Fortsetzungsroman: Die Kirschen in Nachbars Garten / Teil 3

Julia Onken, 20.10.2022

Von Treue- und anderen Brüchen / Teil 3

Julia Onken
Julia Onken

Auszug aus dem Buch "Die Kirschen in Nachbars Garten", erhältlich im Bücher-Shop:

Aufbruch

Wenn alle Stricke reissen

Raina liegt im Bett, weint und ist völlig aufgelöst. Inzwischen haben sich auch die anderen Frauen bei ihr eingefunden. Wir stehen alle ratlos da. Cornelia, die mit ihr das Zimmer teilt, versucht, etwas aus ihr herauszukriegen. Es scheint hoffnungslos. Der Brief, den sie von Hubertus erhalten hat, liegt durchnässt und zerknittert neben ihr. Cornelia gibt nicht auf und redet auf sie ein, uns wenigstens zu sagen, was los sei und wie wir ihr helfen könnten. Raina schiebt kraftlos den Brief zu Cornelia, die ihn nimmt und leise vorliest, wie wenn sie zu sich selbst spräche:

„Meine liebste Raina,

ich habe mich endgültig von Wanda getrennt. Es gibt nichts, was mich noch mit ihr verbindet. Ich habe nur den einen Wunsch, wieder mit Dir zusammenzuleben. Ich will Dich und nur Dich allein.

Ich liebe Dich.

Dein Hubertus

PS: Gott sei Dank ist Ernst gestern mangels Beweisen aus der Untersuchungshaft entlassen worden.“

Ist es nicht das, wonach sich Raina jahrelang verzehrt und wofür sie unermüdlich gekämpft hat? Gut, der schnelle Kurswechsel von Hubertus ist zu hinterfragen, und dass Raina seinen Worten nicht ganz glauben will, ist verständlich. Dann aber wäre sie wohl eher verärgert und wütend, sie würde fluchend über ihn herfallen, wie sie das in der letzten Zeit oft und ausgiebig getan hat.

Ihre Reaktion ist uns unerklärlich, und während wir uns noch um sie bemühen, schläft sie erschöpft ein. Und mit dem Schlaf kehrt augenblicklich eine totale Entkrampfung bei ihr ein. Sie liegt auf dem Rücken, entspannt, mit jedem Atemzug löst sich etwas in ihr. Der Schlaf ist eine tröstende Einrichtung. Wir werden einfach ans andere Ufer gespült und gleiten in eine andere Wirklichkeit. Was uns noch Minuten vorher vor Gram erschütterte, weicht, und wir landen auf einer blumigen Wiese. Ist es der Ort, von dem wir einst aufgebrochen sind? Oder liegt die Schlafwiese lediglich in derselben Richtung, grenzt an das Herkunftsland, das sie wie eine Schutzzone umschliesst? Der Schlaf trägt uns zwar nicht ganz zum Ursprung zurück, wir wachen wieder auf, mit einem einzigen Lidschlag angelt uns das Leben zurück und schleudert uns in Raum und Zeit, ins Ackerland, in die Gesetzmässigkeiten von Säen, Pflügen, Ernten. Die Schlafzone ist kein gesicherter Ort, der uns aufnimmt und für immer schützt. Während wir durch die Schlafpforte treten, geben wir unser Bewusstsein wie eine Fahrkarte ab, das Unterbewusstsein rückt an seine Stelle und inszeniert mit Hilfe von Bildern, Symbolen, Mythen, Dämonen, Göttern und Göttinnen all die vergessenen, verdrängten, abgeschobenen und ausgegrenzten Wünsche, Ängste, Erwartungen und Geschichten.

Jener erste und letzte Ort indessen, wo wir einst aufgehoben und beheimatet waren, bleibt uns bis zum letzten Atemzug verschlossen. Nur eine vage Erinnerung begleitet uns, wir folgen intuitiv jenen fragmentarischen Konturen, die wir nicht einmal genau benennen können. Wir bleiben lebenslang mit der unsichtbaren Nabelschnur unseres Herkunftslandes verbunden, und während die einen alles unternehmen, um die Verbindung abzuschütteln, suchen andere bewusst oder unbewusst bereits zu Lebzeiten wieder den Heimweg.

Um Raina ist es ruhig geworden. Der Schlaf hat all ihre Verbitterung weggezaubert. Ein schneeverwehtes Seelenbild. Eine friedliche Frau, die da in den weissen Kissen liegt. Sie ist ausgesöhnt, einverstanden. Nirgends tritt die wahre Natur des menschlichen Wesens deutlicher zutage als im schlafenden Zustand. Wenn alle Stricke reissen, mit denen wir uns müh­ sam versuchten, an biographischen Ereignissen festzuzurren, fallen wir in unser Ursprungsland zurück. Im Schlaf eilen unsere Feen herbei, werfen jene feinen mit Silberfäden durch­ wirkten Netze und Schleier aus, um uns mit unserer Herkunft rückzubinden.

Raina wollte ihren Hubertus um jeden Preis zurückhaben. Ihre Strategien führten sie aber immer weiter von sich selbst weg, sie verstrickte sich in Hass und Hader, bis sie sich am Ende ganz abhandengekommen war. Da blieb nichts mehr übrig von jener liebenswerten Frau von einst, von der witzigen, klugen Freundin, die ich gekannt hatte.

Aus trüben Pfützen zu klaren Quellen

Für viele Menschen, vor allem im christlichen Abendland, ist es sehr schwierig, die Erinnerung an ihre Herkunft zu bewahren, überhaupt eine verlässliche Orientierung zu finden und Antwort auf die wichtigsten Fragen zu erhalten: Woher? Wohin? Wozu? Wir irren verloren durch das jahrmarkthektische Lebenslabyrinth, aus Lärmbuden hämmern rhythmische Hirnstösse: Vernetzung sämtlicher Kaffeemaschinen und Daten-Highways, Kreuz- und Quer-Datenüberfütterung, Technologieschrotthalden allerorten. Tiefgaragendschungel. Aus­ weglos. Atemlos. Zu vielen steht das Wasser bis zum Hals. Da können nur noch Kanonen Unterhaltung spenden, da bringen nur der Verdammungszenit trivialster Unterhaltung und Kadaver-Infos ein gelegentliches Kitzeln in die Herzklappen. Und mitten in diesem Gerangel ragen auf verlorenem Posten die Überreste eines verrosteten Eisengerüstes hervor, das fremd und untauglich geworden ist. Einst war es Leuchtturm für viele, die unterwegs in schicksalhaften Lebensstürmen schiffbrüchig wurden und dringend der Orientierung bedurften. Heute sind die Lichter beinahe erloschen, gelegentlich blinkt es hier und da verloren. Eine Fata Morgana: Die Rede ist von den Kirchen.

Täglich treten Menschen aus Überzeugung aus ihrer Glaubensinstitution aus. Sie verlassen das sinkende Kirchenschiff. Jeder normale Wirtschaftbetrieb würde bei solchen Anzeichen unverzüglich nach den Lecks suchen, um schnellstens Abhilfe zu schaffen. Im kirchlichen Fall aber rottet sich ein Häufchen Selbstgerechter auf der bereits schiefen Kapitänsbrücke zusammen. Sie blicken aufrecht mit prophetischer Miene, gütig, aber siegessicher, den Abtrünnigen nach, denn der Untergang ist ihnen gewiss. Es ist ein gespenstisches Schauspiel in einer verkehrten Welt. Viele, die aufbrechen, denen es ein echtes Anliegen ist, wieder in Kontakt mit jenem schöpferischen Ort zu treten, den sie als Urahnung in sich tragen, werden als glaubens- und gottlos bezeichnet.

Die christliche Lehre verhält sich zum heutigen kirchlichen Religionsedikt wie die marxistischen Lehrsätze zum praktizierten Kommunismus. Sowohl Kirche als auch die grossen kommunistischen Diktaturen liegen röchelnd in Agonie, mit vielen Infusionsschläuchen versorgt, deren Durchmesser viel zu gering ist, um lebenserhaltende Substanzen zu transportieren. Von den drei grossen Weltreligionen hat sich zweifellos der Islam am effizientesten durchgesetzt, seine Ausbreitung schreitet systematisch fort und steht bereits in den Startlöchern, um blitzschnell freigewordene Gebiete zu besetzen, zu kolonialisieren und zu besiedeln ... Der Buddhismus steht als unkriegerische und stille Kraft im Hintergrund, während die christliche Kirche allmählich auseinanderbricht.

Die Religion sollte das Verhältnis der Menschen zu seiner Herkunft und Hinkunft regeln. Dieses Bedürfnis scheint grundsätzlich im Zentrum der menschlichen Existenz zu stehen, auch bei jenen, die sich für religiöse Zusammenhänge kaum interessieren.

Unterschiedliche Religionskonzepte führten bis zum heutigen Tag zu den blutigsten und erbittertsten Kriegen. In keinem anderen Bereich findet sich ein derartig gigantisches Potential an Feindseligkeit, das gegenüber Menschen anderer Glaubenszugehörigkeit mobilisiert werden kann.

Es gab Zeiten, da war die christliche Religion in der Lage, ihren Gläubigen umfassenden Halt und eine verlässliche Orientierung für ihr diesseitiges und jenseitiges Dasein zu vermitteln. Es gibt freilich noch einige wenige Religionsangehörige, denen es gelungen ist, trotz Beschneidung, Einengung und zum Teil schwerer Verfälschung der eigentlichen Lehre Christi durch diktatorische Kirchenfürsten und -hirten, ihre innere Glaubenswelt unversehrt zu bewahren. Sie besitzen eine Orientierung in ihrem Selbst, lassen sich weder vom Chaosmanagement noch von überdurchschnittlich unbegabten „Filialleitern“ davon abhalten, ihrer inneren Kirche treu zu bleiben. Sie sind beinahe zu beneiden. Die anderen hin­ gegen, denen die Darstellung und Zelebrierung verfremdeter Inhalte und die totale Verleugnung menschlicher Bedürfnisse derart gegen den Strich gehen, dass sie sich angewidert ab­ wenden, werden täglich mehr. Sie fragen sich, welche Gedankenakrobatik sie betreiben müssten, um die kirchlichen Glaubenssätze anzuerkennen. Eine Kirche, welche die volle Entfaltung und Ausschöpfung sämtlicher Manifestationen menschlichen Lebens nicht voll unterstützt, die Frau und Mann nicht als gleichwertig anerkennt, ist kein Ort des Glaubens, sondern eine Diktatur, in der, nach den individuellen Vorlieben und neurotischen Prägungen der jeweiligen Führerfiguren, Wertsysteme aufgestellt werden. Die Kirchenfürsten hatten seit jeher ein absolut gestörtes Verhältnis zum Aspekt des Weiblichen. Entweder führten sie, von ihrem verdrängten Geschlechtstrieb in die Knie gezwungen, ein Doppelleben, oder sie verbannten von vornherein die Frau als Trägerin des Sündhaften, als des Teufels Weib, aus ihrem Blickfeld und aus allen kirchlichen Ämtern. Frauen wurden als Hexen unter Mithilfe von Kirchenobrigkeiten gefoltert, gedemütigt und verbrannt – aber nicht ohne dass man sich vorher des Verschmähten heimlich bedient hätte. Rätselhaft, dass diesen Herren nicht irgendwann der Gedanke kam, nicht die Aussenwelt für ihre verstohlene Begierde verantwortlich zu machen, sondern sich selbst unter die Lupe zu nehmen. Sie waren somit in ihrem Bewusstsein auf dem Niveau eines Drei­ jährigen, der an einen Stuhl stösst, sich dabei weh tut, gegen den Stuhl tritt und ruft: „Du böser Stuhl!“ Da scheint mir der buddhistische Mönch in der folgenden Geschichte schon sehr viel mehr von den Zusammenhängen der menschlichen Psyche zu verstehen: Zwei Mönche gehen bei Regenzeit durch ein Dorf. Die Strassen sind überschwemmt. Eine Frau versucht vergeblich, die Strasse zu überqueren. Sie fragt die Mönche, ob sie ihr helfen könnten. Ohne zu zögern nimmt sie der jüngere auf den Arm, trägt sie über die Strasse und stellt sie auf trockenem Boden ab. Der ältere rügt ihn: „Weisst du nicht, dass es einem Mönch verboten ist, eine Frau anzusehen, ganz zu schweigen davon, eine anzufassen?“ Der jüngere antwortet: „Ich habe die Frau über die Strasse getragen und sie dort wieder abgestellt, während du sie in deinen Gedanken noch immer mit dir trägst.“

Die Frauenfeindlichkeit im kirchlichen Fundamentalismus hat mit dem eigentlichen Christentum nichts zu tun. Herman Weidelener hat in einem Vortragszyklus minutiös analysiert, welches Verhältnis Jesus zur Weiblichkeit hatte. Jesus war, im Gegensatz zu seinen selbsternannten Spätnachfolgern, ein völlig unneurotischer Mann. Er hatte keinerlei Berührungsängste. Er definierte sich nicht über seine Gcschlechtlichkeit, sondern war Vertreter der Menschlichkeit – Geschlecht Nebensache. Je mehr ein Mann in seiner eigenen Geschlechtlichkeit verkettet ist und sein Triebbereich immer wieder danach drängt, die Führung zu übernehmen, um so radikaler muss er gegen das Weibliche angehen. Am effizientesten gelingt ihm das, indem er es in der festen Überzeugung ausgrenzt: aus den Augen, aus dem Sinn.

Für viele von uns –Männer und Frauen – bleiben die dringlichsten Fragen, Anliegen und Sehnsüchte auf der Strecke. Die christliche Kirche ist nicht in der Lage, sie zu beantworten. Da bleibt dem heutigen nach wahrer Religion und Rückbindung strebenden Menschen nur,sicheineneigenenTempel zu errichten. Ohne beitragspflichtige Vereinszugehörigkeit. Ohne Pauken und Trompeten oder Schnellferienkurs zur Heiligkeit mit Surfen und Meditation. Sondern imernsthaften,jahre-undjahrzehntelangenBemühen,in sich jene Quelle zu erkunden, die kristallklar im Innersten sprudelt. In eigenerVerantwortungund in aller Stille.

Von Bürgern zweier Welten

Es gibt Fragen, die sich nur bruchstückhaft beantworten lassen, wenn nicht auch nach Herkunft, Ziel und Zweck des menschlichen Daseins gefragt wird. Sämtliche Untersuchungen, welche die Bedeutung der Sexualität und damit auch der Treue und Untreue in der Partnerschaft erforschen, ohne diese Grundfragen mit einzubeziehen, können uns keine auch nur einigermassen befriedigenden Antworten liefern. Viele gehen davon aus, dass vor diesem Leben nichts war und hinterher ebenfalls nichts sein wird. Sie betrachten das gegenwärtige Leben als biologisches Zufallsprodukt, ausgelöst durch willkürliches Zusammentreffen zellularer Substanzen, die in chemischen Prozessen aufeinander reagieren, um in wahlloser Zufälligkeit als Stein, als Dinosaurier, als Hund oder Mensch daraus hervorzugehen. Die Ansicht, die Welt sei nur aus ziellosen zufälligen Eruptionen entstanden, wird durch die täglichen Informationen durch die Medien erhärtet, wie zum Beispiel das Fernsehen, das mittlerweile zu einem dominierenden „Bildungsfaktor“ geworden ist. Es demonstriert das Prinzip Ziellosigkeit und Zufälligkeit. Nur wenige Sendungen erwecken den Eindruck, ein sorgfältig durchdachtes Konzept liege ihnen zugrunde, das sich kompatibel zur menschlichen Intelligenz verhält. Die meisten Sendungen geistern in gespenstischer Windschlüpfrigkeit durchs Wohn­ zimmerherz: schrill, schnell, schrecklich. Der tägliche durchschnittliche Fernsehkonsum beträgt drei Stunden, das macht im Jahrtausend Stunden (den erhöhten Konsum an Sonn- und Feiertagen nicht eingerechnet), in zehn Jahren 10000 Stunden. In fünfzig Jahren bringen wir es auf 50 000 Stunden. Das hinterlässt Spuren. Noch müssen wir uns nicht mit den Spätfolgen beschäftigen. Im Jahr 2010 wird es soweit sein: Die ersten Menschen, die eine Fernsehzeit von mindestens 50 000 Flugstunden hinter sich haben, sind ins Seniorenalter gekommen. Der Prozess des Alterns, Reifens, des allmählichen Erkennens grösserer Zusammenhänge, des Herauskelterns von Gesetzmässigkeiten und Weisheiten des Lebens, die zu erweiterten Perspektiven führen, was sich wiederum auf die geistige Entwicklung jüngerer Menschen aus­ wirkt, wird unterbrochen, verkürzt oder gar verhindert. Wenn ein grosser Teil der Senioren sich seinen Reifungsprozess durch tägliche Fernsehbüchsennahrung beeinträchtigen lässt, werden gegen Ende des Lebens nicht gereifte Menschen mit reicher Lebenserfahrung dastehen, sondern menschliche Mülldeponien. Anstelle von Reife kindische Selbstbezogenheit, anstelle einer offenen Weitsicht ein verengter Panoramablick auf die dünne Ritze im Brett vor dem Kopf, anstelle von seelischer Dehnfähigkeit sklerotische Versteinerung und Erstarrung. Für viele beginnt das Leben erst bei Knopfdruck auf die Fernsehfernbedienung und endet wieder mit dem Ausschalten. Vorher war nichts. Hinterher ist nichts. Auch diese Erfahrung prägt.

Bei der Frage nach der Herkunft menschlichen Lebens teilt

sich das Lager. Während sich die einen auf eine rein zellular­ materialistische Weltsicht berufen, sind andere davon über­ zeugt, dass der Mensch durch das geistige Element zum Leben gelange. Dazwischen tummelt sich ein Grossangebot esoterischer und philosophischer Theorien aus Gemischtwarenhandlungen, wie sektiererischen Vereinen, spirituellen Clubs und geschlossenen Religionsgemeinschaften. Viele Suchende bleiben ohne Antwort auf der Strecke, kein Wunder bei diesem verwirrenden Überangebot. Ich bin weit davon entfernt, mich darüber lustig zu machen, sondern verstehe dieses Suchen als ernsthaften Ausdruck, sich irgendwo beheimaten zu wollen, einen vollkommenen Ort zu finden, der uns eine innere Heimat gibt.

Das zellular-mechanistisch-materialistische Menschenbild, das sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts etablierte, geistert noch in vielen modernen Köpfen herum und findet im Bekenntnis „Ich-glaube-was-ich-sehe“ Ausdruck. Herman Weidelener weist in seinen Vorträgen immer wieder darauf hin, dass selbst der eingeschworene Materialist ein unbewusstes Wissen seiner Unsterblichkeit in sich tragen müsse, andern­ falls würde er niemals in ein Auto steigen und das grosse Risiko eingehen, bei einem Unfall für immer und ewig ausgelöscht zu werden.

Zum mechanistischen Weltbild gesellt sich ganz unauffällig ein chemisches Menschenbild, das von der Medizin vertreten wird und sich einer grossen Anhängerschaft erfreut. Der Mensch wird nicht nur durch chemische Mittel steuerbar, er kann auch selbst dem Tod ein Schnippchen schlagen – wenn auch nur vorübergehend.

Jeder Versuch, den Menschen lediglich über seine Funktion, Struktur und Form zu definieren, kann letztlich das Wunder Mensch nicht erfassen. Wie etwa das zoologische Menschenbild, nach dem wir durch zufällige Mutation zum höchst entwickelten Säugetier wurden. Dieses Menschenbild wird gerne dann herbeigezogen, wenn es darum geht, zu erklären, weshalb viele nicht in der Lage sind, ihre Triebimpulse mit dem Willen zu steuern. Auch das biologische Menschenbild, wonach wir nichts als das Ergebnis unserer Erbmasse sind, ist nur dürftig. Ebenso wie das psychologische Menschenbild, das davon ausgeht, dass wir vor allem durch die Erziehung geformt werden. Aber auch das soziologische Menschenbild, das uns nur als ein gesellschaftliches Produkt politischer Einflüsse und Herkunft versteht, erfasst den Menschen nicht. Viktor E. Frankl2 spricht vom reduzierten Menschenbild, weil das Geistige als spezifisch menschliche Qualität darin vollkommen ausgeblendet ist.

Es ist interessant zu sehen, dass die unterschiedlichen Standpunkte dennoch eine gemeinsame Ausgangsposition haben. Schliesslich gehen doch alle davon aus, dass zunächst etwas Ganzes, Vollständiges vorhanden ist, entweder eine vollständige Zelle, die sich irgendwo durch die Begegnung mit einer anderen Zellsubstanz zu teilen beginnt. woraus sich Leben entwickelt, oder die Vorstellung eines vorgeburtlichen Heimatorts.

Die Freiheit des Menschen liegt nun darin, dass jeder sich seine eigene Weltanschauung zimmert, mit der er umgehen kann und die ihm in ·seiner Lebensgestaltung hilft.

Ich gehe davon aus, dass das menschliche Wesen kein Zufallsprodukt ist, sondern eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen hat. Die Existenz beginnt weder mit der Geburt, noch endet sie mit dem Tod. Wir sind Bürger und Bürgerinnen zweier Welten, sind von zweifacher Herkunft, einer biologischen und einer geistigen. Das geistige Herkunftsland, in dem sich alle möglichen menschlichen Tendenzen und Ausprägungen in einem grossen Strom zusammenfinden, so wie sich unter­ schiedliche fliessende Gewässer zu einem Fluss vereinen, ist nicht in vereinzelte Wasseradern unterteilt und abgegrenzt, sondern muss als überpersönliches Ganzes verstanden werden.

Eine einleuchtende Erklärung, weshalb sich einzelne Tendenzverbindungen aus dem Ganzen herauslösen, sich in einem Leib inkarnieren (verkörpern), lehrt der Buddhismus: Wir müssen so lange wiedergeboren werden, bis alles, was wir an negativen Gedanken, Worten und Werken in die Welt gesetzt haben, abgetragen ist. Aber nicht nur das Negative ist auszumerzen, auch das Anhaften am Schönen und Beglückenden in dieser Welt muss gelöst werden, damit man aus dem Rad der Wiedergeburt entlassen werden kann. Diese Karmalehre hilft, Handeln und Wiedergeburt in die eigene Verantwortung zu nehmen, weil alles auf einen selbst zurückgeworfen wird. Dies bedeutet, dass sogenannte Schicksalsschläge als letztlich selbst verursacht zu verstehen sind und präziser formuliert „Schaffsal“ heissen sollten. Mich haben diese Überlegungen vor allem in jungen Jahren sehr beeinflusst und mir vorwiegend geholfen, mich nicht mehr einem launischen, ungerechten und völlig unberechenbaren Gott ausgeliefert zu fühlen, von dessen Gnadenakt ich abhängig war. Ich wusste mich nun vielmehr für mein Geschick selbst verantwortlich und lernte, die Zügel meines Lebenswagens selbst in die Hand zu nehmen. Erst viel später bemerkte ich, dass ich mit meiner Gottesvorstellung dem kirchlichen Dogma auf den Leim gegangen war, das dem alttestamentarischen Gott-Choleriker entspricht und überhaupt nichts mit dem von Jesus vermittelten Bild zu tun hat.

Bei der Zeugung eines Kindes geschieht zweierlei: Einmal wird beim Zeugungsakt als körperlich-biologische Manifestation die Zellteilung in Gang gesetzt, zum anderen löst sich ein Tendenzengefüge, eine Seele oder wie immer wir es benennen wollen, aus dem Ganzen heraus und zieht in das sich bildende Körperhaus ein. Unsere geistige Herkunft, unser geistiges Erbgut hat mit den körperlichen Eltern nichts zu tun.

Für die körperliche Zeugung benötigen wir ein Elternpaar, von dem sich körperliche und auch charakterliche Wesensmerkmale vererben. Ihre Erziehungsmethode wird uns als individuelle Persönlichkeit prägen, und das soziale Umfeld wird auf uns einwirken. Im besten Fall kümmern sich die Eltern auch nach der Geburt um uns, sie sorgen für unser körperliches Wohl, nähren uns, schützen uns vor Gefahren, bringen uns die Spielregeln im sozialen Umgang mit anderen bei und führen uns allmählich ins Leben ein.

Über das Auswahlverfahren der Eltern gibt es zahlreiche Spekulationen, ebenso über den Zusammenhang zwischen Schicksalserfahrungen und Selbstverursachtem. Ich halte sämtliche möglichen Erklärungsversuche für überflüssig. Es muss wohl einen Grund dafür geben, dass der Mensch nicht in der Lage ist, Kausalketten aufzuschlüsseln. Die Eins-zu-eins­ Übersetzungen, wie sie oft betrieben werden, sind als unter­ haltender Zeitvertreib zu werten, wie etwa das Lösen von Kreuzworträtseln, oder werden gelegentlich, wie dies ein chronischer Seitenspringer machte, als lächerliche Entschuldigung eingesetzt: „Im letzten Leben lebte ich in einer anderen Kultur mit mehreren Frauen, nun habe ich mich noch nicht umgewöhnt.“ Sich karmischen Spekulationen hinzugeben, wird zu keinen ernsthaften und weiterführenden Ergebnissen führen. Sowohl in der buddhistischen als auch in der christlichen Lehre finden wir deckungsgleiche Hinweise, in denen sich unkalkulierbare Dimensionen karmischer Verflechtungen abspielen. Buddha spricht zu seinen Jüngern über die Karmawirkung und erklärt, dass die gleiche Tat, die von unterschiedlichen Menschen verübt wird, zu unterschiedlicher karmischer Wirkung gelangt. Wenn einer einen Klumpen Salz in eine kleine Tasse voll Wasser wirft, hat dies eine andere Auswirkung, als wenn er ihn im Gangesstrom versenkt. „Ebenso ( ... ) ist es mit einem, der nur ein kleines Vergehen verübt hat, und es bringt ihn zur Hölle. Und ein anderer hat eben dasselbe kleine Vergehen verübt, doch es reift noch bei Lebzeiten, und nicht einmal eine kleine Wirkung tut sich (später) kund, geschweige denn eine grosse.“ Im Neuen Testament finden wir das Beispiel von Jesus und Maria Magdalena. Als Jesus darauf aufmerksam gemacht wird, dass die Frau, mit der er sich unterhält, nicht zu den Tugendhaftesten gehört, antwortet er: >, Sie hat viel gesündigt. Und viel geliebt.“

Wenn wir uns fragen, weshalb haben wir uns gerade diese Eltern ausgesucht, schwingt nicht selten Unzufriedenheit mit. Vielleicht haben wir eine ganz andere Vorstellung davon, wie unsere Eltern sein sollten. Wir leiden an ihrer Unbeholfenheit, ihrer wirtschaftlichen Impotenz oder beklagen ein anderes Unvermögen. Jedenfalls, wir phantasieren sie uns klüger, reifer, weiser, schöner, reicher, gütiger, witziger, charmanter. Nicht selten wünschen sich Kinder, bei der Geburt in der Klinik verwechselt worden zu sein, um später herauszufinden, dass sie eigentlich höherer Abstammung seien. Sie phantasieren, wohlhabende, mächtige und gütige Eltern holten sie heim, oft geht die Phantasie noch weiter, beinahe wie im Märchen würden sie von einem König und einer Königin ins königliche Elternhaus zurückgeholt. Wenn Kinder darüber sprechen, werden diese Phantasien als kindliche Spinnerei abgetan. Wir können den Wunsch aber auch ernst nehmen und den Bildern folgen. Dann werden wir direkt in unser geistiges Herkunftsland geführt, das ein Königreich ist, mit einem königlichen Urelternpaar, jenseits von Zeit und Raum. In östlichen Kulturen wird von göttlicher Abstammung gesprochen, von Gottessöhnen und Gottestöchtern, was für viele befremdlich wirkt, obwohl auch das Christentum von Kindern Gottes spricht. Es handelt sich also um eine Urerinnerung an jenen Ort des Aufgehobenseins, in einem Ganzen und Vollständigen beheimatet und beschützt von einer umfassen­ den, königlichen Urelternschaft. Adalbert Stifter beschreibt seine Erfahrungen so: „Weit zurück in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich ... „ Die Urerinnerung an das grosse Aufgehobensein in etwas Umfassendem stiftet im Lauf eines Lebens oft Verwirrung, taucht in verschiedensten Kostümen verkleidet auf und treibt die Sehnsucht nach Beheimatung an. Das Interesse, das Familienmitglieder der Königshäuser in der Öffentlichkeit geniessen, ist nur auf dem Hintergrund unbewusster Erinnerungen zu erklären. Die Faszination, die selbst die banalsten und unbedeutendsten Geschichten auslösen, ergreift uns nur deshalb, weil archetypisches Bildmaterial Urerinnerungen an ein königliches Dasein vor der Geburt in uns abruft und belebt. Indem wir uns mit dem Klatsch über Königskinder beschäftigen, nehmen wir Fühlung mit unserer eigenen Herkunftsgeschichte auf. Die eine Geschichte spielt sich in der materiellen Wirklichkeit ab, die andere in der geistigen. Die Bilder bleiben dieselben. Früher haben Märchen diesen Part übernommen, heute sind es Märchenhochzeiten, Schicksalsverflechtungen wie aus dem Märchen, die uns mit der vergessenen Welt rückbinden.

Wir sind Bürger zweier Welten, einer materiellen und einer geistigen. Die zweifache Herkunft macht die Aufgabe der körperlichen Eltern deutlich, die durch den Akt der Zeugung in die Verantwortung geraten, sich um das Gezeugte bis zur Eigenständigkeit zu kümmern. Gleichzeitig obliegt ihnen aber auch die stellvertretende Elternschaft, die darin besteht, dafür zu sorgen, dass das geistige Erbgut zur Entfaltung kommen kann.

So macht uns die zweifache Herkunft immer wieder zu schaffen, ungeachtet dessen, ob wir sie aus der Position des Kindes oder der Eltern erleben oder im sozialen Kontakt mit anderen. Da hält ein Engländer bei einem indischen Vater um die Hand seiner Tochter an. Der Inder bittet sich zwei Wochen Bedenkzeit aus. Nach dieser Zeit kommt der Engländer und möchte die Zusage, die ihm aber der Brautvater ausschlägt. Darüber ist der Engländer sehr erstaunt und will den Grund für die Absage erfahren. Der Inder antwortet: „Es geht nicht. Ich habe es mir gründlich überlegt, aber es geht wirklich nicht. Wir stammen von Göttern ab, Sie hingegen vom Affen.“ Oft wissen wir nicht, welcher Welt wir uns mehr verpflichtet fühlen. Es scheint eine lebenslange Forderung zu bleiben, ausgespannt zwischen zwei Polen die Mitte zu finden und sich weder auf die eine noch die andere Seite zu schlagen. Oft benötigen wir heftige Krisen, Zusammenbrüche, Umbrüche, Aus- und Abbrüche, bis wir aus dem Hin- und Hergeworfenwerden herausfinden und genau an jenen Standort gelangen, wo wir alles Gegensätzliche als sinnvolle Ergänzung zu begreifen lernen.

Einbruch

Wie die sexuelle Energie die Führung übernimmt und die Sinnenwelt einengt

Raina ist auf gewacht. Sie öffnet die Augen, schliesst sie wieder, als ob sie noch einen Moment in der anderen Welt verweilen wollte. Dann aber schlüpft sie blitzschnell in die alte Rolle, und augenblicklich kehren Kummer und Gram wieder zurück. Sie springt auf. Sie will unverzüglich die Koffer packen und nach Hause fahren. Es gelingt uns, sie davon abzuhalten, da sie ziemlich durcheinander ist. Der Kurs ist ohnehin in zwei Tagen vorbei.

Plötzlich steht Hubertus vor der Tür, steppenwolfverwittert, graue Bartstoppeln mit einigen rötlichen Haarflecken durchwachsen, sein Körper hängt verloren in einer weiten Manchesterhose. Raina fällt vollends zusammen, wird ohnmächtig und hört somit nicht, was Hubertus uns berichtet:

Wanda hat einen Selbstmordversuch unternommen und liegt in der Klinik.

Nachdem Hubertus sich von ihr getrennt hatte, verweigerte sie wieder jegliche Nahrungsaufnahme. Er fühlte sich von ihr erpresst und war nicht mehr in der Lage, sie zu füttern und fürsorgend auf sie einzugehen. Es war ein letzter Appell an ihn, den er aber unbeantwortet liess. Da holte sie einen Strick und versuchte, sich in der Scheune aufzuhängen. Sie rutschte aus der Schlinge und krachte vom drei Meter hohen Balken herunter. Ernst fand sie mit mehreren Brüchen, nachdem er aus der Untersuchungshaft zurückgekehrt war.

Die Polizei sucht weiter nach dem Brandstifter von Schloss Ripsen.

An eine Fortführung unseres Kurses ist nicht mehr zu denken. Die Reiskörner hängen uns ohnehin zum Hals heraus. Die Nachricht von Wandas Selbstmordversuch reisst uns aus unserem Gewichtsdrama, das vor dieser tragischen Kulisse wie ein unwirkliches Phantom anmutet. Laura indessen will weitermachen und ist über Hubertus ziemlich verärgert, weil er einfach daherkommt und in den Kurs hereinplatzt.

Der Schock sitzt tief bei Hubertus. Er macht ihn gesprächsoffen. Er redet ununterbrochen. Den ganzen Abend bis tief in die Nacht – während Raina schläft. Er erzählt von seiner Beziehung zu Wanda. Vom plötzlichen Ergriffenwerden, damals vor vier Jahren. Aus heiterem Himmel. An einem Sonn­ tag. Sie half ihm in seinem Büro, das Jahresprogramm des Tagungszentrums einzupacken. Sie rührte ihn, weil sie so unbeholfen wirkte, so ungeschickt und zerbrechlich, mädchenhaft. Neben ihr fühlte er sich plötzlich stark wie sonst nie. Bewundert habe sie ihn, zu ihm auf geschaut, das habe ihn beflügelt. Zunächst wollte er sich nicht auf Wanda einlassen. Er kämpfte gegen den Sog an. Immer, wenn er ihr wieder begegnete, fühlte er sich wunderbar frei, vital und stark wie ein Mann. War er wieder mit Raina zusammen, sackte die Lebensfreude sofort zusammen. Es riss ihn hin und her, pendelnd zwischen Gefühlen beschwingter Heiterkeit und lähmender .Freudlosigkeit. Dann aber überkam ihn die Lust auf das Leben, ein unbändiger Wille, sich und seinem Lebens­ drang treu zu sein. Es war Neuland für ihn, ein Hirnbrand. Nur noch eins wollen, nur dieses unbekannte Land der Freiheit erforschen, erobern. Phantasien von einem blendendweissen Schneefeld. Spurenlos. Wie ein unbeschriebenes Blatt. Wandas Geschichte wollte er schreiben, sie prägen, unvergesslich werden wie Napoleon. Gleichzeitig wollte er versuchen auszusteigen. Ein letztes Hin- und Hergerissenwerden. Dann war die Falle zu. Der Zauber des Neuen liess ihn nicht mehr los.

Nicht nur bei Hubertus vermag die Begegnung mit einem anderen Menschen ein grosses Potential einer beinahe kindlichen Lebensfreude freizusetzen. Vor allem dort, wo wir früh gelernt haben, diesen Quell schöpferischer Vitalität einzudämmen oder zu unterdrücken. Wird diese ausgegrenzte Energie durch einen anderen Menschen belebt und beatmet, verfügen wir plötzlich über ungeahnte Kräfte und wachsen über unsere sonst bekannten Schranken hinaus. Wir spüren, dass in uns etwas zum Leben erwacht, das wir vorher in diesem Ausmass nicht gefühlt und gelebt haben. Das Ausmass an Wohlgefühl ist derart stark, dass es kaum durch vernunftmässige Gründe eingedämmt werden kann. Wir halten die Person, die dieses Wohlgefühl in uns auszulösen vermag, als Träger/Trägerin dieser herrlichen Kräfte, an denen wir nun endlich teilhaben. Dabei sind sie nur Auslöser dafür, dass wir jene Tür aufstossen, hinter der sich verloren Geglaubtes im Tiefschlaf befand. Das eigene Kind in sich wiederzuentdecken bedeutet, wieder aus dem Vollen zu schöpfen und aus einer reichen Sinnlichkeit die Welt zu beleben.

Als Kind schöpfen wir aus dem beinahe unerschöpflichen

Reichtum sinnlicher Erfahrungen. Wir bringen ein offenes Empfangssystem mit, das feinste Eindrücke und Schwingungen aufzunehmen in der Lage ist, ungefiltert und unzensiert erreichen uns die verschiedensten Sinneseindrücke. Die kindliche Sinnenwelt übersteigt in ihrer Vielfalt und intensiver Ausgeprägtheit diejenige der Erwachsenenwelt bei weitem. Wenn wir uns nicht mehr an die eigene Kindheit zurückerinnern, vermittelt uns die Beobachtung kleiner Kinder eine Ahnung davon, mit welcher Intensität sie erleben und sich sinnlichen Erfahrungen genüsslich hingeben können. Ein Kind gerät über den Anblick einer Blume in begeistertes Staunen und lässt den herrlichen Duft geniesserisch in sich einströmen, hört dem Gesang der Vögel entzückt zu, pult mit kleinen Fingern kaum sichtbare Reste seines Lieblingspuddings aus versteckten Windungen des Schneebesens her­ aus und leckt sie lustvoll ab, streicht wohlig verträumt über das samtene Fell eines Kätzchens. Die Erlebnisfähigkeit eines Kindes ist um ein Vielfaches grösser als die eines Erwachsenen. Die Möglichkeit des Kindes, sich der Sinnenwelt direkt auszusetzen, alle Eindrücke ungefiltert aufzunehmen, bildet zugleich auch die Kehrseite der Medaille. Kinder sind allen sinnlichen Einwirkungen ungeschützt ausgeliefert, sie verfügen nicht über die Fähigkeit, selektiv wahrzunehmen. Sowohl angenehme als auch bedrohliche Sinneseindrücke, wie etwa Gewaltszenen auf dem Bildschirm, dringen ungefiltert in das kindliche Gemüt.

Sigmund Freud ordnete die gesamte sinnliche Erlebniswelt des Kindes dem sexuellen Bereich zu und stellte die These auf, dass schon das Kind über sexuell getönte Lustempfindungen verfüge. Er unterstellte den gesamten Impulsbereich, der aus sinnlicher Wahrnehmung angekurbelt wird, dem Begriff Libido. Dies war allerdings eine überwiegend theoretische Behauptung, fehlte ihm doch selbst die Möglichkeit, die kindliche Entwicklung zu untersuchen. Seine eigenen Kinder sah er nur kurz bei Tisch, und seine Frau Martha war nicht bereit, Forschungsarbeit im Kinderzimmer zu betreiben. Später de­ legierte Freud die Arbeit und Erforschung der kindlichen Entwicklung an seine Schülerinnen, die, so Freud, für diese, Arbeit biologisch viel geeigneter seien als ein Mann. Hermine Hug Hellmuth, Melanie Klein und seine Tochter Anna belieferten ihn mit ihren Forschungsergebnissen. Da alle, ausser Melanie Klein, in Abhängigkeit zu Freud standen, ist anzunehmen, dass sie dem Meister lieferten, was ihm gefiel. Einem Kind, das Berührungen am ganzen Körper, also auch an seinen Geschlechtsteilen, als angenehm und wohl empfindet, dies als sexuelles Lusterleben auszulegen, sagt mehr über den Interpreten aus als über das Kind. Manche Menschen sehen die Welt durch die Sexbrille und deuten alles, was sich ab­ spielt, dahingehend. Weshalb aber sollte sich bei einem Kind, das freudig und mit grossem Interesse mit seinen Geschlechtsteilen spielt, nicht die gleichen angenehmen Gefühle einstellen wie beim Spielen mit seinen Händen, Füssen und Fingern? Die Erektion eines kleinen Jungen wird oft als Beweis sexueller Lust angeführt, was völlig absurd ist. Zweifellos ist die Erektion ein körperlicher Ausdruck. Weshalb aber sollte er nicht auch beim Spielen mit seinen Geschlechtsteilen lächeln können, wenn ihm sowohl in seiner Haut ist? Ein Kind schöpft aus der Fülle sinnlicher Freude, es trennt nicht zwischen genitaler und ganzheitlicher Lust.

Eine Trennung vollzieht sich klipp und klar in der Vorpubertät, da zeigt sich unmissverständlich, dass sinnliches Lust­ erleben auf zwei grundsätzlich unterschiedlichen Etagen er­ lebt wird. Durch den Einbruch sexueller Energien werden die Welten getrennt. Das heranwachsende Kind ist nicht mehr bereit, sich nackt zu zeigen und seinen ganzen Körper ungeniert den Bezugspersonen für Zärtlichkeiten zur Verfügung zu stellen. Es setzt Grenzen. Es ist die Zeit, wenn es sich im Badezimmer einschliesst und sich plötzlich sehr wählerisch in Bezug auf seine Kleidung verhält. Diese Signale beachten nicht alle Eltern als Ausdruck dafür, dass sich der/die Pubertierende abgrenzen will, um den Intimbereich nach aussen zu schützen. Dieses Verhalten wird gelegentlich als läppische Prüderie abgetan, besonders wenn die Eltern als möglichst fortschrittlich, freizügig und offen gelten wollen. Meist kapitulieren Eltern vor der grossen und ernsten Kampfbereitschaft Jugendlicher, ihre Anliegen zu verteidigen, abgesehen von jenen Fällen, wo es zu sexuellen Übergriffen kommt. Die Schaffung eines geschützten Intimbereichs zeigt geradezu bildhaft, dass es diesen Bereich vorher in dieser Form noch gar nicht geben konnte, da die genitale Sexualität als Thema noch nicht existierte. Wozu soll ein zweijähriges, vierjähriges oder siebenjähriges Kind sexuell angeregt sein? Die Möglichkeit, sich sexuell zu betätigen, ist nicht vorhanden. Die körperliche Ausrüstung zur Ausübung ist noch nicht funktionsbereit. Wozu soll also Freude und Wohlsein als sexuelles Lustempfinden umgedeutet werden? Es ist ein theoretisches Konzept, das sich mit nichts belegen lässt.

Mit dem Einbruch sexueller Energien kann beobachtet werden, wie sich Interessen verlagern. Nicht mehr der Anblick einer Blume bringt Begeisterung, Vogelgesang wird eher als störend empfunden, den versteckten Puddingresten im Schneebesen schenkt man kaum Beachtung, und das seidige Katzenfell vermag nicht mehr das einstige Wohlgefühl auszulösen. Die sexuelle Energie drängt sich vehement in den Vordergrund, die anderen sinnlichen Möglichkeiten werden zurückgedrängt oder aber als Verstärkung sexuellen Erlebens eingesetzt. Das breite Spektrum der Sinnlichkeit verengt und konzentriert sich vorwiegend auf das Gebiet der Sexualität. Da wir Bürger zweier Welten sind, hat die Funktion der Sexualität auch eine zweifache Bedeutung, einmal für die zweckdienliche Arterhaltung, zum anderen als Antriebsmotor, sich immer wieder auf den Weg zu machen und dem Sehnen und Suchen nach der verlorenen Heimat nachzugehen. Die meisten Menschen projizieren die Urheimat auf einen Partner, er wird zum Stellvertreter. Bei ihm, bei ihr fühlen wir uns geborgen, finden ein Zuhause. Viele erleben bei einer Trennung das beinahe unerträgliche Gefühl, heimatlos geworden zu sein. Dies ist zweifellos ein Grund, weshalb wir oft länger in unzumutbaren Beziehungen ausharren.

Junge Menschen werden von der Natur mit vielfältigsten Reizen ausgestattet, damit sie möglichst anziehend wirken. Das Gesicht eines jungen Menschen blüht, sein Gang ist auf­ recht und unternehmungslustig, die üppige Haarpracht von Leben durchdrungen, selbst das freiwillig kahlgeschorene Haupt eines Jugendlichen pulsiert dem Leben entgegen und ist m1t der entkräfteten Glatze eines alten Mannes nicht zu vergleichen. Zudem hilft der junge Mensch diesem Impuls nach, indem er alles daran setzt, für das Geschlecht, dem sein Begehren gilt, so attraktiv wie möglich zu erscheinen. Hier führt die Biologie das Zepter. Beinahe unerbittlich peitscht es die jungen Menschen hinaus auf die freie Wildbahn. Dieses Spiel, das zweifellos von einem sexuellen Motor angetrieben wird, sollte jedoch nicht ausschliesslich als Ziel zur Ausübung sexueller Aktivitäten verstanden werden, was ja oft von Erwachsenen missverstanden wird. Für viele ist es ein Vorspiel, ähnlich dem Balztreiben in der Brunftzeit im Tierreich. Es ist die Ouvertüre zur grossen Oper.

Ich spreche ganz bewusst vom Einbruch der sexuellen Energien, da ich es als das Hereinbrechen einer Triebenergie in ein bisher harmloses und friedliches Sinnerleben werte. Was vor­ her noch möglich war, wird hinterher nicht mehr möglich sein. Von jenem Moment an, da sich sexuelle Triebkräfte melden, wird rezeptives Aufnehmen von Eindrücken gebrochen, und in den Vordergrund drängt sich forderndes, oft unerbittliches Begehren und Wollen, das, wie wir wissen, schwer zu steuern ist.

Die sexuelle Begierde zwingt den breiten Strom sinnlicher Freuden in ein schmales Flussbett, wo die Energie der gesamten Sinnlichkeit sturzflutartig alles niederreisst, was nicht niet- und nagelfest ist. Diese gewaltige Kraft ist oft grösser als jene, die an Willensaufwand entgegengesetzt werden kann. Dabei können erhebliche Verwüstungen und Schäden entstehen.

Auch Hubertus versuchte, durchaus seinem Drang etwas entgegenzusetzen. Die Sturzflut seiner befreiten Gefühle war indes viel stärker als die Willenskraft seiner Vernunft, die er zu mobilisieren vermochte.

Wer kennt nicht den Kampf zwischen der Vernunft und einer Eigendynamik, die Handeln und Verhaltensweisen gegen den eigenen Willen entwickeln. Hubertus traf nicht nach reiflicher Überlegung die Entscheidung, sich in eine Beziehung mit Wanda einzulassen. Es geschah ihm. Viele Menschen, die in eine neue Partnerschaft oder eine Aussenbeziehung hineintrudeln, geben eher das Bild eines steuerlosen Schiffs ab. Die Leidenschaft, die kaum mit logischen Erklärungen erfasst werden kann, packt sie, wirft und schleudert sie im stürmischen Meer hin und her. Auch das Ende einer Affäre gleicht oft eher einer Naturkatastrophe und wirft die Beteiligten wie Schiffbrüchige umher. Hubertus hatte es unerwartet aus der Beziehung zu Wanda ins offene Meer hinausgeschleudert, er kämpfte gegen die tosende Flut, griff nach dem erst­ besten Rettungsanker und klammerte sich an ein anderes Schiff ohne Steuer, das bereits in gefährlicher Schieflage im Wasser trieb.

Raina wacht allmählich auf. Sie ist am Durchdrehen. Und niemand kann sie verstehen. Je mehr Hubertus auf sie einredet, umso schlimmer wird es.

Fast gleichzeitig bricht nun auch Laura aus ihrer konservativen Disziplin aus. Obwohl sie von uns eiserne Telefonabstinenz fordert, erreicht sie ein Anruf einer Freundin, die sie aufklärt: Lauras Mann geht fremd. Eine schnelle Empörung. Ein böser Blick. Es folgen strategische Überlegungen. Dann handelt sie. Zuerst telefoniert sie herum, um herauszufinden, wer die Geliebte ist, was sie arbeitet, wie sie aussieht und vor allem, was sie figürlich zu bieten hat. Sie erfährt, dass die Kontrahentin es in puncto Schlankheit nicht mit ihr aufnehmen kann. Da lächelt sie siegessicher. Nachdem sie alle übrigen Daten auch noch zusammengetragen hat, weicht ihre Zuversicht, und sie ist an der Weiterführung des Kurses nicht mehr interessiert. Sie packt ihre Sachen, gibt letzte Anweisungen, wie das Haus geputzt werden muss, und eilt zum Tatort.

Hubertus reist mit der sich sträubenden Raina ebenfalls ab, er will mit ihr einen Psychiater aufsuchen. So bleiben noch Sophia, Claudia und ich – als Putzequipe. Wir bleiben noch eine Nacht, dann reisen auch wir ab. Sophia hat 800 Gramm abgenommen, Claudia 400. Und ich habe 200 Gramm zugenommen. Alles hat seinen Preis. Vor allem die Dummheit scheint unerbittlich ihren Tribut zu fordern.

Inzwischen ist es beinahe Sommer geworden. Zu heiss für diese Jahreszeit, und es soll noch heisser werden. Felix empfängt mich freudig, die Hunde scheinen sich noch mehr als er über meine Rückkehr zu freuen. Ihre Begrüssung hinterlässt Spuren auf meiner Kleidung.

Die Fremdgeh-Umfrage liegt ausgewertet auf meinem Schreibtisch. Daneben eine gelbe Rose.

Von den Folgen der Verdrängung

Noch bevor ich mich am nächsten Tag hinter die Ergebnisse meiner Fremdgeh-Auswertung machen kann, erfahre ich von Antonia per Fax-Mitteilung, dass sich Raina nicht in der Klapsmühle, sondern in Untersuchungshaft befindet: Verdacht auf Brandstiftung. Und dann habe ich nur noch eine einzige Möglichkeit, nicht unentwegt daran denken zu müssen und mich wie eine Maus in der Falle zu fühlen: Ich vergrabe mich in meiner Arbeit. Antonia wird sich um Raina kümmern. Es gibt für mich also diesbezüglich nichts zu tun. Ich zwinge mich, nicht nach ihr zu fragen, was mir nicht leicht fällt. Gelegentlich schleichen sich dennoch Bilder von ihr ein, und ich muss alles daran setzen, mich nicht noch mal auf die Reise' zu machen.

Gott sei Dank sind die Ergebnisse meiner Umfrage interessant genug und halten mich für die nächsten Wochen auf Trab. Ich bemühe mich, an nichts anderes zu denken als an meine Arbeit, unterstützt von Felix, der unermüdlich mit mir die Auswertungen diskutiert und interpretiert.

Interessant ist die Feststellung, dass 74 Prozent der befragten Frauen und 76 Prozent der Männer, die fremdgehen, nicht etwa eine bewusste Entscheidung für den Seitensprung fällen, sondern es dem Zufall überlassen, ob sich eine Aussenbeziehung oder eine kurze oder auch länger andauernde Affäre entwickelt. Lediglich 9 Prozent Frauen und 17 Prozent Männer helfen etwas nach, um Bekanntschaften zu machen.

Ich mache hier keinen Unterschied zwischen langjähriger Liaison und kurzem Einwegflaschen-Intermezzo. Nach meinen Recherchen besteht für die Fremdgängerinnen kein Unterschied, was die Entscheidung für ein aushäusiges Techtelmechtel betrifft. Viele wollen lediglich eine kleine Zwischenverpflegung, einen· schnellen One-Night-Stand, und sind, noch bevor sie wieder in die Unterhose gestiegen sind, in eine länger andauernde Geschichte hineingesegelt.

Monika wollte nur rasch an der heimlichen Lust naschen und dann wieder als zuverlässige, fürsorgende Gemahlin an der Seite des Familienoberhauptes ihren Mutterpflichten nachkommen und den Hausfrauenjob verrichten. Das erste Mal mit Richard zog sogleich ein zweites Treffen nach sich. Und dann weitere Male. Bald konnte sie sich ein Leben ohne Richard nicht mehr vorstellen. Drei Jahre Affäre. Gewissens­ bisse. Drei Jahre heimliches Verschwinden. Versuche auszusteigen. Geschichten erfinden. Innerlich hin- und hergerissen werden. Dem Ehemann Sand in die Augen streuen. Die Kinder beschäftigen. Auch als Richard längst nicht mehr wollte und sich bereits heftigst in eine andere Frau verliebt hatte, wollte sie nicht von ihm lassen. Obwohl sie bei ihrem Mann blieb, träumte sie weiterhin sehnsüchtig vom verflossenen Liebhaber, bis sie schliesslich eines Tages wieder einen neuen Richard fand.

Auch Hans wollte nichts weiter als ein kurzes Abenteuer. Er hatte längst die Fünfzig überschritten und wurde als treusorgender Ehemann und dreifacher Vater geschätzt. Da packte ihn die Lust beim Schopf. Auf einem zweitägigen Betriebsausflug spazierte er nachts durch den Park und stiess auf eines der jungen Mädchen, die als Babysitter die Kinder der Ange­ stellten hüteten. Sie habe älter als 17 ausgesehen, so Hans. Kaum drei Worte habe er mit ihr gesprochen. Da sei es über ihn gekommen, wie schon lange nicht mehr in den langen Ehejahren. Weshalb sollte er sich nicht wenigstens einmal ein kurzes Vergnügen erlauben, er, der sonst immer pflichtbewusst und über alle Massen treu war, fragte er sich. Kurzes Ringen im Kopf und im Gewissen. Schon lag das Mädchen im Gras, öffnete einladend seine Schenkel, Hans folgte instinktiv seinem Drang, 'der ihn zwingend und überraschend schnell zum Ziel führte. Er habe es kaum richtig geniessen können, es sei beinahe ohne ihn geschehen. Am nächsten Morgen hatte er die Sache schon wieder aus seinem Hirn gelöscht. Aber nach einigen Wochen kam die Vorankündigung einer hohen Rechnung, zu bezahlen in monatlichen Raten auf zwanzig Jahre hinaus.

Obwohl wir ja diese einander bekämpfenden Kräfte aus eigenem Erleben kennen, sind wir in unserem Urteil über andere, denen die Vernunft unter die Räder gekommen ist, nicht sehr grosszügig. Im Gegenteil. In der Beurteilung eigener Schwächen und Ausrutscher sind wir eher nachsichtig und lassen uns einiges an entschuldigenden Erklärungen einfallen.

Sitzen wir selbst in der Klemme, hat es uns irgendwie erwischt, sind wir sofort bereit, die gegensätzlichen Kräfte und divergierenden Mächte in der menschlichen Psyche vielfach zu bedenken und dafür verantwortlich zu machen. Betrifft es hingegen andere, fordern wir oft unerbittlich, Verstand und Wille sollten die Führung übernehmen. In der Beurteilung von Fremdgängerlnnen fallen oft Vorwürfe wie Verantwortungslosigkeit, elender Egoismus, hemmungsloser Konsum sexueller Lüste und vieles andere mehr. Wenn es um Sexualität geht, scheint eine virtuose Verdrängungsarbeit am Werk zu sein. Die Vehemenz, mit der selbst heute, trotz allgemeiner sexueller Freizügigkeit, Seitenspringerlnnen verurteilt werden, lässt eher Rückschlüsse auf den Verurteilen­ den als auf die Verurteilten zu. Hat man das Vergnügen, hinter die Kulissen zu blicken, so jemanden persönlich kennenzulernen, zeigt sich ungeschminkt das Auseinanderklaffen zwischen der Bewertung anderer und der eigenen Lebensführung. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass, wer sich für dieses Thema emotional und sehr kämpferisch engagiert, einen persönlichen Hintergrund haben muss. Wird ein Kampf vehement oder unter Einsatz der gesamten Kraft geführt, lässt sich daraus schliessen, dass es sich um einen zweifach geleisteten Einsatz handelt. Einmal gegen die tatsächlich vorhandenen Gegner., zum anderen gegen eigene Fremdgeh-Sympathien, die unterdrückt und ausgesperrt irgendwo hinter einer Kellertüre herumpoltern und verlangen, endlich freigelassen zu werden. Diejenigen, die sich gelegentlich einen Sprung in fremde Betten genehmigen., dies hinter­ her blitzschnell vergessen und so tun, als ob nichts geschehen sei, benötigen eine gehörige Portion Energie, um die Gefahr erfolgreich zu verdrängen. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es zweifellos höchst interessant, das Leben unerbittlicher Abtreibungsgegner zu untersuchen, die sich nach aussen hin durchaus als treusorgende Familienväter zeigen. Wenn zwei von drei Männern fremdgehen, müssten sich, rein statistisch gesehen, spannende Ergebnisse zeigen. Nach altem Klischee gelten besonders Frauen als klatsch- und intrigenfreudig. Wenn es aber darum geht, „la gloire“ des Mannes aufrechtzuerhalten, ihn in seiner Selbst-Herr-lichkeit zu bestätigen, ist die Frau bereit, über seine grossen Fehler, Schwächen und Unzulänglichkeiten hinwegzusehen und ihn nach aussen zu schützen. Welche Frau würde öffentlich erzählen, dass sie als Geliebte eines angesehenen Politikers und entschiedenen Abtreibungsgegners auf sein Drängen hin einmal oder mehrere Male abgetrieben hat? Frauen schweigen und wirken dadurch am Mythos Mann mit: mächtig, stark, unfehlbar, mutig, gerecht und zuverlässig. Vielen Frauen liegt es näher, unermüdlich daran mitzuwirken, dass das Bild des Mannes rein bleibt, als es unter die Lupe zu nehmen, während sie ständig auf die Fehler – mögen sie noch so gering sein – ihrer Geschlechtsgenossinnen hinweisen. Solche Frauen dulden grundsätzlich keine Kritik am Mann. Sie sind noch immer auf die untadelige Unfehlbarkeit ihres Gott-Vaters fixiert und setzen alles daran, die Vater-Statue aus der Perspektive eines gutgläubigen, naiven und abhängigen Kindes zu betrachten. Solange wir Frauen nicht in der Lage sind, unsere Väter kritisch zu hinterfragen und die fehlerhaften Seiten aufzudecken, kann es uns nicht gelingen, unsere eigenen Fähigkeiten richtig einzuschätzen und sie gezielt in eigenes Handeln umzusetzen. Solange wir unserem Frauenarzt noch immer aus der Hand fressen, wie kleine, artige Mädchen kritik- und gedankenlos seine Anweisungen befolgen und mit unübersehbarem Glanz in den Augen erzählen, welche Medikamente er uns verschrieben hat, werden wir niemals die uns zustehende halbe Welt zurückfordern können. Wir bleiben Teil eines grossen Verdrängungsprozesses, der noch immer darauf abzielt, die Frau aus der Mitbestimmung in Wirtschaft, Politik und Kultur auszugrenzen.

Ebenso folgenschwer zeigt sich der kollektive Verdrängungsmechanismus, wenn es um die Beurteilung von Sexualstraftätern geht. In der Extremsituation von Straftaten wird vieles noch deutlicher als im normalen Leben. Sexualstraftäter sind verabscheuungswürdige Unmenschen, in dieser Meinung finden sich viele wieder. Damit grenzen sie sich ganz entschieden gegen diese „ Ungeheuer“ ab und wollen nichts mit ihnen zu tun haben. Diese Haltung ist deshalb verhängnisvoll, weil sie es unmöglich macht, präzise Analysen über die Entstehung solcher Verhaltensweisen zu gewinnen. Ganz zu schweigen davon, Möglichkeiten zu erforschen, wie künftige Verbrechen zu verhindern sind. Ein Mensch, der sich sexuell an einem anderen vergangen hat, folgte – wenn auch nur kurzfristig – anderen Impulsen als denen, die von seiner Vernunft als richtig erkannt werden. Kein Sexualstraftäter plant sein Verbrechen strategisch und nüchtern am Schreib­ tisch! Kein Sexualstraftäter bewertet nach der Tat sein Verbrechen als etwas, das durchaus in Ordnung ist und leider nur von dieser Gesellschaft nicht akzeptiert wird, es sei denn, es fehlt ihm jegliches Rechtsempfinden, was in den seltensten Fällen vorkommt.

Auch scheint es offenbar immer mehr Männer zu geben, die Sexualität mit Kindern, Jungen und Mädchen suchen. Jedes Jahr jetten etwa 300 000 deutsche Männer und 50 000 Schweizer nach Thailand, in das Lieblingsland der Sextouristen.6 Nach Recherchen der Sozialwissenschaftlerin Andrea Rothe sind die Sextouristen keineswegs alt, fett, hässlich, kontaktgestört und pervers, sondern rekrutieren sich aus einer ausgesprochen heterogenen Gruppe, Durchschnittsalter 35 bis 37 Jahre, wovon viele in ihren Heimatländern in festen Beziehungen leben oder verheiratet sind. Rothes Fazit: Die Vorstellung der Sextouristen, Sexualität mit einer thailändischen Prostituierten sei besonders leidenschaftlich, trifft nicht zu, die meisten Männer erlebten sie gar als langweilig bis abstossend. Dennoch werden die Erlebnisse aus der zeitlichen Distanz heraus idealisiert, was zu einem neuen Sexurlaub führt.

Viele stehen besorgt vor einer derartigen Entwicklung. Vorbeugung ist gefragt. Wo aber beginnen, wenn die Hinter­ gründe unklar sind? Haben diese Herren eventuell den typischen Webfehler im Hirn, wie viele Frauen ihn bei allen Männern ohnehin vermuten, oder zeigt sich durch dieses Verhalten etwas, das ernst zu nehmen ist? Bis jetzt haben sämtliche Versuche, diese Entwicklung zu verhindern, nichts gebracht.

Ebenso ratlos stehen wir da, wenn es um die Verurteilung und Bestrafung von Sexualtätern geht. Der Schrei nach längeren Haftstrafen wird laut, nach chemischer Kastration, nach lebenslanger Verwahrung. Fordern solches Angehörige von Betroffenen, ist dies verständlich. Angesichts des grossen Lei­ des, das durch sexuellen Missbrauch die Opfer selbst oder bei Tötung eines Kindes die Familien zu tragen haben, ist der Ruf nach exemplarischen Strafen durchaus nachvollziehbar. Werden hingegen solche Forderungen von Politikern und Politikerinnen vertreten, muss ernsthaft Eignung und politisches Verantwortungsbewusstsein dieser Personen in Frage gestellt werden, zeugt ihr Verhalten doch davon, dass sie von psychischen Gesetzmässigkeiten keine Ahnung haben. Die Forderung nach längeren Strafen ist eine Milchmädchen­ oder, besser gesagt, eine Zeitungsjungenrechnung. Wenn ein Straftäter nicht nach vier, sondern nach sieben Jahren entlassen wird, bedeutet dies lediglich, dass er nicht nach vier, sondern mit einer Garantie von 83 Prozent erst nach sieben Jahren rückfällig wird. Politiker vergessen oft, dass nach ihrer Legislaturperiode die Welt weiter existiert. Es geht also nicht nur darum, mögliche Opfer vorübergehend zu schützen, um sie hinterher dem Schicksal zu überlassen. Ebenso blicken diejenigen in die falsche Richtung, die aufgrund ihres chemischen Menschenbildes über eine chemische Kastration eine Lösung sehen. Damit würde lediglich die geschlechtliche Funktion beeinträchtigt, während das aggressive Potential ungebrochen erhalten bliebe. Auch der Ruf nach lebenslanger Verwahrung führt in eine Sackgasse oder zurück in das vergangene Jahrhundert, wo Verbrecher und Geisteskranke an Ketten gefesselt in Kerkern „lebten“. Einführung der Todesstrafe? Ist das die Bankrotterklärung der modernen Intelligenz? Wir sind zwar in der Lage, hochkomplizierte unsichtbare elektronische Botschaften durch die Luft zu jagen, schrecken nicht vor kompliziertesten Operationen und Berechnungen aller Art zurück, nur vor der menschlichen Psyche kapitulieren wir, weil wir vorgeben, keine Ahnung von psychischen Gesetzen zu haben. Weshalb ist es so schwer, das Phänomen sexueller Straftaten zu erforschen? Die Gründe, weshalb viel zuwenig Forschung auf diesem Gebiet stattfindet, können nicht in der unendlichen Komplexität der menschlichen Psyche und den daraus resultierenden Verhaltensweisen liegen. Es liegt ganz einfach am Thema Sexualität. Die meisten Menschen kennen den Triebimpuls, der sich gegen alle Vernunft durchzusetzen vermag und diktatorisch die Richtung weist, aus eigener Erfahrung. Und viele kennen den völlig unkontrollierten Triebimpuls, auf jeden Fall alle, die sich sexuell aushäusig verpflegen, alle Fremdgeher, -springer, -schleicher, ob männlichen oder weiblichen Geschlechts.

Das eigene Tun bringt uns in die Nähe derer, mit denen wir nichts zu tun haben wollen. Wir grenzen uns entschieden von ihnen ab – allen voran die politische Klasse, die Forschungsgelder auftreiben sollte –, und deshalb müssen alle Versuche scheitern, sich mit dem Thema Therapie und Sexualstrafdelikt zielgerichtet und wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Zwischen einem Sexualstraftäter und demjenigen, der seinen sexuellen Impulsen und Wünschen ohne vernunftmässige Abwägung und freie Entscheidungsmöglichkeit folgt, besteht letztlich nur ein gradueller Unterschied. Während beim einen sein gesamtes Sicherungssystem zusammenbricht und es zu Handlungen gegen Leib und Leben eines Dritten kommt, verfügt der andere noch über einige Alarmlampen, die ihm

Grenzen setzen.

Ein Zusammenbruch oder ein grundsätzliches Fehlen solcher Sicherungsmassnahmen wurde stets als entweder vorübergehend krankhafter Ausnahmezustand oder als manifeste psychische Krankheit bewertet. Diese Krankheit muss genauso ernsthaft wie Krebs, Aids und andere Krankheiten erforscht werden.

Meine persönlichen Recherchen, die ich im Laufe meiner über zehnjährigen Tätigkeit als Psychotherapeutin mit Straftätern gemacht habe, gehen dahin, dass es keine Zufallsdelikte gibt. Delikte sind immer als verschlüsselte Aussagen des Täters zu verstehen, die ihm meist selbst völlig unbekannt sind. Wir haben es in der Regel mit der bildhaften Darstellung des Unterbewussten zu tun, Komplexen, traumatischen Erlebnissen, die sich in dieser Form zu Wort melden. Die meisten Täter sind keine Wortmenschen; auch wenn sie gut reden können, sind sie oft nicht in der Lage, sich und ihre innere Welt mit Worten zu erfassen, geschweige denn zu erforschen. Das bedeutet, dass vieles niemals ins Bewusstsein zu dringen vermag, unterschwellig rumort und, wenn der Druck gross genug ist, sich einen Ausweg über die szenische Darstellung einer kriminellen Handlung sucht. Der Sexualtäter, ob als einer, der eine Tat verübt hat, oder als einer, der sich einfach via Kinderpornovideo sexuell stimuliert, versucht seine sexuelle Lust mit Hilfe eines Kindes zu steigern oder überhaupt erst zu erzeugen. Dies bedeutet, dass seine eigene sexuelle Sinnlichkeit auf ein derart unbefriedigendes Mass an Lust zusammengeschrumpft ist, dass kaum noch von Genuss gesprochen werden kann. Die Möglichkeit, den aussersexuellen, sinnlichen Bereich als zusätzliche Unterstützung sexueller Lust zu erfahren, ist völlig verlorengegangen. So sucht er die weite Bandbreite sinnlicher Lust bei Kindern. Die fatale Hoffnung, über den sexuellen Kontakt zu einem Kind selbst wie­ der aus dem vollen schöpfen zu können, sich sinnlichem Entzücken wieder hinzugeben, ist neben anderen Motiven ein wichtiger Grund, der erwachsene Männer dazu treibt, Sexualität mit einem Kind erleben zu wollen. Es ist die Suche nach dem verlorenen Kind in sich, nach der Möglichkeit, den Reichtum der Sinnenwelt in der kindlichen Intensität zu erleben. Die Lebensgeschichte von Sexualtätern zeigt oft eine äusserst karge Kindheit, in der die kindliche Seele schweren Verletzungen und Kränkungen ausgesetzt war, die sie sprachlos werden liess und ihre Gefühlswahrnehmung betäubte.

Das alles mag verdächtig nach Entschuldigung klingen, hat damit aber überhaupt nichts zu tun. Wenn wir den Mechanismus, der zu solchen Verbrechen geführt hat, nicht entschlüsseln, werden wir niemals eine Möglichkeit finden, Abhilfe zu schaffen, um mit allen Mitteln zu verhindern, dass es noch mehr Opfer gehen wird. Den Beweggründen nachgehen heisst nicht, die Tat verharmlosen und via Verständnis den Täter zu entschuldigen. Je besser es uns gelingt, psychodynamische Mechanismen aufzuschlüsseln, umso grösser ist die Chance, geeignete und immer dringender werdende Präventivmass­ nahmen zu erarbeiten. Dies aber ist nur möglich, wenn wir auch wagen, zuerst in die eigene Seele und in die dort herrschenden Verhältnisse einen genauen Blick zu werfen. Wer sein eigenes Sumpfgebiet bewusst durchwatet hat, wer sich durch eigene Verwachsungen hindurchgearbeitet hat, wird irgendwann zu jener befreienden Tür vorstossen, die den Ausblick auf die menschliche Existenz freigibt, und sich freudig Goethes Worten anschliessen: „Nichts Menschliches ist mir fremd.“ Und damit ist der Weg frei, die Hintergründe gezielt zu erforschen, die zu solchen ungeheuerlichen sexuellen Gewalttaten, vor allem gegen Kinder, führen. Es müsste alles, aber wirklich alles unternommen werden, um unsere Kinder davor zu schützen! Wenn wir in uns selbst keine klare Sicht haben, werden wir auch nicht in der Lage sein, die psychischen Defekte eines Sexualstraftäters zu erforschen, sondern werden stets durch eine trübe Brille blicken.

Wie ernst es uns ist mit dem Anliegen, Kinder vor Sexualstraftätern zu schützen, zeigt sich darin, wie ehrlich wir eigene Triebimpulse beobachten und analysieren können. Je mehr Einblick wir in psychische Zusammenhänge bekommen, umso eher wird es uns gelingen, auf abartige Entwicklungen therapeutisch einzuwirken.

Wer nicht bereit ist, in die Tiefen seiner eigenen Seele hinunterzusteigen, die hintersten Nischen auszuleuchten, wird weder sich selbst noch andere verstehen können.

Vom Zusammenhang zwischen Sexualität, Fremdgehen und Schuld

Die Rose auf meinem Schreibtisch lässt den Kopf hängen. Obwohl ich ihr jeden Tag frisches Wasser gebe, will sie sich nicht mehr aufrichten. Ein müdes Samtblatt liegt schwerelos auf der Glasplatte meines Schreibtisches.

Mitten in meine Überlegungen hinein meldet sich das Fax­ gerät: Raina hat bereits ein Geständnis abgelegt. „Jawohl“, hat sie gesagt, es hinterher nochmals ausdrücklich bekräftigt und ihre Aussage unterschrieben: „ Ich habe die Kapelle angezündet. Ich habe den Gedanken nicht mehr ertragen können, dass sich mein Mann dort mit seiner Geliebten trifft.“

Viele Menschen, die den Begriff „Schuld“ eigentlich ablehnen, sprechen ohne weiteres von „unschuldigen“ Kindern. Die „unschuldigen“ Kinder schleichen durch die Hintertüre ins Vokabular eines kritischen Menschen, unbemerkt von der bewussten Zensur. Irgendwann, in hitzigen Diskussionen, springt der Begriff aus dem Versteck und entlarvt ausgerechnet jene unbewussten moralischen Massstäbe, von denen der Kritische sich ausdrücklich distanziert hat. Was aber führt dazu, dass wir ohne weiteres einem Kind das Prädikat der „Unschuld“ zugestehen? Obwohl die meisten das Ausüben von Sexualität nicht als etwas „Schuldiges“ ansehen, wird der erste sexuelle Verkehr mit einem Partner, einer Partnerin der verlorenen „Unschuld“ gleichgesetzt. Worin besteht denn die Schuld? Bedeutet sexuelles Lustempfinden schuldig werden? An wem? Es scheint ein heimliches sprachliches Einverständnis in der Bewertung, ein Bindeglied zwischen Sexualität und Schuld zu geben, auch wenn unser Bewusstsein dies ablehnt. Kinder, die den Eltern auf der Seele herumhämmern, weil sie unbedingt ein Eis essen oder ein neues Fahrrad haben wollen, sind in keiner Weise mit Männern oder Frauen zu vergleichen, die von sexuellem Begehren gepackt sind und nur noch vom einen und einzigen Wunsch getrieben werden, sich möglichst schnell mit dem Objekt ihrer Begierde geschlechtlich zu vereinen. Während das wünschende Kind durchaus in der Lage ist, mit einer Verweigerung, einer Ablehnung seines Wunsches zurechtzukommen und – wenn auch mit grösstem Unwillen – Gegenargumente anzunehmen und sich zu fügen, ist der sexuell begierige Mensch für Gegenargumente kaum oder überhaupt nicht zu haben, sein ganzes Wollen ist erigiert. Fremdgänger und -gängerinnen riskieren nicht selten Kopf und Kragen, wenn sie der aushäusigen Lust nachjagen. Dass dabei die ganze Familienstruktur in die Luft gesprengt werden kann, wird im Moment des sexuellen Begehrens nicht mit ins Kalkül gezogen, wie ja überhaupt sämtliche vernunftmässigen Überlegungen einfach wegfallen. Denkfähigkeit, die Möglichkeit, das Handeln abzuwägen, sowie die Entscheidungsfreiheit sind ausgeklickt. Die Kommandozentrale hat sich vom Haupt in den Schritt verlagert, die Führung ist unterleibszentriert. Und dabei gerät das Wohlergehen anderer Familienmitglieder, wie des Ehepartners, der Ehepartnerin und der Kinder, unter die Räder. Das Wohl der ganzen Familie ist vergessen. Dadurch entsteht für den Fremdgänger, die Fremdgängerin eine äusserst problematische Situation, und er/sie wird sich, wenn auch mit zeitlicher Verzögerung, schuldig fühlen. Nicht aber etwa, weil die Treue zum Ehepartner/ zur Ehepartnerin gebrochen wird. In meiner Fremdgeh-Umfrage fühlen sich 53 Prozent der Fremdspringerinnen und 46 Prozent der Fremdspringer mit ihrem Tun und Handeln total einverstanden, lediglich 7 Prozent der Frauen und 10 Prozent der Männer möchten aushäusige Sexualkontakte zukünftig vermeiden und ihr Verhalten ändern. 36 Prozent der Frauen fühlen sich hinterher energiegeladen und gut, 34,5 Prozent der Männer zufrieden wie nach einem guten Essen, während sich nur 15 Prozent Frauen und 12 Prozent Männer nach einem aushäusigen sexuellen Verkehr nicht gut fühlen, was eventuell mit nagenden Schuldgefühlen zusammenhängen könnte. Für den grössten Teil aber bezieht sich ein etwaiges Unbehagen einmal darauf, dass alle anderen verbindlichen Lebensbereiche aus dem Blickfeld in die Feme gerückt oder völlig aus dem Bewusstsein ausgeblendet worden sind und auf nichts und niemand Rücksicht genommen wird. Schuldig aber im eigentlichen Sinne werden wir vor allem uns selbst gegenüber. Vom Augenblick an, wo wir verleugnen, dass wir Bürger zweier Welten sind und uns unter die alleinige Herrschaft der Triebwelt stellen, werden wir schuldig. Ein tiefer Bruch zwischen unserer geistigen und körperlichen Herkunft zeigt sich. Wie dies ja auch bei jenen Menschen der Fall ist, die sich ausschliesslich auf die geistige Herkunft berufen, den sexuellen Triebbereich ausklammern und damit den ergänzenden Pol ausgrenzen. Jede ausschliessliche Fixierung auf den einen Pol zieht die Verleugnung des anderen Pols nach sich. Die menschliche Existenz ist aber zwischen beiden Polen ausgespannt, und es scheint eine der schwierigsten Aufgaben zu sein, die Balance zu halten, um nicht der zweifachen Herkunft untreu zu werden, einen der beiden Pole zu verleugnen und dadurch grundsätzlich an der Schöpfung schuldig zu werden.

Glücklicherweise hat alles seine Zeit. Mit Beginn der Pubertät drängt sich vor allem die Triebkraft der Sexualität mit grosser Vehemenz in den Vordergrund und übernimmt die Führung.

Wie das Beispiel von Raina, Hubertus und Wanda illustriert, gerieten beide Familiensysteme durch das Verhältnis Wanda/Hubertus ins Wanken. Aber weder \Vanda noch Hubertus verhielt sich verantwortungslos oder war etwa nicht zurechnungsfähig. Beiden lag, trotz allem, das Weiterbestehen ihrer Familie am Herzen, und sie dachten nicht daran, sich scheiden zu lassen. Auch wenn das Interesse am eigenen Ehepartner, der eigenen Ehepartnerin beinahe erloschen war, so wurde er/sie dennoch in seiner/ihrer Funktion benötigt, um das familiäre System zu komplettieren und aufrechtzuerhalten. Als individuelle Person hatten sie beinahe ausgespielt, als Träger einer Rolle im Theaterstück „Familie“ wurden sie jedoch dringend benötigt, denn kein anderer, keine andere kennt den Text dieser Rolle besser und weiss über den täglichen Handlungsablauf besser Bescheid. Deshalb kommen sich Partnerinnen von Fremdgängerinnen oft missbraucht vor, reduziert auf ihre Funktion in der Familie oder, noch schlimmer, auf ein Requisit. Hubertus legte stets grössten Wert darauf, dass sich die gesamte Familie am Sonntag zum Frühstück versammelte. Als Raina einmal vergass, die speziellen Frischbackbrötchen fürs Familienfrühstück zu besorgen, gab es den grössten Krach, und er warf ihr grobe Vernachlässigung vor. Von aussen gesehen scheint Hubertus' Reaktion völlig übertrieben zu sein, aus seiner Sicht hingegen ist sie verständlich. Für ihn war die Familie, trotz seiner Beziehung zu Wanda, Heimat geblieben. Die Frischbackbrötchen sind als Ritual zu verstehen, das heimatliche Gefühle hervorruft. Fehlen die Brötchen, will sich das Heimatgefühl nicht ein­ stellen. Da Raina für die Besorgung der Brötchen zuständig war, fiel die Schuld ihr zu. Auch Wanda legte grössten Wert darauf, dass die Familie nach aussen weiterhin so funktionierte wie bisher. Obwohl sie an Ernst als Ehemann kein grosses Interesse mehr zeigte, war es ihr wichtig, dass sie ihren Hochzeitstag festlich feierten. Als Ernst in Anbetracht der Ereignisse und vor allem Wandas fortschreitender Schwangerschaft wegen davon Abstand nehmen wollte, machte sie ihm die grössten Vorwürfe.

Viele Seitenspringerlnnen erachten es von ihren Partnerinnen als Pflicht, die offizielle Rolle weiterhin klaglos und perfekt zu spielen. Heimatlicher Boden will nicht so schnell auf­ gegeben werden.

Da gibt es für Aussenstehende viel zu rätseln. Es gibt wenige Paare, die sich beim ersten Auftauchen von Problemen schnell und ohne grössere Komplikationen trennen, unbegreiflich für Freunde und Bekannte, dass nicht grössere Anstrengungen für die Erhaltung der Beziehung unternommen wurden. Andere hingegen bleiben, ebenfalls zur Verwunderung aller, als ein Paar zusammen und treten als solches nach aussen hin in Erscheinung, obwohl er oder sie über Jahre eine Liebesbeziehung zu einer anderen Person unterhält. Oft wer­ den die Kinder als Grund für das Zusammenbleiben angeführt, obwohl sie entweder längst ausgezogen oder gerade im Begriff sind, es zu tun. Da wird an einem Vorstellungsbild festgehalten, dass es in der phantasierten Wunschform bereits nicht mehr gibt.

Wer diese Verhaltensweisen verstehen will, bleibt mit seiner Logik auf der Strecke. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich erst dann auf, wenn der Bogen über den Einzelfall hinaus gespannt und nach kollektiven Grundbedürfnissen geforscht wird, die sich nicht nach logischen Gesichtspunkten regeln lassen.

Von der Erinnerung an das Ursprungsland und der statthalterischen Funktion des Partners/der Partnerin

Wir bringen eine wenn auch verblasste Ahnung einer Urbeheimatung mit ins Leben. Beheimatung als Ursprung, als Aufgehobensein in etwas Vollständigem, Intaktem, Ganzem. Ob wir dies für ein Ereignis halten, in dem es sich lediglich um einen systematischen Vorgang der Zellteilung handelt, oder wir uns ein Bild über einen geographischen vorgeburtlichen Ort vorstellen, ist unbedeutend. Der Ausgangspunkt ist immer das Ganze, Vollkommene. Diese „Erinnerung“ läuft als Sehnsucht wie ein roter Faden durch sämtliche Lebensphasen, konstelliert sich immer wieder neu und zeigt sich in unterschiedlichen Signaturen.

Durch die Zeugung wird der einstige Ort des Aufgehobenseins aufgebrochen und verlassen, an Stelle des Ursprungsortes übernimmt die Gebärmutter während der Dauer der Schwangerschaft die Funktion, den Fötus zu versorgen und zu beherbergen. Er ist Teil des mütterlichen Organismus und etwas vollkommen Ganzes und Vollständiges. Nach der Geburt wird das Thema „Beheimatung“ nochmals in der symbiotischen Beziehung Mutter-Kind wiederholt. Nach der symbiotischen Phase wächst das Kind allmählich in weitere familiäre Bezüge hinein, der Beziehungsradius erweitert sich, immer aber ist es ein vollständiges, ganzes System, in dem das Kind lebt und sich aufgehoben fühlt. Selbstverständlich erleben Kinder Einelternfamilien oder auch andere Lebensgemeinschaften als ein ganzes und intaktes Gefüge. Die Vorstellung, die in manchen konservativen Köpfen herumgeistert, das Gefühl einer vollständigen Familie sei nur dann gegeben und könne vom Kind als solches erlebt werden, wenn alle Rollen traditionell besetzt seien, ist falsch. Diese verhängnisvolle Meinung hat bei vielen Frauen dazu geführt, dass sie Ehen aufrechterhielten, die für alle Beteiligten absolut unzumutbar waren – ganz besonders aber für die Kinder. Gerade Kinder haben eine ausgeprägte Fähigkeit, alles, was als Mangel erlebt wird, imaginär zu ergänzen. Zudem sollten wir uns überlegen, warum wir Kindern eine Familie erhalten wollen, die lediglich als eine freudlose Interessengemeinschaft wie etwa eine Aktiengesellschaft oder eine GmbH (Gesellschaft mit beschränkter Haftung!) betrieben wird. Ein nicht vorhandener Vater wird sich auf die Entwicklung der Kinder sehr viel günstiger auswirken als einer, der zwar körperlich anwesend ist, emotional aber abwesend. Vielen Söhnen wird ein absolut untaugliches Männerbild vorgelebt. Sie lernen von ihren Vätern, die ihnen als Vorbild dienen sollten, dass Männer emotional nicht ansprechbar und zu bewegen sind. Sie werden es ihnen gleichtun und ebenfalls in der wohlbekannten seelischen Impotenz landen. Töchter lernen mit dem Vater ihren ersten Dialog mit dem anderen Geschlecht. Ein seelisch nicht präsenter Vater lässt die Tochter ohne Resonanz, sie kann sich an ihm nicht orientieren. Diese Erfahrung nimmt sie in ihr späteres Leben mit, sie wird ihre Partnerbeziehungen entscheidend prägen.10 Mit einer solchen typisch weiblichen Vorgeschichte ist die Falle bereits zugeschnappt. Solche Frauen werden sich immer mit dem Phantomschmerz Vater herumschlagen, jagen ausgerechnet jenen seelisch im­ potenten Männern hinterher.1 die ihnen wiederum emotional nicht antworten. Zudem werden sie, sobald irgendein männliches Wesen aufkreuzt.1 unter mangelndem Selbstbewusstsein und fehlendem Selbstvertrauen leiden. Wen wundert's. Früh übt sich.

Die anfängliche Lebensgemeinschaft, wie sie auch immer aussehen mag, wird vom Kind als vollständiges System wahr­ genommen. Fehlendes, das als Mangel erlebt wird, wird dabei durch die Phantasie ergänzt. Allmählich dehnt sich das als familiäres System Erlebte auf weitere Personen aus, auf Verwandte und Freunde des Hauses. Mit dem Eintritt in Kindergarten und Schule werden die Grenzen auf Spielgefährtlnnen und SchulfreundInnen weiter ausgedehnt.

Mit dem Einbruch der sexuellen Energie wird das familiäre System gesprengt. Der junge Mensch drängt energisch hinaus, und nichts kann ihn zurückhalten. Er befindet sich einige Jahre lang in einem Zustand, in dem er weder völlig abgelöst seinen eigenen Weg suchen noch im heimatlichen Gefüge verharren kann. Es ist die Zeit, da kein Stein auf dem anderen liegenbleibt. In vielen Familien kehrt eine Unruhe ein, die mit nichts zu bekämpfen ist, und oft genug kapitulieren die Eltern vor der unbändigen Kraft der jugendlichen Eigenwilligkeit. Der junge Mensch wird nicht eher ruhen, bis er sich aus dem familiären System herausgelöst hat, ausgenommen jene Bedauernswerten, ehe von ihren mit Schuldgefühl operierenden Eltern nicht für ein eigenes Leben freigegeben werden. Die anderen aber machen sich aus dem Staub, lernen fliegen, nehmen die Zügel ihres Lebens selbst in die Hand, lösen sich aus dem Familiensystem heraus, um sich irgendwann als etwas Eigenes, aber doch letztlich wieder Unvollständiges, als angeknabberte Hälfte zu erleben. Bevor der junge Mensch die neue Freiheit richtig geniessen kann, holt ihn die Urerinnerung an sein heimatliches Herkunftsland wieder ein. Die sexuelle Energie kurbelt das Suchen und Sehen nach der anderen, der ergänzenden Hälfte an, und er gibt nicht auf, bis er sie gefunden hat und sich mit ihr ergänzen und vervollständigen kann. Dann klingen die heimatlichen Glocken, und das uralte Gefühl, wieder komplett und ganz zu sein, hält Einzug. So übernimmt der Partner lediglich eine stellvertretende Funktion, er steht in Statthalterschaft, spielt eine Ersatzrolle, mit deren Hilfe die Rückbindung an den Ursprung wieder gefunden wird.

Haben wir uns mit einem Partner heimatlich eingerichtet, wird das Zusammenleben und die Gemeinschaft stets mit dem Heimatgefühl gleichgesetzt. Die äusseren Umstände können noch so misslich sei, es gibt fast nichts, was zur Aufgabe und zum Verzicht der Heimat motivieren könnte – es sei denn, ein neues heimatliches Gefilde lockt oder liegt bereits zu unseren Füssen. Die innere Zerreissprobe, in die Menschen hineingeraten können, die oft nicht mehr ein noch aus wissen, wenn sie sich zwischen einer alten und einer neuen Heimat entscheiden sollen, ist nur vor diesem Hintergrund richtig einzuschätzen. Stellen sich bei einer aushäusigen Liebschaft keine heimatlichen Gefühle ein, sondern vor allem andere Aspekte wie sinnliche Vitalisierung, so ist durchaus zu verstehen, wenn die alte partnerschaftliche Heimat – wenn auch freudlos – aufrechterhalten und um nichts in der Welt aufgegeben wird.

Meist dauert es ein ganzes Leben lang, bis wir den inneren Umbruch vollziehen und begreifen können, dass der Partner lediglich eine statthalterische Funktion ausübt und nicht die eigentliche Heimat ist. Wir tun uns schwer damit. Und es liegt uns oft näher.1 die Aufgabe der Beheimatung auf den Partner/ die Partnerin zu übertragen, als diese innere Arbeit selbst zu leisten. Es ist um einiges einfacher, den Partner hoffnungslos zu überfordern, als die uns vom Leben zugedachte Herausforderung selbst anzunehmen.

Die sexuelle Energie schiebt sich wie zufällig als treibende Kraft in das menschliche Leben. Sie aber ist es, die uns sehnend aufbrechen lässt, die uns zu Suchenden macht. Sie führt uns immer wieder zum Du, zur Stellvertretung der grösseren Heimat.

Sexualität kann auch als die dunkle Seite der Religiosität verstanden werden, als Antriebskraft, um die Rückbindung zum Herkunftsland wieder zu erlangen. Vielleicht liegt ein tiefer Zusammenhang zwischen dem Zerbröseln religiöser Werte einerseits und dem gespenstischen Aufblasen sexueller Praktiken andererseits. Wem es nicht gelingen will, sich durch Besinnung auf den Herkunftsort rückzubinden, der wird wohl alles daran setzen, wenigstens körperlich das Gefühl zu erleben, endlich angekommen zu sein. Die Sexualität als Lückenbüsserin ist inzwischen unsäglich strapaziert. Die Fokussierung auf Sexualität hat indes nicht wenigen den Appetit beinahe restlos verdorben, und es bleibt das Suchen nach zusätzlichem Anreiz zur sexuellen Stimulierung. Die Flut pornographischer Erzeugnisse demonstriert eindrücklich, dass immer mehr Menschen eine solche Unterstützung benötigen. Die mannigfaltigen Angebote der Pornographiebranche mit ihren Raffinessen muten wie Reiseprospekte an. Wenn es uns nicht mehr gelingt, uns durch ein Gefühl tiefen Vertrauens in der schöpferischen Intelligenz gehalten zu fühlen, uns in einem grösseren Zusammenhang aufgehoben zu wissen, dann versuchen wir, den Weg zurück über die Sexualität zu finden – notfalls mit etwas Nachhilfe. Man kann sich über diese Auswüchse lustig machen, sich weit davon distanzieren und alles als abartig und des Menschen unwürdig bezeichnen. Ich persönlich ziehe es vor, jeden Ausdruck menschlichen Handelns, gerade dann, wenn er in Extreme auszuarten scheint, auf seinen tieferen Sinn zu untersuchen.

Die verbissene Jagd nach sexueller Lust, die ·in orgiastischen Gefühlen gipfelt, beweist die grosse Sehnsucht nach ozeanischem Einswerden im Sinnlichen, im Erleben des Orgasmus. Ein körperlicher Höhepunkt dauert ein paar Atemzüge, mehr nicht, und die Sehnsucht nach Verschmelzen mit dem anderen endet, bevor wir uns richtig in den ersehnten Genuss einfinden und vertiefen können.

Von Mystikern erfahren wir, wie es ihnen gelungen ist, sich ohne die Einschaltung eines Sexualpartners in ein ozeanisches Gefühl des Einssein mit der göttlichen Energie einzufinden:

„O Wunder über Wunder, wenn ich an die Vereinigung denke, die die Seele mit Gott hat: Er macht die Seele freudewonnig aus sich selber fliessen, und alle nennbaren Dinge genügen ihr nicht mehr. Ja, sie genügt auch sich selbst nicht.

Der göttliche Liebesquell strömt auf sie über und reisst sie aus sich selber hinüber in ihren ersten Ursprung, der Gott alleine ist. In ihm kommt die Seele zu ihrer höchsten Vollendung.“ Der Sexualität fällt eine wichtige Funktion zu. Sie schickt uns auf die Reise, aber nicht, um lebenslang an Ort und Stelle zu verharren, sondern um sie als Fahrzeug zu nutzen, das uns in das Herkunftsland zurückbringt. Herman Weidelener überträgt die sexuelle Entwicklung auf das Bild einer Bergbesteigung. Am Fuss des Berges befindet sich die Erosenergie, wir nehmen Anlauf, setzen den Motor in Gang, indem wir den Anlasser drücken und Liebe machen. Der Liebesschwung trägt uns höher hinauf in das Mittelfeld, wo bereits eine verfeinerte Liebesenergie, die Philia, zu finden ist, die sich im freundschaftlichen Besorgtsein um den anderen äussert, im Wohlwollen für andere. Und diese Energie spendet uns die Kraft für den letzten Aufstieg auf den Gipfel, wo eine allumfassende Liebe, die Agape, wohnt. Diese Liebe schliesst nichts und niemanden aus, sondern verströmt sich auf alle. Agape hat also nichts mit Sexualität zu tun, mit geschlechtlicher Vorzugsliebe, mit der eine/r unter vielen ausgewählt wird. Dieser Entwicklungsprozess ist nicht als ein linearer Verlauf zu verstehen, sondern eher als eine rhythmische Auf- und Abbewegung. Gerade dieses Bild macht deutlich, wie sehr die Anerkennung aller Bereiche eine Holle spielt. Wie können wir jemals den Gipfel erklimmen, wenn wir niemals am Fuss des Berges gewandert sind! Alles gehört zusammen. Jede Ausgrenzung führt in eine Sackgasse. Ebenso muss der Versuch scheitern, einen a11gemeingültigen Fahrplan zu erstellen, wo­ nach alles in Altersphasen geregelt und eingeteilt ist. Es gibt Menschen, die auch im fortgesetzten Alter immer wieder zum Fuss des Berges absteigen wollen, um erneut Schwung für den Aufstieg zu holen. Die Beurteilung, was richtig ist, kann nur jede/r ganz persönlich vornehmen. Nur, meine ich, dass ein mit allen Mitteln erzwungenes Festhalten am Fuss des Berges, das mit einem körperlichen Fitnessprogramm erwirtschaftet wird, nicht Sinn der menschlichen Entwicklung sein kann.

Vom Unfug, gegen den Strom zu schwimmen

Nicht nur Veränderungen des äusseren Erscheinungsbildes, sondern auch körperliches Unvermögen sowie Beweglichkeitseinbussen gehen mit dem Alterungsprozess einher. Die Möglichkeit, andere mit äusseren Reizen sexuell zu stimulieren, geht nach der Lebensmitte (38 Jahre!) allmählich zurück.

Dennoch bemühen sich sowohl Frauen als auch Männer in zunehmendem Mass, gerade die sexuelle Attraktivität um je­ den Preis zu konservieren oder gar in den Vordergrund zu stellen. Dies erzeugt jene abschreckenden Bilder, wo ältere Menschen (mehrheitlich Frauen), nicht zu ihrem wahren Alter stehen, es verheimlichen, mogeln, peinlich herumschäkern und womöglich noch andere dazu auffordern, ihr Alter zu erraten. Dies ist eine Selbstentwürdigung höchsten Grades, hier wollen Menschen in vergangenen Lebensphasen verharren, verweigern Wachstum, Veränderung und Entwicklung. An die Stelle von Reife, Weitsicht und Weisheit tritt sklerotische, engherzige Trotteligkeit. Wir wollen nicht sichtbar älter werden und scheuen weder Zeit, Kosten, noch freiwillige operative Torturen, um die Spuren des Älterwerdens zu eliminieren. Es ist ein Kampf gegen die Zeit, der bereits verloren ist, bevor er begonnen hat, eine bedenkliche Art, sich selbst und seiner Bestimmung untreu zu werden, um nicht vom Strom der Vergänglichkeit erfasst zu werden, der uns in Neues hineinträgt. In diesem krampfhaften Festhalten verpulvert die gesamte Energie, und es ist nicht verwunderlich, wenn dabei das Leben immer ärmer und einsamer wird. Es gibt nichts Trostloseres, als sich mit einer 70jährigen ausschliesslich über ihre neueste Frisur, über Kosmetik und Kleider zu unterhalten oder mit einem Mann dieser Altersklasse Gespräche über seine neuesten Errungenschaften in Sachen Liebe und Sex und seine tolle Fitness und körperliche Leistungsfähigkeit zu führen. Mich beschleicht dabei jedesmal das ungute Gefühl, um das Wichtigste betrogen zu werden. Wer bereits sieben Jahrzehnte auf dieser Welt verbracht hat, könnte weit mehr zu bieten haben als Beiträge über Kosmetik, Mode und Fitnessprogramme. Wer wollte nicht am Reichtum der Erfahrung eines alten Menschen teilnehmen! Wer wollte nicht Zeuge davon sein, wenn Reife und Weisheit aus einem langen Leben resultieren und sich Gesetzmässigkeiten zeigen! So gealterte Menschen müssten sich nicht über Einsamkeit beklagen, sondern hätten alle Hände voll zu tun und könnten nur mit Mühe noch Zeit fürs· Alleinsein finden.

Sich dem Gesetz des Älterwerdens zu widersetzen, hat langfristig schwerwiegende Folgen: Vereinsamung, Verbitterung und Zurückfallen auf die Stufe eines fordernden, unvernünftigen, trotzenden Kindes. Wer in dieser Weise altert, ist mit einem Baum vergleichbar, der sich weigert, Früchte zu tragen, und sich gleichzeitig darüber beklagt, dass ihn niemand der schönen Früchte wegen bewundert.

Alles hat seine Zeit. Und die Signaturen sind unübersehbar. Für uns Frauen sind die „Wechseljahre“ eine grosse Orientierungshilfe. Die körperlichen und psychischen Zeichen zu entschlüsseln und ihre Aussage zu verstehen bedeutet, klare Hinweise für die Weiterentwicklung zu erhalten: Die körperliche Fruchtbarkeit ist beendet und wird auf der geistigen Ebene fortgeführt. Es ist eine Übergangszeit, die uns von der Zentrierung auf die Fortpflanzung und somit auf das Geschlechtliche in einen grösseren und vor allem freien Raum der geistigen Entfaltung hinüberführt. Das allgemein Menschliche tritt in den Vordergrund und überlagert die Polarisierung auf der Geschlechtszugehörigkeit. C. G. Jung weist mit seinem Anima/Animus- Konzept darauf hin, dass Individuation die Erschliessung der inneren Gegengeschlechtlichkeit meint. Entsprechend der menschlichen Biologie, wo die hormonelle Situation das Vorhandensein von männlichen und weiblichen Hormonen dokumentiert, ist auch in der Psyche jedes Mannes Weibliches, in derjenigen der Frau Männliches vorhanden.

Älterwerden ist darauf angelegt, sich selbst zu ergänzen und damit innerlich reicher, weiser und weiter zu werden. Wenn wir uns diesem natürlichen Prozess widersetzen, uns stets auf frühere Lebensphasen fixieren, ist die Entfaltung des zu erschliessenden Potentials nicht möglich. Die Kunst des Älterwerdens besteht darin, loszulassen, nicht um ärmer zu werden, sondern um neue Bereiche zu erschliess n. Sinnliches Erleben wird nicht eingeengt, sondern verlagert. Ist hingegen die Vorstellung sinnlicher Freude ausschliesslich mit sexuellem Erleben gekoppelt, werden sich früher oder später trotz eifrigem Fitnesstraining Misserfolge einstellen. Wer auch beim Älterwerden den gesamten sinnlichen Bereich nur auf den schmalen Ausschnitt sexueller Aktivität reduziert, wird zwangsläufig mit jedem Jährchen eine deutliche Einbusse und die Schmälerung sinnlicher Lust erleben. Deshalb ist es jetzt wichtig, sich die einstige Bandbreite sinnlicher Vergnügen, die nicht an Sexualität gekoppelt sind, zurückzuerobern. Es gibt immer wieder ältere Menschen, die uns dies vorleben, und wenn wir ihnen aufmerksam zuhören, können wir etwas von jener weitgefächerten Erlebensfreude der Kindheit wiederfinden, jene breite Sinnlichkeit, frei von sexueller Bindung. Für Paare, die schon länger zusammenleben, ergibt sich oft eine neue Art von Intimität, die sich sehr viel stärker auf seelische und geistige Bereiche verlagert. Da kann das gemeinsame Erleben eines Spaziergangs zum Ausdruck tiefer, seelischer Übereinstimmung werden, das gemeinsame Lauschen in die Stille einer schlaflosen Nacht zum Gefühl von ganz besonders tiefer Vertrautheit. Diese Nähe und Intimität breitet sich auf andere Bereiche aus und vermittelt ein Gefühl inniger Verbundenheit. Übrigens lässt sich diese Art von Intimität auch bereits bei Paaren entdecken. die noch mitten im Leben stehen, ja sich sogar noch vor der Lebensmitte befinden. Sie haben wenig Bedürfnis nach Sexualität und geniessen einfach das Zusammensein mit dem Partner/der Partnerin. Gelegentlich werden solche Paare durch Berichte in den Medien verunsichert, die dahin zielen, den Gradmesser einer gut funktionierenden Partnerschaft in der sexuellen Frequenz zu sehen. Demnach sollten 20-30jährige mindestens zwei bis drei Mal pro Woche Sex haben, 30-40jährige mindestens ein bis zwei Mal wöchentlich, ab 40, um sich möglichst fit zu halten, mindestens einmal wöchentlich, um dies dann hinauf bis ins hohe Rentenalter beizubehalten. Obwohl derartige Angaben mit der Realität nichts zu tun haben und in der Praxis ganz andere Vorstellungen und Meinungen anzutreffen sind, findet sich leider auch bei einigen Paartherapeuten und -therapeutinnen diese Sichtweise. Sie fragen nach der Häufigkeit gemeinsamer geschlechtlicher Aktivität und stellen eine entsprechende Diagnose. Diese Fragestellung ist aber grundsätzlich falsch und sollte dahingehend geändert werden., dass nach dem Erleben von Intimität und Nähe gefragt wird, ob in seelischer, geistiger, körperlicher oder ganz einfach alltäglicher häuslicher Art. Und die Gewichtung sollte den Paaren überlassen werden. So gibt es Paare, die fühlen sich mit der Verlagerung sexueller Intimität auf seelische Bereiche rundum wohl, erfahren darin eine Vertiefung ihrer Beziehung, während andere oder lediglich einer/eine der beiden einen Mangel erleben. In meiner Fremdgeh-Umfrage geben 7 Prozent Männer und 9 Prozent Frauen die geschwisterliche Vertrautheit als Grund an, ausserhalb der Partnerschaft sexuellen Kontakt zu einer anderen Person zu suchen. Die Bedeutung der Sexualität verändert sich für die meisten in den verschiedenen Lebensphasen. In der Altersgruppe 21-27 Jahre wird die Bedeutung am höchsten eingestuft, 42 Prozent bei den Frauen, 62 Prozent bei den Männern. Mit zunehmendem Alter sinkt die Bedeutung. Bei den 49-55jährigen sind es noch 12 Prozent bei den Frauen, 15 Prozent bei den Männern, bei den 56-62jährigen 6 Prozent beziehungsweise 8 Prozent, und bei den älteren Jahrgängen sind es noch 2 Prozent beziehungsweise5 Prozent. Hier wird deutlich, wie wichtig es ist, dass sich in der Partnerschaft im Laufe der Zeit neben der Sexualität auch noch andere Beziehungsqualitäten wie Freundschaft, Wohlwollen und Güte entwickeln, um allmählich die sexuelle Vorherrschaft abzulösen. Damit wir im Alter aus der Fülle zwischenmenschlicher Beziehungsmöglichkeiten schöpfen können.

Intimität und das damit einhergehende sinnliche Wohlgefühl hat viele Facetten. Ein 57jähriger Geschäftsmann, der seiner vielen Affären wegen von seinen Partnerinnen stets verlassen wurde, erzählte mir anlässlich eines Interviews über das Fremdgehen, wie sich sein Leben allmählich zu verändern beginne: „Noch vor wenigen Jahren jagte ich jeder sich bietenden Möglichkeit von Sexualität mit einer Frau hinterher. Nun stelle ich fest, dass sich beim Anblick meines Hauses, das da so wunderschön in der Abendsonne steht und aus dessen Kamin der Rauch zum Himmel steigt, eine beinahe unbändige, fast kindliche Freude einstellt. Und wenn ich die Haustür öffne und mir der Duft von frischem Brot in die Nase steigt, könnte ich jubeln vor Glück, so wie damals, wenn ich als Kind vom langen Schulweg nach Hause kam und das Essen auf dem Tisch dampfte.“

Mit dem Älterwerden reifen wir in jene Bereiche zurück, die wir einst aufgeben mussten, um die Welt, das Du, zu erforschen. Im Älterwerden rücken Anfang und Ende näher zusammen. „Wenn wir nicht wieder werden wie die Kinder..."

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