Fortsetzungsroman: Die Kirschen in Nachbars Garten / Teil 4

Julia Onken, 17.11.2022

Von Treue- und anderen Brüchen / Teil 4

Julia Onken
Julia Onken

Auszug aus dem Buch "Die Kirschen in Nachbars Garten", erhältlich im Bücher-Shop:

Ausbruch

Von sieben guten Gründen zum Fremdgehen

Fremdgehen, untreu sein, wird gelegentlich mit Sünde gleichgesetzt. Es ist ein Unterschied, ob vom Fremdgehen oder von Treue- und Ehebruch die Rede ist. Während mit fremdgehen, In-die-Fremde-Gehen durchaus etwas Aktives, Unternehmerisches, beinahe spielerisch Neugieriges verbunden werden kann, haftet dem Begriff Treuebruch bereits ein schweres Vergehen an. Spätestens in der Wortwahl zeigt sich eine Beurteilung, und selbstverständlich kommt darüber hinaus das Menschheitsbild samt Lebensphilosophie zum Ausdruck.

In der Wahl des Begriffs fremdgehen rückt der Aspekt des Selbsthandelns und der Selbstverantwortung in den Vordergrund, schliesslich geht jeder, der fremdgeht, selbst dorthin. Zudem steht die Selbstverantwortung im Zentrum. Im Wort selbst findet sich keine Bewertung. Hingegen sitzt bereits im Begriff des Treuebruchs ein Werturteil. Treue gilt in unserer Kultur als hoher ethischer Wert, die zu brechen unehrenhaft ist. Diese Bezeichnung stellt die menschliche Integrität in den Vordergrund und impliziert Werte wie Gehorsam, dem unter allen Umständen Folge geleistet werden muss. Sich fraglos einer Instanz zu unterwerfen knüpft an alttestamentarische Vorstellungen an. Demnach ist der Mensch grundsätzlich ein Monster, das möglichst in der Erziehung (nach den Methoden der „Schwarzen Pädagogik“ hart an die Kandare genommen werden muss, damit seine Triebe nicht auswuchern und entarten. Bei Ungehorsam folgen unerbittlich härteste Strafen. Kontrolle und Züchtigung stehen an oberster Stelle, weit davon entfernt, dem Menschen Selbstverantwortung und Selbstbestimmung einzuräumen und ihm einen Verstand zuzubilligen, der durchaus funktioniert, der aber auch gelegentlich durch die Dynamik der Triebimpulse aus dem Takt geworfen werden kann. Alttestamentarierinnen zeichnen sich im Urteil gegen andere als besonders hart und unerbittlich aus, während der Balken im eigenen Auge grosszügig übersehen wird.

Der Vorgang des Fremdgehens wird in verschiedenen Sprachbildern zum Ausdruck gebracht, die einen verharmlosen, andere verschlimmern die Fakten. So heisst „Seitensprung“ ja nichts weiter, als eben mal kurz zur Seite zu springen, und impliziert, hinterher wird wieder auf dem Hauptpfad weitergeschritten. Die Formulierung „nichts anbrennen lassen“ verhindert gar, dass das Kochgut verkohlt, oder lässt Assoziationen an die rettende Feuerwehr aufsteigen.

Die Franzosen gehen noch einen Schritt weiter in der Verharmlosung: „voir a côte“, was so viel heisst wie sich „etwas umsehen“, wie man sich etwa in einer Landschaft umschaut oder in einem Kaufhaus.

Die in der Schweiz häufig anzutreffende Redewendung „unter oder über dem Hag durchfressen“ besagt, hier handelt es sich nicht um das Hauptmenü, sondern es wird nur genascht, genestelt und gezupft, ist also nicht ganz und gar unstatthaft und verboten. Es rückt – wie auch die Phrase „die Kirschen in Nachbars Garten pflücken“ sehr nahe zum „Mundraub“, der in bestimmten Regionen wiederum nicht ausdrücklich als ein Vergehen gewertet wird. Andere Ausdrucksweisen wie jagen, Beute erlegen oder wildern verweisen auf eine Jägersprache (Jägerlatein) und verraten ebenfalls das zugrundeliegende zoologisch-biologische Menschenbild. Der Vergleich mit dem Tierreich ist nicht zufällig. Hier stand der Affe zweifellos Pate. Konsequenterweise müsste die Bewertung derjenigen, die ständig einem Objekt ihres Begehrens nachjagen, entsprechend nachsichtig ausfallen und ihnen grosszügig ein Jagdschein ausgestellt werden. Wie auch immer wir den Tatbestand einer aushäusigen Liebschaft oder sexuellen Kontaktnahme benennen wollen, kann das, was als ausschlaggebende Kraft dahintersteht, erst dann verstanden werden, wenn wir bereit sind, auf Bewertung oder gar Verurteilung zu verzichten. Wer begriffen hat, dass der Mensch die Spannung zwischen beiden Seiten seiner zweifachen Herkunft herzustellen hat, ohne sich ausschliesslich auf die eine oder andere Seite zu schlagen, wird immer mit grösster Achtung, mit Respekt und Wertschätzung sämtlichen menschlichen Lebensäusserungen begegnen. Leben ist Leben. Leben heisst im Fluss sein. Mit allem, was dazugehört. Fremdgehen, die Treue brechen ist eine elementare Lebensmanifestation. Diese Verhaltensweisen als Defekt zu interpretieren, hinter dem sich gar eine böse Absicht verbirgt, ist ausgekochter Blödsinn. Wer die Mühe nicht scheut, seine eigene Seelenlandschaft zu erforschen, wird schnell begreifen, dass es sich um ein vielschichtiges und nuancenreiches Gelände handelt, das niemals mit einfachen, plakativen Bildern erfasst werden kann. Wir entdecken vielleicht einen lieblichen Teich mitten im Wald, umringt von zauberhaftesten Pflanzen, und schon wenige Schritte weiter stinkt ein Abfallhaufen übel zum Himmel. Während das Wasser bei starker Sonnenbestrahlung besonders diamanten zwischen den Ästen funkelt, gärt und fault es umso intensiver im Müll nebenan und verbreitet ätzenden, beinahe unerträglichen Geruch.

Jeder Versuch, die Menschen in gute oder böse einzuteilen, muss scheitern. Wir haben eine weite Palette an Möglichkeiten in uns, die sowohl ins Positive als auch ins Negative hineinreicht.

Menschen, deren Partnerinnen fremdgehen, suchen oft eine Lösung in psychologischen Theorien und landen nicht selten in einer Sackgasse. Sowohl das Psychogramm von typischen Fremdgängerinnen auseinanderzuschrauben und nach Defekten zu untersuchen, als auch sich in Selbstzweifel hineinzuspiralen und sich mit Vorwürfen zu quälen, bringt keine Lösung. Was nützt es, die zu starke Mutterbindung des Partners als massgeblich verantwortlich für seine Treuebrüche zu diagnostizieren? Ein wenig Wut auf die Schwiegermutter wird eventuell guttun, den Partner in Therapie zu schicken etwas Genugtuung bringen. Ebenso wenig bringt die selbstbezogene Pirouette steter Selbstentwertung, etwas falsch gemacht zu haben und damit die eigentliche Schuld für den Fremdgang des Partners/der Partnerin ausschliesslich bei sich zu suchen. Eine in ihrem Beruf als Personalleiterin erfolgreiche 42jährige Frau erzählte mir erfreut, dass sie endlich wisse, was sie in ihrer Partnerschaft falsch gemacht habe und was zweifellos auch verantwortlich für die Treulosigkeit des Partners sei, der sich vorwiegend auf junge Mädchen einliess, die zu ihm aufschauten. Sie habe ihn zu wenig bewundert, und das wolle sie ändern. Da er gerade mit seinem Unternehmen Pleite gemacht hatte und sie aber vor allem Menschen bewunderte, die beruflich etwas zu leisten imstande sind, war das nicht sehr einfach. Nach langem Grübeln fand sie schliesslich etwas und brach dann jedes Mal in einen Begeisterungssturm darüber aus, wie sachkundig, himmlisch und einfach wunderbar er das Auto in die Garage parkte. Als sie eines Abends nach einem besonders schönen Konzertbesuch heimkehrten und sie nicht aufhören konnte, ihn für sein grossartiges Können über alle Massen zu loben, setzte er sich genervt unverzüglich wieder ins Auto und fuhr zur Geliebten mit der Erklärung, er könne dieses alberne Geschwätz nicht mehr ertragen. Sie heulte, wartete auf ihn und beschuldigte sich erneut, alles falsch gemacht zu haben.

Aus psychologischen Theorien allein verlässliche Erklärungen für die Untreue des Partners/der Partnerin zu finden, ist zudem eine unzulässige Einmischung. Die jeweilige Deutung und Interpretation kann nicht von Aussenstehenden und auch nicht vom passiv Betroffenen erfolgen, sondern ausschliesslich vom fremdgehenden Teil selbst. Nur die Seitenspringerinnen sind in der Lage, ihre eigenen Motive zu erforschen und gültige Aussagen darüber zu machen. Wer fremdgeht, hat ein Motiv, und dieses Motiv kann in einem ganz persönlichen, nach aussen nicht wahrnehmbaren Bereich liegen. Es kann aber auch durchaus zutreffen, dass die Fremdgängerinnen beim Partner/bei der Partnerin etwas vermissen, Verhaltens­ weisen des Partners/der Partnerin als äusserst störend bemängeln, die ihn/sie nerven oder gar auf die Palme bringen. Meist reicht jedoch derartiges nicht aus. Die Wurzeln des Fremdgehens reichen tiefer hinunter, in archaische Gefilde. Fremdgehen kann nicht grundsätzlich als Störung, als ein Defekt abgetan werden. Es ist einmal ein Versuch, im seelisch-psychischen Haushalt Defizite und Mängel auszugleichen, um ein biologisch-psychologisches Gleichgewicht zu erlangen und sich wohl zu fühlen. Wir verfügen nicht nur über Selbstheilungskräfte, sondern auch über ein äusserst gut funktionierendes Selbstregulierungssystem, das sich immer dann unbewusst einklickt, wenn es darum geht, übermässige Spannungen abzubauen, schwer zu ertragende Belastungen zu verringern. Dabei werden die eventuell auftretenden Nebenwirkungen vom Unbewussten als kleineres Übel in Kauf genommen. Darüber hinaus steht als Ursache hinter dem fremdgehen auch ein ehrliches Bedürfnis, dem Leben und letztlich sich selbst näherzukommen.

Partnerinnen von Fremdgängerinnen geraten meist in eine grosse Krise, fühlen sich durch ihre Lebensgefährtinnen zutiefst verletzt. Die meisten sind derart getroffen, dass es ihnen in ihrem Schmerz nicht möglich ist, im Verhalten des Partners/der Partnerin etwas anderes als ein schweres gegen sie gerichtetes Vergehen zu sehen.

Weder Männer noch Frauen planen wohlüberlegt aus langer Hand ihre Fremdgeh-Aktivitäten und machen sich ausserdem noch Gedanken darüber, wie sie damit den Partner/die Partnerin kränken und ihm/ihr gar seelische Verletzungen zufügen werden.

Es gibt keinen aus böser Absicht begangenen Seitensprung. Er ist letztlich immer als ein Versuch der Selbstregulierung in eigener Sache zu verstehen.

Wenn wir die Hintergründe und den selbstregulierenden Charakter des Seitensprungs verstehen, wird klar, dass es für Partnerinnen von Fremdgängerinnen keinerlei Massnal1men gibt, die den Seitensprung verhindern können. Es gibt lediglich Überlegungen, wie mit einer solchen Situation umgegangen werden kann, damit sich die Schwierigkeiten und Probleme nicht noch vergrössern. Und vor allem sollte da1iiber nachgedacht werden, wie sich diejenigen, deren Partnerin fremdgeht, davor schützen können, in die typische Sackgasse der sogenannten Betrogenen und Hintergangenen zu geraten.

Vom Jagdruf der Hormone

Es scheint, dass vor allem jene Männer davon betroffen sind, die den Affen als ihren Vorfahren betrachten. Sie sind ganz Natur. Jeder Willensimpuls scheitert an der gigantischen Stosskraft im Schritt. „Jeder Rock, der mir vor den Lauf gerät, muss erlegt werden.“ „Die Katze lässt das Mausen nicht, es sei denn, man schlägt sie tot.“ Die Jagd gehört zu ihm. Er ist kaum von schlechtem Gewissen geplagt, wie sich auch ein Hund keine grossen Sorgen darüber macht, wenn er einer Katze hinterherjagt. Immerhin sind es 15,5 Prozent der fremdgehenden Frauen und 29 Prozent der Männer, die im Falle einer aushäusigen Affäre ausschliesslich an Sex interessiert sind. 45,5 Prozent Frauen und 31,5 Prozent Männer wünschen sich bei aushäusigen Beziehungen etwas mehr als nur sexuelle Kontakte.

Nun gibt es Männer, die ihr gesamtes Dasein unter die Hormondiktatur stellen und ihre Identität davon ableiten.

18 Prozent der Männer machen den „natürlichen Jagdtrieb“ für das Fremdgehen verantwortlich. Im Zentrum ihrer Interessen steht der sich stets wiederholende Kreislauf von jagen, erobern, erlegen, jagen ... Und auch auf dem Sterbebett können sie es nicht lassen, der Schwester unter den Rock zu fassen. Ein 42jähriger Informatiker, der sich mehr in anderen als im eigenen Ehebett aufhielt, erklärte mir: „Männer, die hormonell überdotiert sind, haben es verdammt schwer. Es gibt nun mal ‚evergeile‘ Männer, die mit einer echten Hausmutter verheiratet sind. Wenn sie keine Aussenstationen hätten, um den Überdruck loszuwerden, würden sie explodieren.“

Um den sexuellen Überdruck zu regulieren, übernehmen 36 Prozent Männer und 44,5 Prozent Frauen gezielt die Initiative. um regelmässig mit einer anderen Person sexuellen Kontakt auszuüben. Ist auf freier Wildbahn nichts zu finden, helfen sich 11 Prozent der Männer mit Prostituierten oder Callgirls aus. 26 Prozent suchen gelegentlich eine Prostituierte auf, 5 Prozent einmal wöchentlich, 6 Prozent einmal monatlich.

Die Lebensmitte ist sowohl für die Frau als auch für den Mann eine krisenanfällige Zeit. Bei Männern kann beobachtet werden, dass sie bereits nach dem 40. Lebensjahr in ihrer sexuellen Aktivität merklich ruhiger werden. Bei anderen hingegen bricht der erst später aus, oft mit Beginn des fünften Jahrzehnts. Spätestens jetzt wird manifest, dass nicht nur die Frau, sondern auch der Mann der Vergänglichkeit unterworfen ist. Diese schmerzliche Tatsache wollen einige nicht wahrhaben. Alles bäumt sich dagegen auf, das Hirn gerät in Turbulenzen und beruhigt sich erst wieder, wenn der Gegenbeweis erbracht wurde. Und da es doch nicht wenige sind., die ihre Fähigkeit zu sinnlichem Genuss aus­ schliesslich auf der sexuellen Bühne erleben, werden alle existentiellen Probleme auch dort abgehandelt. Wenn die gleichaltrige Gattin den ehelichen Gemahl sexuell nicht mehr zu stimulieren vermag, wird er sich aushäusig umsehen und sein Jagdrevier verlagern. Und wenn er nicht gerade potthässlich, strohdumm und ein absolutes Ekel ist, wird er bald fündig. Trophäe. Sieg über den Tod.

Bei Frauen gibt es ähnliches, hier handelt es sich eher um Jagdinstinkt als um Jagdtrieb. Es geht nicht darum, sich jagen zu lassen, sondern selbst handelnd zu werden. Die Frau schüttelt die passive Wartehaltung ab und handelt. Sie trifft eine Auswahl, verfolgt ein Ziel. Sich endlich Freiheiten wie ein Mann erlauben, einfach auswählen und herzhaft zulangen. Sich nicht mehr appetitanregend hindrapieren, hoffend, wartend, schmachtend, dass da einer kommen möge und einen erwählt. Zum Teufel mit dem Tanzschulsyndrom. Aber so schnell scheinen wir die Vergangenheit nicht loszuwerden. Im Strandbad zeigen oft auch durchaus emanzipierte Frauen Verhaltensweisen, über die sie sich sonst selbst am meisten wundern. Sie blicken wie einst ihre Mütter beim Promenieren durch die sich im Sand Sonnenden stur geradeaus ins Niemandsland. Kein Blick nach links oder rechts: Es gilt, den Bauch einzuziehen, sich kerzengerade zu halten und grazil und zugleich selbstbewusst wie eine Elfe durch die Menge zu schreiten. Ganz im Bewusstsein, von vielen Augen betastet und beurteilt zu werden. Ein Mann hingegen lässt sich keine Gelegenheit entgehen, überall die Herumliegenden mit allergrösstem Interesse zu begutachten. Diese unsägliche Frauenqual abzustreifen, sich nicht mehr wie eine Kuh auf dem Markt von anderen einschätzen zu lassen, sondern selbst begutachtend und handelnd zu werden, ist für einige Frauen wie eine Erlösung. Und sie geniessen es in vollen Zügen, jagen, feuern ihre Schüsse ab und schleppen das erlegte Wild ins Bett. Solche Frauen müssen damit rechnen, dass sie als Schwerstgestörte eingeschätzt werden. Wenn zwei das Gleiche tun ... Gleichstellung lässt grüssen.

Selbstverständlich scheint auch ihnen der Aspekt der Vergänglichkeit ein Schnippchen zu schlagen und spielt eine grosse Rolle. Für viele ist es nicht leicht, älter zu werden. Vor allem für jene, die nach dem Strickmuster leben: Ich werde begehrt, also bin ich. Mit dem Älterwerden, und das fängt bereits in der Lebensmitte, also mit 38 Jahren an, machen sie die Erfahrung, weniger zu gefallen. Und bald heisst es für sie: Je weniger ich gefalle, um so weniger gibt es mich. Das ist eine der schmerzlichsten Lektionen, die Frauen zu lernen haben. Erst wenn es uns gelingt, den Weg zu uns selbst freizuschaufeln, erkennen wir darin auch eine Befreiung. Nicht mehr gefallen zu müssen setzt ungeahnte Energien frei, die bislang in den Tanz um das goldene Kalb investiert worden sind.

Vom Hunger nach Abwechslung

Nur wenige sind mit dem Sexualleben, das sie in der Partnerschaft führen, durchweg zufrieden. In meiner Fremdgeh-Umfrage sind es 9 Prozent Frauen und 7.5 Prozent Männer, die in ihrer Beziehung ihre Sexualität als ihren Wünschen und Erwartungen entsprechend erleben.

Vor allem werden sich jene schwerer damit tun, auf Dauer mit dem gleichen Partner/der gleichen Partnerin sexuelle Lust aufrechtzuerhalten, die grundsätzlich dem Innenleben, sowohl dem eigenen als auch dem des Partners/der Partnerin, wenig Interesse abgewinnen können. Irgendwann, wenn alles schon einmal ausprobiert worden ist, werden sie sich zu langweilen beginnen. Einmal ist alles Neue erkundet und ausgekostet. „Schliesslich kann man nicht jeden Tag das gleiche Menü essen, das gleiche Musikstück hören, durch die gleiche Landschaft fahren.“ „Der Topf ist leer gefressen.“ Der Partner/die Partnerin als unterhaltendes Genussmittel, als Kunstgenuss, als Naturereignis. Einer, der sich in seiner Partnerschaft sexuell chronisch langweilte, erzählte mir: „Eigentlich ist jeder Seitensprung – aus Gründen der Abwechslung – eine Illusion. War es mit der anderen Frau gut im Bett, will sie einen sofort möglichst oft wiedersehen oder eventuell gar heiraten wollen, und man muss schnellstens das Weite suchen. War die ganze Angelegenheit hingegen eher unbefriedigend, hätte ich genauso gut zu Hause bleiben und mit der eigenen Frau die altbekannte, langweilige Nummer schieben können.“ Und ein anderer: „Es gibt nur misslungene Seitensprünge, sozusagen ein Sprung in den Strassengraben. Es ist absolut quälend. Auf der einen Seite lockt das Neue, Unbekannte. Zugleich steht man meist unter Zeitdruck. Allein bis ein kleines Zeitfenster gefunden ist und die Ehefrau ins Joga, ins Fitnessstudio oder in einen Kochkurs geht. Dann gibt es tausend Störfaktoren. Ist es dann endlich soweit, beginnen plötzlich die Kirchenglocken wie wild zu läuten und die Frau unter dir wird von heftigen Gewissensbissen geschüttelt und will unverzüglich zum Beichtstuhl eilen.“ Trotz der negativen Schilderungen frönen beide Berichterstatter aus zwingenden Gründen der Abwechslung weiterhin dem Fremdgang.

19 Prozent Männer und 15 Prozent Frauen machen grundsätzlich mangelnde sexuelle Anziehung fürs Fremdgehen verantwortlich. Dabei wäre zu bedenken, dass gerade in der heutigen Zeit völlig falsche Erwartungen geweckt werden. Schliesslich hat alles seine Zeit – auch die Sexualität. 7 Prozent der Männer wollen durchs Fremdgehen den eigenen monotonen Beziehungsalltag beleben, was nicht unbedingt für langweilige Partnerinnen, sondern ebenso für die eigene Phantasielosigkeit spricht.

Bei Frauen sehen die Hintergründe etwas anders aus. Es ist weniger der Hunger nach Abwechslung als der Wunsch nach mehr Zärtlichkeit in der Sexualität. Sie phantasieren, die sexuelle Befriedigung wäre mit einem anderen anders, besser, schöner, umfassender und herrlicher. Und da Frauen nicht einmal mit der besten Freundin über den in Liebesdingen ausgesprochen ungeschickten Partner sprechen, findet darüber praktisch kein Erfahrungsaustausch statt, der dahin zielen könnte zu erkennen, dass auch Männer durchaus lernfähige Wesen sind. Wir beissen unter einem unsensiblen, straffen Griff eher die Zähne zusammen, als dass wir zeigen, wie wir gerne angefasst, gestreichelt und liebkost werden möchten. Wer sich jedesmal während des Geschlechtsakts fühlt, als sei sie in eine Drehmaschine geraten, wird früher oder später phantasieren, mit einem anderen wäre es schöner. Oder aber wir ziehen uns ganz von dieser Art des körperlichen Genusses zurück und verlagern unsere Interessen aufs Kindererziehen, Kochen, Handarbeiten und entschädigen uns für die verlorene Illusion mit dem Konsum von romantischen Seifenopern. Wenigstens zuschauen. Sich identifizieren. Leben aus zweiter Hand.

Seitensprung als kreativer Kick

Viele Künstler halten sich ihre Musen, die sie inspirieren, beflügeln, vitalisieren und ihre Kreativität in Gang setzen. Sie geniessen in der Gesellschaft eine allgemein grosse Nachsicht, geht es doch schliesslich um die Erschaffung eines Kunstwerks. Aber auch jene, die nur meinen, sie seien künstlerisch tätig, nehmen für sich in Anspruch, erst von einer weiblichen oder männlichen Muse für kreatives Schaffen in Stimmung versetzt zu werden.

Wie weit der Seitensprung tatsächlich ermöglicht, kreatives Material freizusetzen, sei dahingestellt. Der Künstler scheint ihn zu brauchen.

Vielleicht ist dieses Privileg ein Grund dafür, dass sich heute viele als Künstler und ihre Produkte als Kunst bezeichnen, was bei näherem Hinsehen keineswegs gerechtfertigt ist. Da gibt es „Künstler“, die nicht einmal einigermassen in der Lage sind, die Werkzeuge zu bedienen, die sie zur Erstellung eines Werkes benötigen. Es gibt Maler, die nicht malen können, Musiker, die kein Instrument anständig spielen können, Sänger, die nicht singen können, Autoren, die nicht schreiben können. Wenn's aber um die Muse geht...

Wir sollten die Musen nicht unnötig strapazieren und sie nur dann herbeirufen, wenn es tatsächlich um die Schaffung eines Kunstwerks geht. Oder aber wir betrachten die Bewältigung und Gestaltung eines Lebenslaufs schlechthin als Kunst.

Die ersten Augenblicke in der Begegnung mit einem möglichen Liebespartner sind wohl die am meisten energetisch aufgeladenen. Da sprühen die Funken, und es geht in der Seele ein Feuerwerk los. Die Illusion blüht ungehindert, alles wird möglich. Wen wundert's, wenn uns da Flügel wachsen. Der begeisterte Blick übersieht alles Schwerfällige. Alltagsbeschwernisse weichen jäh, und wir sind plötzlich fähig, schwierigste Aufgaben beschwingt zu lösen. Durch den begeisterten, verliebten Blick eines anderen wird ein gigantisches Potential in Bewegung gesetzt, alles, was da vor sich im Halbschlaf hindämmerte, wacht auf, beginnt zu spriessen und zu blühen.

Das ist der kreative Kick, von dem nicht nur Künstler profitieren wollen.

Vom Kampf der Platzhirsche und Prinzessinnen

„Mit dem ersten Kind räumt der Gatte das emotionale Feld in Mutters Herzkammer und rückt auf Platz zwei.“ So berichtet rückblickend ein 51jähriger Bankangestellter. „Sie hatte nur noch Augen für den Säugling.“ Den habe er zwar ebenfalls sehr niedlich gefunden, aber so ein Theater! Seine Frau sei vor Begeisterung über das Kind beinahe übergeschnappt, habe es ständig mit sich herumgetragen, gestillt und verhätschelt. Ihr Interesse an Sexualität sei nicht gerade erloschen, aber doch ziemlich auf Sparflamme zusammengesackt.

Ein anderer Mann erzählt: „Sie war nach der Geburt unseres Kindes nicht mehr die gleiche. Aber wenn ich jetzt konkret beschreiben sollte, was sich geändert hat, dann kann ich das eigentlich gar nicht. Sie hatte nach wie vor Spass am Sex. Nur bei mir hat sich das Interesse langsam verabschiedet.“ Und in einem Nachsatz: „Ich war nicht mehr die Nummer eins für sie.“

Es gibt Männer, die ertragen die Ankunft eines Kindes nicht sehr gut. Vor allem betrifft es jene, die den umfassenden Anspruch an die Partnerin stellen, von ihr emotional versorgt zu werden. Und da ein Säugling körperlich und seelisch voll­ ständig von Erwachsenen abhängig ist, wird sich die Frau sehr viel mehr mit dem Kind beschäftigen müssen. Sie benötigte jetzt einen Partner, der mit ihr zusammen die Aufgabe übernimmt und die Verantwortung mitträgt. Bildlich gesprochen sollte er mit ihr gemeinsam den Karren ziehen, statt sich selbst hineinzusetzen, sich ziehen zu lassen und mit dem Kind um den Fensterplatz zu rivalisieren. Wenn Männer sich weigern, erwachsen zu werden, auch wenn sie beruflich durchaus sehr erfolgreich sind und grösste Verantwortung tragen, stellen sie sich auf die gleiche Stufe wie das Kind, vergleichen sich mit ihm und stellen fest, dass der Säugling sehr viel mehr Zuwendung, Pflege und Aufmerksamkeit erhält als sie. Dar­ über hinaus wird er noch durch die Brust versorgt, während sie die Nahrung selbst zum Mund führen und auch noch kauen müssen. Aus diesem_ Gefühl der Zurücksetzung heraus wollen 9 Prozent der Männer ihren Marktwert überprüfen und suchen sich schnellstens eine neue Partnerin, bei der sie sich wieder auf dem ersten Herzensplatz wissen. Es kommen selbstverständlich nur Frauen ohne jeglichen Anhang in Frage, die sich völlig auf ihn und nur auf ihn allein ausrichten. Nistet sich der Mann wohlig in der neuen Situation ein und trennt sich von Frau und Familie, wird sich das gleiche Drama noch mal abspielen, falls es zu erneutem Nachwuchs kommt. Taler, Taler du musst wandern...

Auf der weiblichen Seite spielt sich ein ähnlicher Konflikt ab. An die Stelle des Kindes tritt das Geschäft, ein Hobby oder politisches Engagement. Frauen, die den Anspruch haben, dass der Partner ihnen stets ungeteiltes Interesse entgegen­ bringen sollte, werden irgendwann enttäuscht auf der Strecke bleiben. Seine Hinwendung zu anderen Bereichen wird als Verrat verbucht. Sein Beruf wird zur Konkurrenz. Politische Interessen und engagierte Parteiaktivitäten werden als Vernachlässigung aufgefasst. Die Zeit für Hobbys wird eifersüchtig überwacht. Welch eigenartige Einstellung, dem Partner nichts ausser sich selbst zu gönnen! Sie ist Ausdruck für das Prinzessinnen-Syndrom, die Forderung, stets im Mittelpunkt zu sein. 13 Prozent der Frauen erachten dies als den springen­ den Punkt, der sie zum Fremdgehen antreibt: Ich werde begehrt, also bin ich. 7 Prozent dagegen wollen einfach den Marktwert überprüfen. Dieses Verhalten zeigt derart viel kindlich Forderndes, dass es sich lohnt, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Dahinter verbirgt sich oft eine alte Vernachlässigungsgeschichte väterlicher- oder mütterlicherseits. Das erlittene Defizit wird auf den Partner übertragen, der nun die alten Schulden begleichen soll. Der Hunger nach ungebrochener Zuwendung ist derart gross, dass die Partner dieser Frauen machen können, was sie wollen, es wird nie genügen.

Fremdgehen, um sich selbst zu finden

Jeder Mensch birgt ein gigantisches Potential an Fähigkeiten und Entfaltungsmöglichkeiten in sich. Sein Lebensentwurf beschränkt sich nicht darauf, nur kärglich Gebrauch von seinen Möglichkeiten zu machen, sich selbst klein zu halten, unfähig und impotent vor sich hin zu vegetieren, sondern Fülle anzustreben und alles zur vollen Blüte zu bringen. Selbstentfaltung wird oft bekrittelt, als Egotrip belächelt, als egoistisch und deshalb Verwerfliches abgetan, als etwas, das sich absolut rücksichtslos gegen die Bedürfnisse anderer durchsetzt, verteufelt.

Selbstentfaltung ist Entfaltung des Selbst. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Da ist nichts darin von verbissenem Kampf, eigene Bedürfnisse durchzupauken, sich stets nur um den eigenen Vorteil zu kümmern, nichts Verbrecherisches, das über Leichen geht. ist eine sanfte, aber stetige Kraft, die notfalls auch warten kann., die sich auch auf unwegsamen, steinigen Pfaden einen Weg sucht, gleich feinen Wurzeläderchen, die den Weg zum Wasser finden. Wie sich die Blüte einer Blume gelassen und selbstverständlich entfaltet, sich die Krone eines Baums entfaltet, ausspannt und zum Himmel hinauf wächst, so ist im Menschen angelegt, seine gesamten Fähigkeiten zu entfalten und auszuschöpfen. Aus Freude am Dasein. Zur Freude der Menschen. Und zum Wohlgefallen der Schöpfung:

„Du bist ein Kind Gottes.
Dein zögerliches Spiel
dient der Welt nicht.
Es wird nichts erhellt,
wenn du dich kleiner machst.“

Der Wunsch nach Selbstentfaltung ist im Menschen angelegt wie das körperliche Wachstum. Jedes Unterdrücken eigener Fähigkeiten, jeder Verzicht, sich selbst zur Blüte zu bringen, ist ein Gewaltakt gegen die Natur. Wir sind bereits in unseren frühen Entwicklungsstationen immer wieder gezwungen, uns aus beengenden Behausungen zu befreien, damit der Weiterentwicklung nichts Hinderndes im Weg steht. Schon in der vorgeburtlichen Zeit müssen wir uns aus der Urheimat her­ auslösen. Zum Zeitpunkt der Geburt sprengen wir die Fruchtblase auf, um den Weg in die Welt anzutreten. Später wird auch die symbiotische Zeit mit der Mutter gesprengt. Danach folgt das familiäre System, das in der Ablösung von den Eltern gipfelt – eine viel zu sanfte und harmlose Beschreibung dieses Vorgangs, der eher mit einer hochexplosiven Sprengladung zu vergleichen ist. Alle diese Stationen müssen wieder verlassen werden. Der Wachstumsprozess fordert unerbittlich sein Recht.

Die Entfaltung der inneren Kräfte, Fähigkeiten und Talente benötigt Raum und Weite. Stehen wir zu dicht nebeneinander, engen wir uns gegenseitig ein, machen das Wachsen unmöglich und behindern unsere Entwicklung.

Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, mit dem Wunsch nach mehr persönlichem Freiraum umzugehen. Am sinnvollsten wäre wohl, sich den Raum für die eigene Entwicklung und Entfaltung als Selbstverständlichkeit einfach zu nehmen und ihn dem/der Partnerin ebenso natürlich zuzugestehen. Vielen fällt es schwer, sich in der Partnerschaft auch als Einzelwesen zu sehen, das eigene Wünsche und einen eigenen Lebensplan zu erfüllen hat. Es ist nicht immer die Schuld des Partners, wenn zu wenig Eigenes gelebt wird. Oft schränken wir uns selbst ein. Zweifellos gibt es Beziehungen, in denen jede Eigendrehung des einen Teils als Gefahr und Bedrohung für die Beziehung erlebt wird und in denen entsprechend versucht wird, jede Eigenständigkeit zu unterbinden oder gar erpresserisch abzuwürgen. Solche Beziehungen schrumpfen früher oder später auf eine verhängnisvolle Enge und Eintönigkeit zusammen, verbunden mit dem überdimensionierten Anspruch, vom Partner für das Geopferte umfassend entschädigt zu werden. „Wir genügen uns selbst. Wir brauchen keine Freunde“ ist eine gefährliche Beziehungsphilosophie. Dass sich Paare in der Phase des Verliebtseins selbst genügen, ist durchaus sinnvoll. Gibt es doch vieles, was im anderen er­ forscht werden will, wobei andere Menschen eher störend wirken. Hält hingegen der Alltag Einzug, ist es sowohl für den einzelnen als auch für die Partnerschaft von grossem Vorteil, die Beziehung nach aussen zu öffnen, um Impulse und Anregungen aufzunehmen, die sich als Belebung in der Partnerschaft auswirken. Wird einer der beiden Partner um mehr Freiraum kämpfen, was unter Umständen nicht leicht ist, wird dies auf jeden Fall die Beziehung beleben und sie vor einem Schrumpfungsprozess bewahren. Letztlich werden beide Seiten davon profitieren:

„Aber lasst Raum zwischen euch.
Und lasst die Winde des Himmels zwischen euch tanzen.
Liebt einander, aber macht die Liebe nicht zur Fessel (...)
Steht nicht zu nah beisammen,
denn die Säulen des Tempels stehen für sich,
und die Eiche und die Zypresse wachsen nicht
im Schatten der andern.“

Der Wunsch nach persönlichem Freiraum ist eine völlig natürliche Angelegenheit. Unterdrücken wir dieses legitime Bedürfnis, fühlen wir uns benachteiligt, und das Unbewusste wird dafür sorgen, dass diesem Naturgesetz zu seinem Recht verholfen wird. 10,5 Prozent Männer und 7,5 Prozent Frauen halten das Gefühl „Ich komme zu kurz“ als ausschlaggebend für einen Seitensprung.

Wie gesalbte Majestäten, ungesalbte grosse und kleinere Staatsmänner sowie Amtsinhaber regionaler Machtbereiche mit dem Drang nach persönlichem Freiraum umgehen, zeigt ihre langjährige Fremdgehtradition. Es gibt Länder, da gehören die Liaisons und Affären der Politspitze zum unantastbaren, fest einzuplanenden Bestandteil persönlicher Vorrechte, die immer und allüberall im Ablauf von Staatsbesuchen und -geschäften berücksichtigt werden, wie etwa die Möglichkeit, sich bei einer sportlichen Betätigung zu erholen.

Das Privatleben des Staatsoberhaupts, des Politikers, dient indes weiterhin nach aussen als Vorbild für eine intakte Familie. Fotos für Werbezwecke: moderner Familienmythos. Da lächelt die Y1utter mit dem Kleinsten auf dem Arm, das mittlere hält sich am Rockzipfel fest, während auf der Schulter des ältesten Kindes stolz Vaters Rechte ruht. Da läuft uns das Wasser im Mund zusammen bei so viel Harmonie, so viel fürsorgender Mütterlichkeit und potenter staatsmännischer Vaterschaft. Und je nach Identifikationsperspektive möchte man oder frau gerne an der Stelle des kleinen Töchterleins sitzen, sohnhaft Vaters Stolz auf sich fühlen oder ehefraulich den Platz an der Seite des Göttergleichen einnehmen. Musterfamilien beleben jene Phantasien, die im eigenen Leben bereits Schlagseite erlitten haben. Diese Bilder ziehen magnetisch die verschütteten Wünsche aus den Ruinen, hissen die Fahnen und zeugen von Liebe, Glaube, Treue. Es ist beachtlich, wieviel Verdrängungsarbeit geleistet wird, damit diese Bilder möglichst lange unbesudelt bleiben. John F. Kennedy, obwohl längst als chronischer Fremdspringer bekannt, überlebte lange als treusorgender Ehemann mit weisser Weste in den Köpfen seiner Anhänger. François Mitterrand ging noch einen Schritt weiter und leistete sich souverän neben seiner ehelichen noch eine aussereheliche Familie. Die Journalisten hielten dicht, niemand war daran interessiert, Mitterrand als Fremdgänger zu entlarven. Bis kurz vor seinem Tod ein kleiner, indiskreter Pressemensch darüber berichtete. Die Nachricht schlug weder wie eine Bombe ein, noch löste sie weitere Recherchen und Aktionen aus. Der Präsident nahm es gelassen zur Kenntnis. Und die Franzosen ebenfalls.

In der Schweiz scheint ein ungeschriebenes Pressegesetz zu herrschen. Es gibt keine Zeitung, die über irgendeinen fremd­ springenden Politiker auch nur eine Zeile berichten würde.

In anderen Ländern gelangen nur jene Fremdgänger in die Schlagzeilen, deren Seitensprünge vom grössten Teil der Bevölkerung gutgeheissen werden, da die armen, bedauernswerten Männer schliesslich mit einer absolut ungeniessbaren Emanze verheiratet sind – unzumutbar für jeden anständigen Mann. Und ein Warnschuss für alle Frauen, die zuviel Selbstsicherheit und Selbständigkeit für sich beanspruchen. Die Exfrau des niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder und Hillary Clinton dienen als abschreckende Beispiele.

Die Ausübung eines politisch hochkarätigen Amtes erweckt offenbar den trügerischen Anschein, besonders viel sinnliche Freuden zu versprechen. Eine mit allen Mitteln angestrebte Machtposition zu halten, gewichtige, eventuell gar historisch bedeutende Entscheidungen zu fällen, die Geschichte zu prägen, gar in sie einzugehen, mag wohl ein paar Hirnzellen in aufregende Schwingungen zu versetzen, aber einen direkt erlebbaren sinnlichen Genuss vermögen diese Aktivitäten nicht in Gang zu setzen. Im Gegenteil. Da sich das meiste im Kopf abspielt, sowohl die Vorstellung eigener Grösse als auch die tatsächliche Demonstration eigener Macht und Herrlichkeit, bleibt für das Bedürfnis, sich geniesserisch der Lebens­ fülle zu bedienen, wohl nicht mehr viel übrig. Wenn sinnliches Vergnügen wie bei Helmut Kohl auf den Verzehr eines Saumagens zusammenschrumpft, muss ernsthaft nach anderen Defiziten gefragt und vor allem untersucht werden, auf welche Weise sie Ausgleich finden. Phantasierte Höhenflüge von ruhmreicher Macht, von Entscheidungsgewalt als Motivation für manchen Politikereinsatz, der nicht selten einen gigantischen Kräfteeinsatz erfordert, enden schneller als erwartet in der Feststellung, dass die Lust auf der Strecke blieb. Und weil viele verlernt haben, sich mit der Offenheit eines Kindes allen sinnlichen Freuden hinzugeben, bleibt zuletzt nur noch die Sexualität. Sie ist die einfachste, billigste und zuverlässigste Art, sich etwas Vergnügliches zu gönnen, gespickt mit auserlesener Raffinesse, um einen möglichst hohen Genuss zu garantieren. John F. Kennedy, Willy Brandt, François Mitterrand und Bill Clinton waren und sind in diesen Dingen ausgesprochene Gourmets.

In allen Berufen, die ein hohes Mass an Verantwortung verlangen und wenig spielerisch kreativen Freiraum für Experimente lassen, ist das Fremdgehen eine Antwort auf die Einschränkung des persönlichen Freiraums. Jede Einengung auf der einen Seite, jedes Eingespanntsein in Termine und Verantwortung erzeugt einen Gegendruck. Wer verlernt hat, wie ein Kind barfuss durch eine Wiese zu hüpfen, Schmetterlingen nachzujagen, wer sich nicht erlauben kann, in unlogischen Hirnschlaufen auf abenteuerlichen und abwegigen Gedankengängen herumzuschlendern, wer nicht wagt, die Sterne vom Himmel herunterzuphantasieren, sondern wie ein Bergsteiger pflichtbewusst einen Schritt vor den anderen setzt, der wird relativ schnell, von sinnlichen Mangelerscheinungen angetrieben., einen Ausgleich schaffen. Je mehr Verantwortung ein Mann trägt, um so schmaler wird der Weg, auf dem seine spielerische Seite zum Einsatz kommen kann. Jeder falsche Schritt, jede Fehlentscheidung hat schwerwiegende Folgen.

Ein 58jährigcr Personalchef eines grossen Unternehmens erzählte mir im Rahmen meiner Fremdgeh-Interviews frisch und offen: „Wer beruflich in einer engen Jacke steckt, in der nur bestimmte Bewegungen möglich sind, braucht irgendwo einen Ort, wo er alles machen und die Sau rauslassen kann.“ Bereits die Formulierung weist darauf hin, dass es sich um den sexuellen Bereich handelt, der automatisch mit ‚Sau rauslassen‘ gleichgesetzt wird. Schliesslich brauche jeder Mann, der derart in tausend Pflichten eingespannt sei, aus psychologischen Gründen die Möglichkeit, „über die Stränge zu schlagen“, „einfach einmal richtig auszuflippen“, um aus dem Vollen zu schöpfen und sich ein Stück Leben zurückzuholen.

Ein Politiker kleineren Kalibers erzählte, man könne Fremdgehen auch als eine Form der Persönlichkeitsentwicklung bewerten. Mann wolle schliesslich nicht nur im politischen und beruflichen Sektor etwas erreichen, sondern sich ebenso im Zwischenmenschlichen bewähren, etwaige Hemmungen loswerden, innere Hürden überspringen und gesteckte Ziele erreichen beziehungsweise Frauen erobern.

Wir Frauen können nicht auf eine derart lange Fremdgehtradition zurückblicken. Vorbilder, die sich souverän das holten, was ihnen guttat.. die sich ihre in Schieflage geratene Bedürfniswelt mittels Fremdsprung selbst regulierten, gibt es auch in der Literatur nicht allzu viele. Inzwischen haben wir in Sachen Fremdgehen tüchtig aufgeholt, liegen nur um wenige Prozente hinter den Männern zurück.

Extreme berufliche Belastung und Verantwortung mit wenig kreativem Spielraum erzeugen unweigerlich einen Gegen­ druck, der als Selbstregulierung sinnliche Defizite auszugleichen versucht. Davon sind Männer sehr viel stärker betroffen als Frauen. Noch sind es wenige Frauen, die sich in europäischen Ländern einen Kaderposten ergattern konnten, und nur fünf bis dreissig Prozent Frauen stehen in politischer Verantwortung. Dennoch gibt es auch für Frauen mannigfaltige, altbewährte Möglichkeiten, sich in ein zu enges Kostümchen hineinzuzwängen. Frauen sind ungleich stärker gesellschaftlichen Dogmen unterworfen, die sie derart verinnerlicht haben, dass die Einengung nicht einmal mehr wahrgenommen wird. Noch immer geistert in einigen Köpfen Schillers Lied von der züchtigen Hausfrau, die behenden Schrittes und mit fleissigem Händchen putzt und fegt, während weisses Linnen im Winde fröhlich flattert. Übertrieben? Völlig veraltet? Welche Frau wagt es, zu ihrer Unfähigkeit, einen Haus­ halt zu führen, zu stehen: „Ich kann nicht kochen. Ich kann nicht bügeln. In allen häuslichen Dingen bin ich sehr ungeschickt.“ Im Gegensatz dazu der Mann. Keinem fällt ein Stein aus der Krone, wenn er zugibt, dass er weder Kamine reinigen noch den Rasen mähen kann.

Ein Vater erzählt stolz, ihm sei seine Familie sehr wichtig. Leider habe er nicht viel Zeit. Immer aber, wenn er es einrichten könne, widme er sich den Kindern. Ein guter Vater! Welche Frau erhielte das Prädikat, eine gute Mutter zu sein, wenn sie berichtete, sie beschäftige sich immer dann mit ihren Kindern, wenn sie Zeit habe? Ein Mann, der ein schlechter Vater ist, ist ein Vater, der beruflich viel zu tun hat. Eine Mutter, die sich aus Gründen beruflicher Belastung nicht ständig um ihre Kinder kümmern kann, wird auch heute noch oft nicht nur als schlechte Mutter bezeichnet, sondern es werden ihr grundsätzlich sämtliche Muttergefühle abgesprochen: Sie ist überhaupt keine Mutter.

In einem weiblichen Körperhaus zu wohnen, ist ohnehin eine schwierige, aufwendige und sehr anstrengende Angelegenheit. Da wir nicht in der Lage sind, unsere Haustüre zu verriegeln, kann jeder Idiot, wenn es ihn danach gelüstet, in uns eindringen, ob es uns passt oder nicht. Diese äusserst ungünstigen Wohnverhältnisse führen dazu, dass wir uns an­ passen, uns mit unserem Nachbarn möglichst gut stellen, um ihn nicht unnötig zu reizen.

Obwohl die heutigen Frauen bereits einen etwas grösseren Spielraum als ihre Mütter zur Verfügung haben, stecken sie noch immer in tausend Zwängen. Zuwiderhandelnde werden schnell als Schlampen, Vetteln oder liederliche Luder verurteilt. Trotzdem kann es geschehen, dass sich Frau Biedermann über alles hinwegzusetzen wagt, plötzlich über die Stränge haut, ihr zu enges Korsett sprengt und sich das holt, was sie mit Leben gleichsetzt. Myrta, das rechtschaffene Weib eines Landwirts, das ununterbrochen schuftete, dem Gemahl unermüdlich zudiente, das auch noch den Posten des Gemeindeammanns versah und dazu sechs Kinder zu anständigen Menschen erzog, wurde einfach jäh und unverhofft eines Tages von der Lust auf Leben erfasst. Sie sprang auf die in ihr entflammte Lust, schnappte sich den zwanzig Jahre jüngeren Knecht, lockte ihn ins Heu, das ziemlich stachlig gewesen sei, und lebte all das aus, was ihr fehlte. Gut habe es ihr getan. Sie sei hinterher derart schwungvoll und kraftdurchdrungen an die Arbeit gegangen, dass sie dachte, es könne nichts Schlechtes gewesen sein und komme schliesslich der ganzen Familie zugute. Und was einmal so guttat, konnte ein zweites Mal nur noch besser werden. Sie behielt diese Angewohnheit weiterhin 'bei.

Der Wunsch nach mehr Freiraum, nach mehr Kontakt zu sich und dem, was einem wichtig ist, äussert sich oft erst, wenn sich eine geeignete Trägerschaft anbietet. Wenn sich zufällig ein anderer Mensch in der Nähe aufhält und die Phantasie geweckt wird, dass alles, was bisher abgeschoben und weggedrängt wurde, mit diesem Partner/dieser Partnerin endlich zum Leben erweckt werden könne, dann springt der Funke problemlos über und vitalisiert jene ausgeschlossenen Bereiche. Endlich können wir die Musik hören, die uns gefällt, und darüber hinaus den Genuss erleben, neue Erfahrungen zu machen und Eindrücke auszutauschen. Niemand, der uns des schlechten Geschmacks wegen belächelt. Niemand, der uns umerziehen will.

Während die einen den bremsenden und einengenden Partner so schnell als möglich loswerden wollen, um sich dem neuen zuzuwenden, führen die anderen ihre Partnerschaft mit den Einschränkungen weiter, unterlaufen aber die gesteckten Grenzen, gehen fremd und schaffen sich so den notwendigen Freiraum. Mit einer solchen Aussenstation gelingt es ihnen, alles, was ihnen wichtig ist, zu leben. Zu Hause finden sie den sicheren, wenn auch etwas eintönigen Ehehafen, Sicherheit und das Gefühl, beheimatet zu sein. In der Aussenbeziehung werden all die anderen Register gezogen, die in der partnerschaftlichen Beziehung nicht gelebt werden dürfen oder gelebt werden können. Nicht wenige Fremdgängerinnen erleben diese menage à trois als ideale Ergänzung. Werden sie entweder von ihren Lebensgefährtlnnen oder von den Geliebten zu einer Entscheidung gedrängt, geht die Rechnung meist nicht auf. Der fehlende Bereich wird schnellstens wieder von einer neuen Person abgedeckt. So wird die Ehe­ frau, der es gelang, ihren Ehemann dazu zu bewegen, mit der Geliebten Schluss zu machen, eines Tages feststellen, dass er sich längst wieder eine neue zugelegt hat. Und auch für die Geliebte bedeutet es nicht selten ein bitteres Erwachen, wenn der Geliebte sich endlich scheiden lässt. Sobald sie versucht, ihn für sich allein zu beanspruchen, und er sich in seiner neuen Freiheit wiederum eingeengt fühlt, wird er die Grenzen unauffällig sprengen. Wie gehabt.

So wird das Fremdgehen zum Ausdruck, mehr von sich und seinen Möglichkeiten auszuschöpfen, alles in sich zur Entwicklung Angelegte zu erforschen und zur Entfaltung zu bringen.

Die Selbstverständlichkeit, mit der wir uns selbst so viel Raum nehmen, damit unsere Fähigkeiten sich entfalten können, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Einmal davon, wie wir es als Kind gelernt haben. Sind wir in einer Familie aufgewachsen mit strengen Verhaltensrichtlinien und Verboten, in der es wenig oder gar keine Möglichkeiten gab, Eigendrehungen zu machen, und haben wir uns schon früh an Einengung gewöhnt, werden wir wohl eher dazu neigen, wenig Anspruch auf Eigenes geltend zu machen. Es sei denn, wir hätten irgendwo in uns heimliche Nischen ausfindig gemacht, in die wir mit unseren Wünschen und Phantasien flüchten konnten und die wir später in unser reales Leben integrieren. Ebenso lernten wir bereits als Kind, ob in der Familie Impulse der Freude, des Vergnügens und der Begeisterung gelebt wur­ den, oder ob alles, was Spass machte, aushäusig abgehandelt oder durch andere importiert werden musste. Für diese Menschen ist es absolut klar, dass sie, wenn sich sexuelle Freuden innerhalb der Beziehung davongeschlichen haben, diese ausserhalb suchen und in den meisten Fällen auch finden.

Selbstverständlich ist nicht nur unsere Kindheit dafür verantwortlich zu machen, wie wir als Erwachsene mit Verboten umgehen. Wir bringen eine bestimmte Konstitution mit, die sich ebenfalls auswirkt, ob wir auf die Entfaltung des Eigenen verzichten oder ob sich der Wunsch nach eigenem Wachstum kraftvoll gegen alle Hindernisse durchzusetzen vermag.

Fremdgehen, um sich treu zu bleiben

„Die Würde des Menschen bleibt unantastbar“ steht im Grundgesetz. Darüber hinaus ist es offiziell als privates Gesetz unbewusst in uns verankert. Und doch wird es am häufigsten –völlig unauffällig und unspektakulär – übertreten und nicht beachtet.

Nicht wenige pflegen mit sich selbst einen Umgang, als seien sie eine stinkende Müllgrube. Sie wollen nichts mit sich zu tun haben, möglichst wenig über sich wissen oder in Erfahrung bringen und machen stets einen grossen Bogen um sich selbst und ihre eigene Geschichte. Es findet eine ständige Selbstmif6achtung statt, ein eigenartiges sich Abwenden von sich und seinen eigenen Belangen. Wie aber soll ein solcher Mensch, der nicht auf die einfachsten Anstandsregeln im Umgang mit sich selbst achtet, auf einen anderen Menschen mit Wertschätzung reagieren und ihm begegnen können? Kaum möglich. Es sei denn, es findet eine unrealistische, total übertriebene Überhöhung und Überschätzung des anderen statt, die aber nicht über längere Zeit aufrechterhalten wer­ den kann, irgendwann zusammenkracht, woraufhin die Idealisierten vom Sockel gestossen werden.

Vielen fällt es leichter, spontan fünf schlechte Eigenschaften von sich selbst aufzuzählen, als fünf zusammenzusuchen, die positiv bewertet werden.

Die negative Selbsteinschätzung macht leider auch vor dem anderen nicht halt. Gut, im ersten Wonnegefühl paradiesischen Verliebtseins wirkt alles überpudert wie eine liebliche Schneelandschaft. Und da wir uns ja ohnehin den Partner/die Partnerin nach dem Ergänzungsprinzip auswählen und der andere das hat, was uns selbst fehlt, erleben wir in der ersten Zeit einfach das wunderbare Gefühl, zusammen ein Ganzes zu bilden. Zuerst fühlen wir uns von den uns ergänzenden Eigenschaften angezogen, aber bereits nach kurzer Zeit gehen sie uns auf die Nerven, treiben uns beinahe zum Wahnsinn, und wir haben nur noch eines im Sinn, den Partner zu verändern. Hier gibt es eine interessante Schnittstelle, die zu beachten dazu beitragen kann, nicht in die Entwertungsfalle zu geraten. Zu Beginn einer Beziehung nehmen wir den anderen als ein Gegenüber, als ein von uns getrenntes Du wahr. Wir sind von ihm fasziniert, vorn Andersartigen, vom Komplementären. Der Wunsch, sich mit dem anderen zu vervollständigen, eins zu werden., ineinander und miteinander zu verschmelzen, wie wir das in der Sexualität erleben, verknüpft sich wieder mit unserer Urerfahrung, irgendwann früher in einem Ganzen aufgehoben gewesen zu sein. Gelingt es uns nicht rechtzeitig, diese Sehnsüchte richtig einzuordnen, werden wir die Ursehnsucht, sich zu beheimaten, auf der Bühne der Partnerschaft inszenieren und abhandeln. Die Dramaturgie verläuft nach einem immer gleichen Muster: Wir werden nicht eher ruhen, bis wir uns den Partner/die Partnerin seelisch einverleibt und als etwas zu uns Gehörendes eingeordnet haben. Wir tun so, als ob wir eins wären, was natürlich vollkommener Unsinn ist. Nicht einmal im körperlichen Bereich werden wir dieses Ziel je erreichen. In der Sexualität erhaschen wir lediglich einen kurzen Nasenstüber ozeanischen Einsseins. Ein paar Atemzüge lang. Aus der Traum. Dennoch gebärden wir uns in der Partnerschaft so, als ob wir ein unzertrennliches Ganzes bildeten, als ob der Partner/die Partnerin uns gehörte und wir über den anderen ebenso verfügen könnten wie über uns selbst. Als ob die Partnerschaft ein simples Eintopfgericht wäre! Die Ernüchterung folgt auf dem Fuss: Sobald wir den Respekt vor dem anderen, dem Andersartigen, verlieren, den anderen nicht mehr als eigenständige Person wertschätzen, fallen wir aus dem Zustand der Faszination und Begeisterung und werden aus dem Paradies vertrieben. Jeder Mensch ist aber in sich ein eigenes Universum: Er kommt allein auf diese Welt. Und tritt allein wieder ab. Der Zwischenraum von Kommen und Gehen ist dafür reserviert, sich selbst kennenzulernen, Bedingungen für die eigene Entwicklung zu schaffen, Wachstumshindernisse zu beseitigen und sich zur Blüte zu bringen. Jeder für sich. Alle aber dürfen sich am Erblühten herzlich erfreuen.

Wenn wir uns selbst entwerten, den Partner/die Partnerin in uns eingemeindet haben, wird er/ sie automatisch ebenfalls einer Entwertung unterzogen. Der Verlust, den anderen als eigenständigen, selbsthandelnden und selbstbestimmenden Menschen anzuerkennen, zieht, im Zuge eigener Selbstentwertung, meist zwangsläufig auch eine Entwertung des Partners/der Partnerin nach sich. Und damit auch den Versuch, auf unliebsame Eigenheiten des Partners/der Partnerin ein­ wirken zu wollen und ihn/sie zu Verhaltensänderungen zu motivieren. Jeder Ansatz aber, den anderen verändern zu wollen, ist ein Vergehen gegen das Grundgesetz: Es verletzt die menschliche Würde.

Es gibt Paare, die ein jämmerliches Bild gegenseitiger Entwertungsgeschichte liefern. Wenig bis gar nichts ist mehr übriggeblieben von der einstigen Achtsamkeit, der einander bezeugten Faszination, dem Glauben an den anderen. Die einstige Zuneigung und Liebe ist heruntergewirtschaftet wie ein Betrieb, der allmählich in die roten Zahlen geriet und schliesslich im Konkurs endet. Verbringt man einen Abend mit einem solchen Paar.) fühlt man sich hinterher hundsmiserabel, als ob die gesamte Negativität einem die Lebensfreude verdorben hätte. Und das ist denn auch das, worüber sich die Betroffenen am meisten beklagen: die Abwesenheit der Freude. Solange aber beide Partner die Gemeinschaft, sei sie auch noch so kriegerisch, als heimatlichen Boden identifizieren, werden sie daran festhalten.

Für Aussenstehende wäre es das Nächstliegende, dass ein sich gegenseitig entwertendes Paar, das ein Leben in der Hölle führt, sich möglichst schnell trennte, um dem Giftkrieg endlich ein Ende zu setzen. Wer nun aber meint, die Betroffenen möchten in einer solchen Situation schleunigst das Feld räumen, irrt gewaltig. Auch wenn man sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich vom kräfteverschleissenden Kampf erlöst zu sein, um freie Verfügung über seine Lebensgestaltung zu erhalten, ist es meist nicht möglich, die Beziehung zu beenden. Die Vorstellung, der andere/die andere könnte mit einem neuen Partner/einer neuen Partnerin ein neues Glück finden, macht eine solche Entscheidung unmöglich, und die Eifersucht bricht hemmungslos durch. „Ich trage eine Frau lieber zu Grabe, als sie mit einem anderen glücklich zu sehen“, gesteht Pablo Picasso unverhohlen. So liegt denn der phantasierte Tod des Partners/der Partnerin oft näher als eine Trennung. Da es die wenigsten wagen, sich solche Phantasien einzugestehen oder gar mit jemandem darüber zu sprechen, fühlen sie sich schuldig. Diese Schuldgefühle können sich gelegentlich in einem überdimensionierten Besorgtsein um die Gesundheit des Partners äussern, Angst, er könne bei einem Unfall ums Leben kommen. Kommt er/sie einmal eine halbe Stunde zu spät nach Hause, setzen sich unverzüglich diese (Wunsch-)Phantasien in Gang, und die Besorgten rufen sofort im nächsten Krankenhaus und bei der Autobahnpolizei an. Sie haben zwar eine lebenshindernde Gemeinschaft, aber sie gilt immerhin stellvertretend als Heimat. Allein die Vorstellung, den ungeliebten Partner/die ungeliebte Partnerin an jemand anderen abzutreten, ihn zu „verlieren“, bringt das Blut in Wallung. Wendet sich der Partner ab und geht eine neue Beziehung ein, bekommt man das Gefühl, die Heimat verloren zu haben. Wenn der Partner hingegen stirbt, kehrt er in die Urgemeinschaft zurück, und die heimatliche Vision bleibt erhalten.

Partnerschaftliche Verhaltensweisen sind oft unlogisch. Erst wenn wir sie vor dem Hintergrund betrachten, dass sowohl äusseres als auch inneres Wachstum zur menschlichen Existenz gehören, ergeben sie einen tieferen Sinn. Der Mensch verfügt über ein virtuoses Spektrum, um sein Leben zu gestalten. Grundsätzlich will jeder sein vielfältiges Energiepotential, alle seine Möglichkeiten und Fähigkeiten ins Leben ein­ bringen und umsetzen. Er will sich die Erde fruchtbar machen, er will sie beackern, sie formen und dann ernten.

Wir wissen aus neuesten Motivationsforschungen, dass der Mensch sein Bestes geben will, arbeiten möchte, Einsatz leisten und dabei Spass und Freude erleben will. Vor allem in sogenannten moderneren Betrieben wird versucht, Mitarbeiterinnen gezielt zur Arbeit zu motivieren. Dieses Vorhaben unterstellt den Mitarbeitern, dass sie eigentlich nicht die er­ wartete Leistung erbringen wollen und mit irgendwelchen Tricks angekurbelt werden müssen. Ausgeklügelte Prämiensysteme wurden ausgetüftelt, Verhaltensregeln für Führungskräfte erdacht, spitzfindige Kontrollsysteme sowie Umsatzbilanzen erstellt, nur um die Mitarbeiterschaft zu motivieren. Dies beruht auf einem Menschenbild, das nur auf dem Mist von Selbstentwertern gewachsen sein kann. Menschen müssen nicht zur Arbeit motiviert werden, sie sind schon grundsätzlich motiviert!

In der Wirtschaft lässt sich anhand von Zahlen leicht belegen, ob ein Betrieb in seiner Personal- und Führungspolitik erfolgreich arbeitet. Ständiger Personalwechsel, unzufriedene Mitarbeiter, schlechtes Arbeitsklima, Leistungsabfall und häufige Abwesenheit der Mitarbeiter sprechen für sich. Untersuchungen weisen nach, dass unzufriedene Mitarbeiter nicht etwa motiviert werden müssen, sondern dass lediglich nach den Gründen für die Unzufriedenheit geforscht werden sollte. Die Ergebnisse sind einleuchtend: Demotivation, Verdruss der Lebensfreude, der Spass an der Herausforderung lässt grüssen. An erster Stelle steht das demotivierende Verhalten des zuständigen Chefs, seine entwertende Haltung Mitarbeitern gegenüber, zu viele detaillierte Vorschriften und da­ mit Beschneidung des eigenen kreativen Potentials, für Auf­ gaben eigene Lösungen zu erarbeiten. Engagierte Mitarbeiter sind immer solche, die ihre Ideen einbringen können, die in ihren Ressourcen gefordert sind, die auch in der Freizeit über die Lösung eines Problems spielerisch nachdenken. Wo der Arbeitsplatz zur Ausführung von Anweisungen verkommt, fehlt der Spass am Dasein, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Arbeitszeit wird abgesessen, Freude kommt erst wieder auf, wenn sie um ist. In einem solchen Zwangslager pfeift keiner beschwingt vor sich hin oder sprüht vor Heiterkeit und Lebensfreude. Da wird jeder Telefonanruf zu einer beinahe unzumutbaren Aufgabe, jeder Kunde, der das Geschäft betritt, stört.

Führungspersonen, die sich selbst misstrauen, trauen auch anderen nicht. Sie haben grundsätzlich eine schlechte Meinung von anderen Menschen (wie auch von sich selbst), und sie haben ein Menschenbild, das monsterhafte Züge trägt. Mit dieser Einstellung sind sie für ihre Mitarbeiter unzumutbar und sollten sich besser mit einer toten Materie beschäftigen, am besten als Totengräber. Das gleiche gilt natürlich auch für solche Pädagogen. Der Schaden, den sie anrichten, ist immens.

Führungspersonen hingegen, die das Vertrauen eines Gärtners haben, der selbstverständlich davon ausgeht, dass Menschen wie Pflanzen eine Grundmotivation für Wachstum in sich tragen, werden sich dafür einsetzen, dass möglichst wenig die Entfaltung hindert. Vielleicht sollten sich Führungskräfte bei Schulungsprogrammen weniger dem blödsinnigen Auswendiglernen sinnentleerter Kommunikationsfloskeln widmen, als vielmehr Gärtnereien und Baumschulen besuchen, wo sie den respektvollen und wertschätzenden Umgang mit Pflanzen studieren können. Interesse am Menschen, Wertschätzung sind die stärksten Kräfte und wirken wie Humus. Diese Betrachtungen stimmen mit den wissenschaftlichen Untersuchungen der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie über die Bedingungen eines therapeutischen Heilungsprozesses überein. Nicht das theoretische Wissen über die Bildung von neurotischen Störungen ist ausschlaggebend, sondern die Haltung des Therapeuten/der Therapeutin. De­ motivierende Therapeuten/Therapeutinnen bewerten den Klienten/Patienten, sie deuten an Aussagen herum, geben Rat-Schläge, ermahnen, belehren und schulmeistern. Sie können sich nicht in die Situation des anderen einfühlen und hören nicht genau zu. Therapeuten und Therapeutinnen hingegen, die zum Lehen motivierend wirken, sind wertschätzend und grundsätzlich wohlwollend, den anderen in seinem Sosein annehmend und können sich in seine Probleme und Lebenssituation einfühlen. Das ist der Boden, auf dem seelische Heilung erfolgen kann. In einem solchen Klima wird es dem Klienten/Patienten möglich sein, mit seinen ureigensten Kräften wieder in Kontakt zu kommen, die ihn zum Leben und zur Freude motivieren.

Aber auch in der Partnerschaft ist das Erarbeiten einer solchen Grundhaltung für das Gelingen des Zusammenlebens unabdingbar. Auf die Partnerschaft übertragen bedeuten die Ausführungen über Personalführung, dass es Verhaltensweisen, Äusserungen dem Partner gegenüber gibt, die absolut demotivieren, die nicht zum Leben einladen.; sondern das Leben vermiesen: Sie versalzen mit jedem Blick., verderben in jedem Wort., entwerten in jeder Geste den Partner/die Partnerin, sich selbst und nicht selten grundsätzlich die ganze Welt. Die einstige Lebensfreude schleicht davon, die früher erhebende Heiterkeit liegt jetzt als drückender Bodennebel in der seelischen Landschaft. Da schrumpft alles, was nicht niet­ und nagelfest als unantastbare Gewissheit in einem fest verankert ist, auf eine verschimmelte Kartoffel zusammen.

Die gegenseitige Entwertung ist das stärkste Gift und killt jede Partnerschaft. Der andere wird zum Feind, misstrauisch wird jede Äusserung, jede Handlung auf Feindseligkeit unter­ sucht. Im fortgeschrittenen Stadium wird alles dahin umgedeutet.

Ein 52jähriger Bankangestellter fasste nach einem längeren Krankenhausaufenthalt einen ernsthaften Vorsatz und wollte nach bald zwanzig Jahren unerträglichen Entwertungskrieges mit seiner Angetrauten endlich friedlicheren Zeiten entgegensehen. Er überlegte gründlich, wie er vorgehen könnte. Er fasste sich ein Herz: „Anna“, sagte er, „ich würde so gen1e wieder einmal mit dir einen Spaziergang machen und mit dir sprechen.“ „Was fällt dir ein“, schrie sie ihn an, „zuerst kümmerst du dich überhaupt nicht um mich, und jetzt wäre ich dir wieder gut genug.“ Nach einigen Tagen versuchte er es noch einmal, diesmal brachte er ihr Blumen mit und schrieb ein Zettelchen dazu: „ohne Worte“. Sie nahm den Strauss und warf ihn in hohem Bogen zum Fenster hinaus: „Was soll ich mit Blumen? Ich möchte lieber mit dir über unsere Ehe sprechen.“ Der Mann wusste nicht mehr weiter und dachte, er wolle es einfach mal auf ganz direktem Weg versuchen. Er schlich sich von hinten an sie heran, wollte sie umarmen, was er aber nicht ganz vollziehen konnte, da sie sich blitzschnell umdrehte und ihm eine Ohrfeige verpasste: „Auch das noch!“ Dann reichte sie die Scheidung ein. Entwertete Menschen sind zutiefst verletzt. In der Regel sind immer beide Partner davon betroffen. Nach Schuld zu fahnden ist völlig überflüssig. Dieses Beispiel zeigt, dass sich diese Frau schon derart entwertet fühlte, dass ihr Mann machen konnte, was er wollte: Es war immer falsch.

Frauen reagieren besonders sensibel auf jede Äusserung, die fehlende Wertschätzung oder Interesse an ihrer Person bekunden. In meiner Fremdgeh-Umfrage sehen 16,5 Prozent Frauen darin einen Grund fremdzugehen. Ebenso ist es für sie von grosser Bedeutung, mit dem Partner seelische Intimität zu erleben. Fehlt diese, suchen 15,5 Prozent Sexualität mit einem anderen Partner. Wer sich entwertet fühlt, wird sich seelisch dem Partner, auch wenn er bereit wäre, nicht öffnen können.

Es gibt Menschen, die durch Entwertung und Entwürdigung sprachlos werden. Es ist beinahe unfassbar für sie und verschlägt ihnen die Sprache. Sie nehmen die Verletzung hin, fressen die tief empfundene Empörung in sich hinein und leiden stumm vor sich hin. Sie antworten mit Verweigerung, mit unausgesprochener Verachtung gegenüber den Partner­ innen. Es ist für sie gar nicht einfach, ihr Verhalten ebenfalls als Entwertung zu erkennen, da sie ja nach aussen hin tatsächlich nicht in Erscheinung tritt. Unausgesprochenes, in Gedanken formuliertes oder hinter tausend Verbotstafeln verborgenes Negatives wird von partnerschaftlichen Antennen so subtil aufgefangen wie unsichtbare Radiowellen von einem Transistor. Der verstummte, nach aussen friedfertige Partner wird dann oft den Vorwurf hören müssen, er sei feindselig und äusserst aggressiv – was ihn noch sprachloser macht, seine stumme Empörung verstärkt und negative Wellen mobilisiert.

Andere reagieren auf entwertende Handlungen oder Äusserungen des Partners/der Partnerin mit einem heftigen Entwertungsangriff. Wie du mir, so ich dir. Bei solchen Kämpfen gibt es keine Sieger, sondern nur Verlierer, die zutiefst in ihrer Würde verletzt sind. Die sich gegenseitig zugefügten Wunden verheilen unterschiedlich schnell, je nach Konstitution. Manche werden Kränkungen und Entwertungen lebenslang nicht mehr los und immer wieder Anlass dafür geben, erneut ein Kampf vom Zaun zu brechen.

Gerade in der Partnerschaft sind wir hellhörig für die kleinsten Nuancen von Entwertung. Schliesslich steht uns dieser Mensch am nächsten, wir lassen ihn in unsere intimsten Seelenräume eintreten, gewähren ihm Einblick in unser Innerstes. „Er sollte mich doch besser kennen!“ „Wie kann sie nur so schlecht von mir denken!“ Dem Partner/der Partnerin mit Geringschätzung oder Entwertung zu begegnen, hinterlässt bei den Betroffenen über die Kränkung hinaus auch noch das Gefühl eines schwerwiegenden Verrats. Wir haben unausgesprochen die Erwartung, dass gerade der Lebensgefährte/die Lebensgefährtin in der Lage ist, eine differenzierte Einschätzung unserer Person, unseres Charakters, unserer Verhaltensweisen vorzunehmen, die selbstverständlich zu unseren Gunsten ausfällt. Wir erwarten die Grossherzigkeit, die Weitsicht, die Toleranz eines wahrhaft Liebenden, der über Unebenheiten grosszügig und liebend hinwegsieht und sein Auge stets auf jene Stelle richtet, die absolut integer und heil ist. Diese Vorstellung verrät nochmals, in welche Gottesnähe wir den Partner/die Partnerin platziert haben, und verweist auf seine stellvertretende Funktion. Der Gedanke, der Partner/ die Partnerin reagiere und antworte aus eigener Herabsetzung wiederum gekränkt mit Entwertung, huscht eventuell als kurze Erkenntnis in Sternstunden durchs Gemüt, versinkt aber sogleich wieder im Vergessen.

Entwertung, Herabsetzung, Herabminderung in partnerschaftlichen Beziehungen sind oft für Drittpersonen kaum nachzuvollziehen. Es ist schwer zu verstehen, weshalb auf eine harmlos anmutende Äusserung, auf eine kaum sichtbare Gestik oder einen Gesichtsausdruck eine derart heftige Reaktion folgt. In vielen winzigen Details wird Entwertendes vermutet, da wird bereits die vorn Partner vergessene Besorgung als Ausdruck höchster Gleichgültigkeit gedeutet, ein langes Telefongespräch, das in die gemeinsam geplanten Abend­ stunden hineinplatzt, als tiefste Missachtung und als Aus­ druck abgrundtiefer Geringschätzung verbucht.

Es ist durchaus möglich, dies als übertriebene, neurotische Reaktion, als Ausdruck eines gestörten Selbstbildes und narzisstischer Überbewerfung der eigenen Person abzutun. Aus einer bestimmten Perspektive betrachtet mag dies durchaus zutreffen, trifft aber auch als psychologische Erklärung den Nagel nicht auf den Kopf und wird vor allem in keiner Weise dazu beitragen, die Kränkungen besser einordnen zu können und entsprechend förderlicher damit umzugehen. Selbstverständlich bringen wir alle eine Vorgeschichte mit. Ist diese gespickt mit negativen Erlebnissen, mit Zurücksetzung, mit Heruntermachen und Geringschätzung, werden WIY möglicherweise sehr viel schneller und äusserst empfindlich auf tatsächliche wie auch auf vermeintliche Entwertungen re­ agieren. Wir wittern hinter jeder Bemerkung, hinter jeder Verhaltensäusserung eine Attacke gegen das eigene Selbstwertgefühl. Vielleicht haben wir uns aber gerade durch eine strapaziöse Vorgeschichte einen Panzer zugelegt, haben uns gegen das Gift der Geringschätzung imprägniert, so dass es uns relativ wenig anhaben kann. Vielleicht aber sind wir schlagfertig geworden, zahlen jeden Angriff, auch wenn er nur in unserer Vorstellung stattfindet, ohne Umschweife unverzüglich zurück, oder beherrschen die Entwertungstaktik durch Spötteln, zynisches und sarkastisches Herabmindern in ihrer virtuosen Maskierung.

Die Empörung, die wir bei Geringschätzung, Entwertung und Entwürdigung empfinden, nährt sich aus zwei unter­ schiedlichen Richtungen. Einmal aus der ganz persönlichen gegenwärtigen Verletzung. Zudem übersteigt sie die Grenzen des individuellen Schrebergartens und sprengt den selbstbezogenen Charakter.

Entwertung ist Entwürdigung. Ein Angriff auf die Würde zielt auf den wundesten Punkt im menschlichen Gefühlsgetriebe. Dort getroffen zu werden ist gleichbedeutend mit einem schweren Angriff auf Leib und Leben. Würde ist die Zusammenfassung, die Essenz der menschlichen Integrität. Wird diese verletzt, ist es nicht nur eine schwerwiegende und absolut frevelhafte Attacke gegen das Individuum, sondern auch gegen die Schöpfungsintelligenz, letztlich gegen Gott. Wenn gegen die Würde des Menschen angegangen wird, ist es immer gleichzeitig ein Vergehen gegen Gott. So wird jede Verletzung der menschlichen Würde zu einem zerstörerischen Akt' an der baulichen Grundsubstanz, aus der das menschliehe Wesen geformt ist. Diesen Vandalismus einfach hinzu­ nehmen würde bedeuten, seine zweifache Herkunft zu verleugnen. Deshalb wird oft ein Kampf geführt, der stellvertretend die Menschenwürde aller verteidigt.

Menschen, die in ihrer Würde verletzt worden sind, haben über ihr Selbstregulierungssystem mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, die verheerende Auswirkung möglichst klein zu halten: Verdrängung, aggressive Überreaktion, narzisstische Selbstüberhöhung als Schadensbekämpfung. Es findet eine Mobilisierung sämtlicher Kräfte statt, die schwere Beleidigung an Mensch und Schöpfung nicht zuzulassen. Männer und Frauen, die in der Partnerschaft bis auf die Knochen herabgewürdigt worden sind, versuchen zu retten, was zu retten ist. Eine beliebte Reparaturwerkstätte für die verlorene Würde ist der Fremdsprung. Fremdgehen, um die Entwertung aufzuheben, rückgängig zu machen und erlittene Verletzungen zu kurieren.

Die Standarderklärung vieler Fremdgänger und Fremdgängerinnen „Mein Partner/meine Partnerin versteht mich nicht“ leuchtet selbst den härtesten Moralisten ein und wird als Entschuldigung akzeptiert. Vom Partner/von der Partnerin nicht verstanden zu werden wird automatisch mit Entwertung gleichgesetzt. Da mangelt es an Einfühlung, an Mitgefühl, ja letztlich an Interesse, sich auf die innere Welt des Partners/der Partnerin einzulassen. In einer Partnerschaft allein gelassen zu werden mit all seinen Sorgen, Ängsten und Nöten ist für viele schwerer zu ertragen, als auf sich gestellt zu sein, weil man eben allein lebt. „ Ich fühle mich zwar wie eine Witwe, trotzdem vergällt der Ehemann gespenstisch mein Leben aus dem Hinterhalt, für mich als Mensch zeigt er keinerlei Interesse.“

Am Anfang einer Beziehung steht immer ein hohes Mass an Wertschätzung, die eine ganz besonders grosse Anziehung ausübt und uns in dieser Zeit für andere Liebesabenteuer immunisiert. Fühlen wir uns später entwertet, sind wir für jedes anerkennende Augenzwinkern anfällig.

Der Versuch, mittels einer aushäusigen Liebschaft, einem kurzen Flirt oder einer länger dauernden Affäre das Selbstwertgefühl zurückzugewinnen, hat daher sehr viel mehr mit dem Wiederfinden der abhanden gekommenen Würde zu tun als mit der jeweiligen Person. Deshalb sind diese Flirts auch beliebig austauschbar, haben sie doch nur diese eine Funktion zu erfüllen.

Unter diesem Gesichtspunkt kämpfen Fremdgänger und Fremdgängerinnen um sich selbst, ihre Würde, ihren Selbst­ wert. Es ist ein Versuch, sich und seiner eigenen Menschen­ würde die Treue zu halten.

Das verflixte siebte Jahr

Paare fürchten das siebte Jahr wie die Pest. Ob es tatsächlich zutrifft, dass zahlreiche Beziehungen im siebten Jahr in Schwierigkeiten geraten oder auseinandergehen, oder ob es nur als düsteres Gerücht herumgeistert, sei dahingestellt.

Jedenfalls steht die Zahl Sieben in alter Tradition: „Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn; denn an ihm hat Gott geruht von all seinem Werke, das er geschaffen und vollbracht hat.“

In der christlichen Kultur ist der siebte Tag ebenfalls als Tag vorgesehen, an dem alle Geschäftigkeit ruhen soll. In der jüdischen Religion wird der Sabbat sehr ernst genommen. Kein Werkeln, keine körperlichen Aktivitäten. Es gibt aber nicht nur den Sabbattag, sondern auch das Sabbatjahr. Nur wenige allerdings können es sich leisten, sich ein Jahr vom geschäftigen Leben zurückzuziehen und sich mehr den Innenräumen zuzuwenden.

Die Tradition des siebten Tages scheint in einem krassen Widerspruch zum gefürchteten siebten Beziehungsjahr zu stehen. Auf der einen Seite dient es dem Innehalten und Zurückschauen, der Regenerierung der Kräfte, der Neuorientierung, und auf der anderen kündet es Stref6 oder gar die grof6e Katastrophe an. übertragen wir freilich die traditionelle Funktion und Bedeutung des siebten „Zeitabschnitts“ auf Beziehungssysteme, wird genau der gleiche Aspekt sichtbar, nämlich der des Ausruhens, des Ausatmens und Loslassens. Und bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die Beziehungskrise als absolute Notwendigkeit, sich auf sich und seine ganz persönliche Aufgabe, die jeder individuell zu erfüllen hat, wieder zurückzubesinnen.

Wenigen gelingt es, in einer Beziehung sich selbst nicht abhanden zu kommen. Der Partner/die Partnerin steht im Zentrum. wir kreisen um ihn/sie herum wie die Erde um die Sonne. Wir erspüren, was sich der Partner wünscht, was für ihn gut wäre, wir übernehmen stellvertretend für ihn seinen Gefühlshaushalt, leiden für ihn, freuen uns für ihn, lachen für ihn. Dabei geht der Kontakt zu uns selbst verloren, und irgendwann wissen wir mehr über die Befindlichkeit des Partners als über die eigene. Dazu kommt noch, dass wir all das, was uns vielleicht einmal sehr wichtig war, was uns in Begeisterung versetzte, unsere Kreativität und Leistungsfreude ankurbelte, zurücksteckten und uns ganz den Präferenzen des anderen unterordneten. So kommt die Freude an einer Sportart abhanden, Vorlieben für kulturelle Ereignisse und Veranstaltungen gehen verloren, langjährige Freundschaften versanden.

Es kommt noch schlimmer. Nicht selten opfern wir etwas uns Wichtiges, von dem wir lediglich annehmen, es gefalle dem Partner nicht. Wenn Paare nicht in der Lage sind, dar­ über zu sprechen, sich über ihre Vermutungen gegenseitig auszutauschen, ist es durchaus möglich, dass sich beide für sie einst wichtige Dinge im Leben abschminken und zugunsten des anderen aufgeben. Das Opfer ist nicht nur völlig überflüssig, sondern darüber hinaus wird es sich ungünstig auswirken. Die Zeit der Anpassung, des Verzichts und der Selbstverleugnung ist selten ein ganzes Leben lang auszuhalten. Der Siebenjahresrhythmus, der eine Verschnaufpause im siebten Jahr vorsieht, hilft uns, nicht über die eigene Energie hinauszuwirtschaften. Nach sieben Jahren treten Ermüdungserscheinungen auf. Das Sabbatjahr in der Partnerschaft lässt uns innehalten, Zwischenbilanz ziehen, wieder Fühlung mit uns selbst aufnehmen, um eventuelle Korrekturen vorzunehmen und uns mehr Raum für die eigene Entwicklung zu verschaffen.

Eine andere Möglichkeit ist es, den sich meldenden Drang nach mehr Selbstentfaltung noch für eine weitere Runde zu unterdrücken. Beim nächsten Sabbatjahr wird er sich erneut melden, noch etwas vehementer als zuvor, und sich jedem rationalen Argument gegenüber absolut unzugänglich zeigen. Dann gibt es noch Menschen, die sich einfach mal aus dem ehelichen Beziehungssystem absetzen. Sie ziehen – ohne Groll – in eine andere Wohnung und wollen nichts anderes als Ruhe, um zu sich zu kommen. Es ist für sie eine Zeit, da sie wieder mit jenen abgeschobenen Wünschen und Gepflogenheiten aus früherer Zeit in Kontakt kommen und herausfinden wollen, für welche Bereiche, die ihnen sehr am Herzen liegen, auch künftig in der Beziehung ein Platz zu schaffen ist. Für viele ist es unvorstellbar, sich neben dem Partner/der Partnerin auch noch Freiraum für ganz persönliche Vorlieben zu schaffen. Unvorstellbar, etwas zu unternehmen, was „nur“ einem selbst Freude macht. Wie viele geben ihre Vorliebe für eine bestimmte Musikrichtung auf und hören sich das an, was dem Partner/der Partnerin gefällt.

Frauen in der Schweiz, deren Männer den alljährlichen Militärdienst absolvieren, blühen oft während seiner Abwesenheit auf. Endlich wieder Operettenmusik durchs Haus trällern lassen! Einen Theaterbesuch. Oder die Freundin besuchen, mit der sonst nur telefonisch Kontakt gehalten wird. Männer geniessen die Abwesenheit der Frau ebenfalls. Wochenbettzeit. Endlich wieder mal mit den alten Kollegen ohne schlechtes Gewissen ausgehen. Oder bis tief in die Nacht Krimis im Fernsehen schauen, ungeniert in einem Herrenmagazin herumblättern. Oder, oder ...

Wer immer zurücksteckt, wird sich eines Tages als zu kurz gekommen fühlen. Mangelerscheinungen zeigen sich. Es wären eigentlich kleine Bedürfnisse gewesen. Durch jahrelangen Verzicht aber schwillt der Mangel ins beinahe Unermessliche und vor allem ins Unkenntliche. Mit der Zeit wissen wir nicht mehr ganz genau, weshalb wir unzufrieden sind. Die ständige Anpassung klebt wie ein zu enges Kostüm an uns, verhindert freies Atmen und schränkt die Bewegungsfreiheit ein, und nur mit grösster Anstrengung halten wir uns zurück, drosseln das menschliche Grundbedürfnis, aus dem vollen zu schöpfen. Wir verwenden viel Energie darauf, nicht einfach alles Einengende, alle Hindernisse zu sprengen und uns zu befreien.

Das Sabbatjahr muss ja nicht genau das siebte Jahr sein. Einige halten noch länger durch, anderen bleibt die Puste schon vorher weg. Jetzt machen sich Ermüdungserscheinungen bemerkbar. Wir sind nicht mehr in der Lage, diese immense Energie aufzubringen, um eigene Anliegen und Wünsche stets zu verleugnen. Der Hunger nach Freiheit, nach Leben, nach sich selbst quillt bei manchen gleichsam über Nacht aus allen Ritzen, bei anderen meldet er sich beinahe unmerklich, dennoch aber drängend, unaufhaltsam und letztlich unerbittlich.

Oft wird das Bedürfnis nach mehr Freiraum, um vom Partner/von der Partnerin unabhängig gelebten Interessen nach­ zugehen, in der Phantasie mit dem Wunsch nach einer kurzen Affäre als Verschnaufpause oder einer neuen Partnerschaft gleichgesetzt.

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