeter blanker Nacht in mein Dasein strömen lässt. Und der angeknabberte Mond zieht seine Bahn, nagt am Gesicht und nestelt sich ins ungewaschene Haar. Da rücke ich ihm mein Kissen hin, damit er schlafen kann. Ich drehe mich ins Dunkle, falle aus mir heraus, hinab, hinab zum Wiesengrund, wo mich Sebastian in Empfang nimmt. Im Liebesland, wie zu alten Zeiten. Er flüstert mir Villons Worte in mein Ohr, die schönsten Mausworte, mein allerliebstes Mausgedicht:

„Es schwamm der Mond in mein Gemach hinein,

weil er da draussen so allein

bei den entlaubten Bäumen stand.

Ich habe ihm ein Kissen hingerückt,

damit er ruhen konnte, und er tat's beglückt

sich untern Kopf. Ich legte ihm die Hand

schnell auf die Augen, und da schlief er auch.

Mich aber plagte schlechte Luft im Bauch.

Sie plagte mich, bis eine Uhr schon zwölfe schlug.

Da hatte ich verdammt genug

und liess sie ab, die Luft. Davon ist zwar

der Mond nicht aufgewacht, doch in dem Fenstereck

die Mäuse/rau. Sie hat im ersten Schreck

geboren, was noch gar nicht fällig war.

Die kleinen rosa Schnauzen piepsten da so nett,

dass ich sie zu mir nahm ins warme Bett.

Mein Gott, die lütten Dinger, noch ganz nackt

und blind: Wie hat das Elend mich gepackt!

Ich glaub, dass mir Nasses in die Augen kam.

Dabei hat manches Mädchen schon von mir

ein Kind gekriegt und starb vor Scham.

Die armen Würmer aber kuschten sich

in meine Hand, als wäre ich ihr Vater Mäuserich.

Zuletzt war auch die Mäuse/rau so zahm

geworden, dass sie schwänzelnd zu mir kam.

Die schwarzen Augen glänzten froh und gross

in mein Gesicht hinein.

Und plötzlich war ich auch so mäuseklein

wie dieses Tier und nahm es in den Schoss.

Ich habe wohl die ganze Nacht mit ihr verbracht

und an kein andres Weib dabei gedacht.

Im milden Licht der Winternacht

habe ich mich zu den Mäusen aufgemacht. Du fragst, warum denn nur?

Hört zu, es ist kein Tier so klein,

das nicht von dir ein Bruder könnte sein.“

Unbezähmbare Sehnsucht. Ich will zu Sebastian, zurücktauchen, zurück in seine aufregende Mäusewelt.

Inzwischen hat sich der angenagte Mond aus dem Staub gemacht.

Ich schliesse das Fenster.

Am nächsten Morgen um sechs Uhr fünfzehn dröhnt ein absolut penetrantes Violinkonzert durch das kleine Haus und schleudert uns aus den Federn.

13. Wie Brüche im Weltbild gekittet werden und sich der Verdacht, betrogen zu werden, nicht bestätigen lässt

Bei genauem Hinhören entpuppt sich die Penetranz darin, dass Laura sopranistisch zum Geigenkonzert mitträllert. Ihr Gesang ist unzumutbar. Laura ist total gut drauf. Die erste, schwierigste Hürde hätten wir alle mit Bravour genommen. Ich möchte mit den anderen zum „Frühstück“ gehen. Aber als ich aus dem Bett steige, überfällt mich ein Schwindel und zieht mich spiralförmig bodenwärts, wo ich liegenbleibe und auch nach längerer Zeit keinerlei Lust verspüre, mich jemals wieder zu erheben und es eventuell noch einmal zu versuchen. Laura eilt herbei, macht mir kalte Umschläge auf Stirn und Unterarme, was ich als sehr wohltuend empfinde, wenngleich ich dabei keinerlei Impulse verspüre, mich aufzurichten. Ich werde ins Bett hochgestemmt, alle scheinen mitzuhelfen. Es ist mir alles scheissegal. Ich döse vor mich hin und will nur noch eins: meine Ruhe. Diese wird mir freundlicherweise gewährt. Ich bin ab sofort von allen Gruppenaktivitäten befreit, einschliesslich der morgendlichen und abendlichen Hüpfübungen. Das Haus ist ohne Telefon, glücklicherweise, und so klingelt niemand dazwischen. Felix gehört zu einer anderen Welt, ist weit weg, lebt auf einem anderen Stern. Mein Natel liegt ausgeschaltet in der Reisetasche. Ich hatte zwar versprochen, ihn gleich nach der Ankunft anzurufen. Aber, was soll's. Er wird es schon merken, wenn kein Anruf kommt. Allmählich kehrt die Erinnerung an die Geschichte von Raina zurück, die ich gestern Nacht mitgehört hatte – ohne zu wollen. Und eine Frage beginnt mich nun immer stärker zu beschäftigen. Ist Hubertus ein exotischer Vogel, ein hochneurotischer und gestörter Mann, ein verantwortungsloser Bandit, ein Sexbesessener oder sonst ein hirnverbrannter Idiot? So viel ist mir klar. Hubertus scheint kein Einzelfall zu sein. Allein aus meinem persönlichen ganz intimen Repertoire fällt mir sofort eine ganze Reihe von Namen ein. Allen voran Sebastian. Wie hat er doch der kleinen Räuberbraut das Blaue vom Himmel heruntergequasselt. Welch liebestolle Symphonie liess er erklingen! Und sie, Geier-Wally vom Lande. Glückstrotzend und -strahlend. Als er entlassen wurde, folgten drei knappe heisse Wochen. Dann kühlte die Glut jäh ab. Bei ihm jedenfalls. Und er konnte sie erst wieder anfachen, wenn ihm eine hübsche Serviertante schöne Augen machte. Er fand nichts dabei. Auch nicht, wenn es nicht nur beim Augenschein blieb, sondern zu hand- und vor allem stichfesteren Kontakten kam. Er sei ein Jäger durch und durch. Archaisch, in jeder Zelle eingraviert, er müsse jagen, das Wild erlegen, und erst wenn es vor ihm liege, komme er kurzfristig zu einem Gefühl des Glücks und der Zufriedenheit. Lang halte es nicht an. Bald müsse er sich wieder aufmachen, das Gewehr schultern und auf die Pirsch eilen. Ein absolut natürlicher Vorgang. Als Kind ist er auf Bäume geklettert, hat im Wald Hütten gebaut und Räuber und Gendarm gespielt und abenteuerlich die Welt erkundet. Später hat sich dieses Grundpotential an Energie auf andere erkundbare Objekte verlagert. Die Energie ist dieselbe geblieben, nur die Ziele haben sich verschoben...

Sie stritten sich oft. Die kleine Räuberbraut wollte ihn für sich allein haben. Als sie begriff, dass dies nicht möglich war, wollte sie ihn nicht mehr. So nicht. Entweder ganz oder gar nicht. Einen, der stets anderen hinterherjagte und darüber hinaus behauptete, das sei alles sehr natürlich, so einen wollte sie nicht.

Mein Dasein wird halbstündlich von zwölf Reiskörnern unterbrochen, dazwischen trinke ich gallonenweise Tee und robbe bodennah zur Toilette, um das seit Jahren angesammelte Gift herauszupinkeln.

Die übrige Zeit döse ich vor mich hin, folge dem Herumschlendern der Gedanken beinahe interesselos. Dazwischen dringt Rainas Fortsetzungsgeschichte ins Zimmer: „Nichts konnte Hubertus davon abhalten, jeweils in der Nacht zum Freitag zum Kapellenstelldichein zu gehen. Ernst, Wandas Mann also, wusste zu diesem Zeitpunkt noch nichts davon. Er wertete Hubertus' Engagement während Wandas Hunger­ streik als besonderen Ausdruck von Männerfreundschaft. Ernst besuchte über längere Zeit einen Kurs für biologische Landwirtschaft, der immer donnerstags/freitags stattfand. Für mich war es eine beinahe unerträgliche Situation. Ich war ganz sicher, wenn ich Hubertus mit meiner Entdeckung konfrontierte, würde er es einfach abstreiten, und ich stünde als die Hysterische, die Blöde da, die sich hoffnungslos in ein Hirngespinst verrannt hatte. Ich musste sie unmittelbar dabei ertappen, ihn der Lüge überführen. Aber sosehr ich mich auch anstrengte, es wollte mir einfach nicht gelingen. Einmal wollte ich besonders gerissen sein und kündigte schon Anfang der Woche an, dass ich am Donnerstag zu einer Freundin ginge und dort auch übernachtete. Dann wartete ich den ganzen Tag im Auto, nachts schlich ich mich dann in die Kapelle, versteckte mich und wartete. Es wurde ein Uhr. Dann zwei Uhr. Dann drei Uhr. Dann wurde mir klar, dass ich einen Denkfehler begangen hatte, dass sie sich nicht in der alten Kapelle, sondern in unserem warmen Ehebett vergnügten. Die Haustüre war von innen verschlossen, und ich konnte nicht ins Haus. Sollte ich läuten wie eine Fremde? Da dachte ich, am besten wäre wohl, eine Bombe zu zünden und alles in die Luft zu jagen. Ich verbrachte die Nacht im Auto und phantasierte dies und das. Ja. Ich war am Ende. Total.

Obwohl mir Laura versichert, dass ich das Anfangstief hinter mir hätte, macht es nicht diesen Anschein. Ich versinke immer wieder in bleischweren Schlaf, wate durch dunkle, noppenbehangene Darmfloralandschaftsgänge. In Nischen, mit dunkelrotem Samt ausgeschlagen, frönen Menschen unbekümmert ihrer Lust. Felix ist auch dabei. Er besteigt ein wunderschönes Mädchen und bohrt ihr mit spitzem Insektenrüssel in den Bauchnabel. Sie wippen auf und ab und stöhnen fürchterlich. Ich stehe vor der Nische, schaue zu und denke, so ist das also. Die anderen Herren in den anderen Nischen kenne ich nicht. Jedesmal, wenn ich in Schlaf versinke, werde ich von schrecklichen Bildern gepeinigt, Felix also auch einer dieser elenden Hunde, die nichts anderes zu tun haben, als hinter anderen Weibern herzujagen. Zwischen halb wachem und halb schlafendem Bewusstsein pendeln, zwischen halbherziger Wut und halbherzigem Schmerz. Vielleicht zeigt der Traum eine Wahrheit, die ich sonst nicht wahrhaben will. Oder ich inszeniere im Traum meine Ängste. Oder Wünsche. Vielleicht bin ich Felix. Delegiere meine eigenen Fremdgehwünsche an ihn. Diese verdammte Fasterei bringt alles durcheinander. Erhitzt den Innenraum, bringt Zellformationen durcheinander.

Später dann, Gott sei Dank, lässt der Sturm nach. Allmählich beruhigen sich die Bilder. Bis endlich alles still wird. Kein Windhauch, der durch die Seele weht. Urflutartig wie einst zu Beginn, als die Erde wüst und leer war und eine grosse Finsternis über dem Wasser lag. Ich bin Teil davon, schwebend, bewusstlos eingewoben, nur gelegentlich spült der Atem eine kleine Erkenntnis in das Gemüt, für den Bruchteil einer Sekunde, und ich fühle, dass ich bin.

Nach einer zeitlosen Trübnis dringt ein schmales Morgen­ licht durch eine Ritze in das Zimmer und mit ihm eine winzige Heiterkeit, die mir Lebensfreude einhaucht und mich aus dem Bett kriechen lässt. Ich öffne Fenster und Läden weit und lasse mich vom frischen Lichtquell erquicken. Die bleierne Körperschwere ist gewichen. Ein schmetterlingsleichtes Wonnegefühl durchflutet Körper und Geist.

Ich werde weiterhin regelmässig mit Tee und Reiskörnern versorgt. Was will der Mensch mehr. Dazu Wohlgefühl. Und den Eindruck seltener Klarheit im Kopf.

Der Postbote hat zum erstenmal etwas gebracht. Raina erhält einen Brief von Hubertus, den sie an sich reisst und damit verschwindet. Felix schickt mir einen dicken Umschlag mit ersten Auswertungen meiner Fremdgeh-Umfrage. Dazu noch einen Brief, in dem er anfragt, ob ich schon derart vom Fleisch gefallen sei, dass ich nicht einmal das Telefon einschalten könne. Seine Vorwürfe halten sich in Grenzen.

Felix hat - voreilig wie oft - eine Vorauswertung der beantworteten Fragebogen erstellt mit der Überschrift: „... und bin so klug als wie zuvor“. Dazu kommentiert er, offenbar hätte ich dicht am Thema vorbeigefragt. Den Gründen partnerschaftlicher Untreue hinterherzuschnüffeln sei einfach völlig uninteressant!

„Und nur die Menschen nehmen's so genau.

Der Schmetterling fragt nicht die Blume:

hat schon ein anderer dich geküsst?

Und diese fragt nicht:

Hast du schon eine andere umflattert?“

Aha, mein Traum mit dem Insektenrüssel!

Er fährt belehrend fort: „Viel interessanter wäre zu erfahren, welche Bedeutung Sexualität im menschlichen Leben überhaupt hat, was Sexualität mit Liebe zu tun und welche Kraft sie hat, dass sie imstande ist, uns zu Handlungen zu motivieren, die wir bewusst nicht wollen.“

Die Äusserungen machen ihn sehr verdächtig.

Felix hat es schon immer ausgezeichnet verstanden, von der eigenen Waschküche abzulenken, um sich grundsätzlich über die Funktion verschiedener Waschprogramme den Kopf zu zerbrechen.

Um mich nicht, getrieben von rasender Eifersucht, ins Auto zu werfen, nach Hause zu fahren und zu überprüfen, oh am lnsektenrüsseltraum nicht doch was Wahres dran ist., packe ich den mir zugeworfenen Gedankenknochen und nage an der Frage herum, was denn die Sexualität für eine Energie ist und was sie im menschlichen Leben bewirken soll.

Eines ist klar: Wäre die Sexualität nicht eine gigantische Kraft, die sich immer wieder gegen alle Vernunft durchsetzt, wäre die Menschheit längst ausgestorben. Die Schöpfungsintelligenz hat der Sexualität eine gehörige Durchsetzungskraft verliehen, als Gegenkraft zum menschlichen Willen. Zwei Schwergewichte, wie im japanischen Ringen, schnaubende, kolossal überfette Kontrahenten, die gegeneinander antreten. Darüber hinaus ist die Sexualität mit umfangreichen Lust­ quellen ausgestattet, die die meisten Menschen möglichst oft bis hinauf ins hohe Alter geniessen wollen. Sexuelles Triebkraftwerk als Urkraft. Urantriebskraft. Motor, der das Leben in Schwung bringt, den Verstand vernebelt, den Willen lähmt und, ob wir damit einverstanden sind oder nicht, Leben reproduziert.

Mit dem Begriff „Libido“ bezeichnet Sigmund Freud die dem Geschlechtstrieb innewohnende Energie als Grundantrieb im menschlichen Leben. Somit sind wir ziemlich dicht beim Tierreich stationiert, mit dem kleinen Unterschied, dass die Lust bei Mensch und Tier einen unterschiedlichen Stellenwert hat. Das Lusterleben des Tieres liegt in der Auflösung eines Spannungszustandes, wie etwa beim Durst­ löschen oder Hungerstillen. Mein koitierendes Hundepaar in der Küche machte nicht gerade einen überaus glücklichen Eindruck, es stöhnte weder vor Wonnegefühl, noch jauchzte es vor Glücksempfinden. Es war eher zu vergleichen mit dem wohltuenden Nachlassen eines unerträglichen Unwohlseins, wie zum Beispiel nach einer langen Wanderung, wenn die Füsse aufschwellen und brennen und man die Schuhe endlich ausziehen kann. Der eigentliche Geschlechtsakt dauerte nur wenige Minuten, hinterher blieben die Hunde noch mindestens eine halbe Stunde - wenn nicht länger - ineinander hängen, was sie mit dem gleichgültigsten Blick der Welt auf sich nahmen. Gleichwohl ist die Antriebskraft ungeheuerlich. Der Hundesamen will zum Hundeei. Wie der Tag hell und die Nacht dunkel werden will. Als ich das Hundepaar in der Küche vorfand, war mir nicht klar, dass in diesem Moment eine aus sich selbst sich erzeugende Materialkette entstehen würde. Nach 62 Tagen waren sieben kleine Hunde zu je 450 Gramm entstanden. Nach weiteren 14 Tagen wogen sie bereits 800 bis 900 Gramm, zusammen sechs Kilo, und öffneten die Augen. Da blickten plötzlich 14 kleine Augen in die Welt. Augen, die in der Lage waren, zu sehen. Einfach so, aus diesem einen Küchenmoment entstanden. Dann setzte die Pelzproduktion schnell ein. Ebenso die Nagelproduktion, sieben mal zwanzig sonnenblumenkerngrosse Schildpattkrallen. Nach vier Wochen bildeten sich schneeweisse Zähnchen. Pro Hund 24, insgesamt 168 perlmuttweisse Zähne, eine kleine Elfenbeinzahnfabrik. Und alles begann mit dem einen Urknall in der Küche, mit dem absolut unbeherrschten Hundedrängen, dem keine Tür zu dick und kein Fenster zu hoch war.

„Beruhigen Sie sich“, sagte der Tierarzt, als ich ihm euphorisch die Vermehrung unserer Hunde zu schildern begann, „das ist die Natur.“

C.G. Jung ist es zu verdanken, dass der Begriff „Libido“ aus dem ausschliesslichen Verständnis rein sexueller Energie erlöst und erweitert wurde, so dass sich nicht nur das Tierreich, sondern auch die Menschen darin wiederfinden. Er sieht vom sexuellen Inhalt ab und betrachtet die Libido als allgemeine psychische Energie, die die Intensität aller, also auch der nicht sexuellen psychischen Vorgänge bestimmt, wie Lebenswille und Lebenskraft.

Freud hat mit der Erfindung der Psychoanalyse zweifellos Geniales geschaffen. Sein Libido-Begriff und die Fixierung auf rein sexuelle Inhalte lassen vermuten, dass sein persönliches Verhältnis zum anderen Geschlecht problematisch war und sein Frauenbild ziemlich schief hing. Seine Frau Martha sah er, als er noch nicht mit ihr verheiratet war, als sein Prinzesschen, das er zwar anbetete, über das er aber bestimmte, später dann, als sie seine Frau geworden war, als sich ihm Unterzuordnende, die sich ausschliesslich um sein Wohl und das der Familie zu kümmern hatte. Den Frauen, die mit ihm zusammenarbeiteten und wesentlich zur Psychoanalyse beitrugen, konnte er nicht auf einer symmetrischen Beziehungsebene begegnen, sondern wertete ihre Beiträge stets ab, um dann doch ihre Ergebnisse zu übernehmen. Von den Frauen um Freud waren einige auf ihre Väter fixiert. Sie waren es durch­ aus gewohnt, dass ihre Arbeiten denen des Vaters untergeordnet blieben. Ausser Melanie Klein, und wohl auch Lou Andrea Salome, frassen alle dem grossen Meister aus der Hand. Melanie Klein war eine eigenständige Denkerin, gründete eine eigene Schule, was Freud zweifellos missfiel. Durch die jüngste Tochter Freuds, Anna, die sich ebenfalls zur Analytikerin ausbilden liess, erhält der Begriff Libido geradezu ein gespenstisches Ausmass. Freud band seine Tochter in fast verbrecherischer Art und Weise an sich. Er bildete sie nicht nur zur Analytikerin aus, sondern übernahm auch noch ihre Analyse, was nicht nur für heutige Begriffe eine absolute Unmöglichkeit darstellte. Er hintertrieb sämtliche sich anbahnenden Beziehungen zu anderen Männern. So blieb die Tochter ihm erhalten. Anna praktizierte in eigener psychoanalytischer Praxis neben dem Therapieraum des Vaters, so war sie ihm nah, und er konnte jederzeit über sie verfügen. Als Freud wegen Kieferkrebs nicht mehr selbst öffentlich reden konnte, vertrat ihn seine Tochter. Sie pflegte ihn bis zu seinem Tod. Anna hat in ihrem Leben keine Sexualität gelebt. Woher kam aber der Grundantrieb in ihrem Leben, für ihre aussergewöhnlichen Leistungen als Forscherin, für ihren unermüdlichen Einsatz, die väterlichen Thesen zu vertreten? Der ohnehin zweifelhafte Begriff der Sublimierung, der als Abwehrmechanismus zur Bewältigung von Triebwünschen gilt, bringt keine Erklärung.

Es gibt genügend Beispiele von Menschen, die sich sexuell nicht betätigen, dabei überhaupt nichts vermissen, ein ausgesprochen zufriedenes Leben führen, mit sich einverstanden sind, aus dem Vollen schöpfen und darüber hinaus Aussergewöhnliches leisten.

Mitten in diese Gedanken mischt sich ein eigenartiges Geräusch, das zunächst nicht einzuordnen ist.

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