Fortsetzungsroman: Die Kirschen in Nachbars Garten / Teil 5

Julia Onken, 14.12.2022

Von Treue- und anderen Brüchen / Teil 5

Julia Onken
Julia Onken

Auszug aus dem Buch "Die Kirschen in Nachbars Garten", erhältlich im Bücher-Shop:

Umbruch

Ruhe vor dem Sturm

Ich habe meine Haushälterin gebeten, die abgefallenen Rosenblätter auf dem Schreibtisch nicht wegzunehmen. Inzwischen halten sich nur noch einige hauchdünne, hellgelbe Blütenblätter zu einem letzten Kelch zusammen und welken entkräftet ineinander hinein.

Der spärliche Nachrichtenfluss, der mich von Antonia erreichte, verschaffte mir eine grosse Verschnaufpause, in der ich mich mit meinen eigenen Gedanken beschäftigen konnte. Nun aber ist Raina inzwischen aus der Untersuchungshaft entlassen worden und wartet auf die Gerichtsverhandlung. Sie erhielt die Auflage, nicht ins Ausland zu verreisen, bis das Urteil gesprochen ist. Nun lebt sie mit Hubertus in ihrer Wohnung, sie versuchen zu klären, sich wieder näherzukommen, was ihnen aber nicht gelingen will. Es sei zu viel zwischen ihnen geschehen, sagt sie, sie finde weder einen Zugang zu ihm noch zu sich selbst.

Raina nimmt mich wieder voll in Anspruch, darüber bin ich erstaunlicherweise nicht einmal unglücklich. Sie ruft abends nach 22 Uhr zum verbilligten Tarif an, und dann wird es eine lange Nacht.

Raina ist in ihren Äusserungen sehr klar und besonnen, so wie ich sie von früher her kenne. Nichts von den chaotischen Ausbrüchen ist übriggeblieben. Nur manchmal spricht sie schnell, macht eigenwillige, für mich schwer nachzuvollziehende Gedankensprünge.

Auch sie will – wie damals Hubertus – keinen Rechtsbeistand hinzuziehen. Die Sache sei klar. Da gebe es nichts zu interpretieren. Sie habe das Feuer in der Kapelle gelegt. Sie stehe zu ihrer Tat. Voll und ganz. Und sie sei auch bereit, die Konsequenz zu tragen. Zudem würde sie in einer gleichen Situation wieder so handeln.

Die vielen Befragungen und Verhöre während der Untersuchungshaft, die drei Wochen dauerten, haben ihre Lebensgeschichte aufgewühlt. Nun will sie noch mal gezielt alle Lebensstationen durchgehen, mit mir darüber sprechen, ohne sich unter Druck zu fühlen, zurückschauen, um zu ordnen und zu verstehen.

Raina war das jüngste von vier Mädchen. Sie war mit fünf Jahren Altersunterschied zur nächstälteren Schwester das Nesthäkchen und Mutters Liebling. Der Vater, als Versicherungskaufmann viel unterwegs und sehr beansprucht, kümmerte sich vor allem am Wochenende um die Kinder, indem er sich sportlich mit ihnen betätigte. Er war ein hervorragender Schwimmer, ein guter Tennisspieler und auch Ski laufen konnte er ausgezeichnet. Die drei älteren Geschwister wurden von ihm in die Sportarten eingeführt und sehr gefördert, während die kleinste bei der Mutter blieb, die keinerlei Gefallen am Sport hatte. Raina war über diese Einteilung nicht unglücklich, und sie vermisste nichts. Nach der Einschulung zeigte sich, dass sie im Vergleich zu den anderen Kindern überdurchschnittlich schnell lernte. Sie war sofort Klassen­ beste. Auch war sie musikalisch sehr begabt und besuchte mit viel Freude den obligaten Blockflötenunterricht, darüber hin­ aus lernte sie Klavier spielen und nahm Geigenunterricht, wohin die Mutter sie stets begleitete. Den Vater beeindruckte sie mit ihren herausragenden Leistungen keineswegs, hingegen war die Mutter mächtig stolz auf ihre begabte Jüngste. Raina erinnerte sich, dass sie immer dann in grosse Schwierigkeiten geriet, wenn sie sich – auch nur für kurze Zeit – von der Mutter trennen musste, wie zum Beispiel für einen Schulausflug, der sie einen ganzen Tag von der Mutter fernhielt. Meistens wurde sie vorher krank und konnte zu Hause bleiben. Die Familie unterteilte sich in zwei Gruppen, die Sport­ gruppe, bestehend aus Vater und den drei älteren Schwestern, die viel gemeinsam unternahmen, und die Zweiergruppe Mutter-Tochter, die sich stärker auf musische und intellektuelle Werte stützte.

Als Raina zehn Jahre alt war, erkrankte die Mutter plötzlich an Darmkrebs. Es folgten Operationen, Krankenhausaufenthalte, Kuraufenthalte. Raina litt unter der Trennung sehr und setzte alles daran, dass ihre Mutter jeweils möglichst schnell wieder entlassen wurde und zu Hause eine umfassende Pflege erhielt, was damals nicht einfach war. Um die Mutter pflegerisch bestens zu versorgen, übernahm sie es selbst und weigerte sich, weiterhin die Schule zu besuchen, was ihr grösste Schwierigkeiten bescherte. Sie leistete einen Rund-um-die­Uhr-Einsatz. Als das alljährliche Dorffest stattfand, ging sie mit ihrer Schwester hin, um sich etwas Ablenkung zu verschaffen. Sie fühlte sich für Stunden von ihren Sorgen befreit und genoss es einfach, wieder einmal unter Leuten zu sein. Sie schloss sich einer Jugendgruppe an, die im nahe gelegenen Wald einen Feuerplatz hatte, um Würste zu braten. Johannes, ein vierzehnjähriger Junge aus ihrer Nachbarschaft, war sehr nett zu ihr, kümmerte sich um sie, scherzte mit ihr, und sie mochte ihn auf Anhieb, so dass sie die Zeit vergass. Sie kehrte erst nach Mitternacht zurück. Der Zustand der Mutter hatte sich in ihrer Abwesenheit sehr verschlechtert, sie sass die ganz Nacht mit schlechtem Gewissen an ihrem Bett. Seit diesem Vorfall ging es nur noch bergab. Schliesslich blieb ihr nur noch eines, als Zwölfjährige die geliebte Mutter in den Tod zu begleiten. Danach wurde es leer um sie, und sie hatte das Gefühl, vom wichtigsten Menschen verlassen worden zu sein. Die Schwestern waren mit sich selbst beschäftigt. Der Vater ebenfalls. Raina war wie betäubt und wollte unter keinen Umständen mehr zur Schule zurückkehren. Obwohl sich der Vater viel Zeit für sie nahm, gelang es ihm nicht, sie aus ihrer Erstarrung zu lösen. In seiner Ratlosigkeit brachte er sie in ein Internat, das bekannt dafür war, sich nicht nur um den Bildungsaspekt der Kinder zu kümmern, sondern ihnen in schwieriger Lebenssituation psychologische Unterstützung zu geben. Raina fühlte sich fremd dort, Pädagogen und Psychologen gegenüber empfand sie ein tiefes, unüberbrückbares Misstrauen. Nach zwei Monaten verliess sie bei Nacht und Nebel das Internat und trampte nach Hause. Die Familie war alles andere als erfreut, aber sie wurde nicht zurückgeschickt. Der Vater versuchte, sie zur Rückkehr in ihre alte Schule zu bewegen, was ihm schliesslich gelang. Ausserhalb der Schule blieb sie sich selbst überlassen. Der Vater blieb nicht lange allein, er lernte bald eine neue Frau kennen, eine ebenfalls begeisterte Sportlerin, und heiratete sie. Raina empfand die schnelle Heirat wie einen Verrat an der verstorbenen Mutter und fand zur neuen Frau des Vaters keinen Kontakt. Es war für sie nun äusserst quälend, eine fremde Frau im Bett ihrer verstorbenen Mutter zu wissen. Zudem hatte sie stets den Eindruck, die Frischvermählten in ihrem Glück zu stören. Obwohl sie regelmässig die Schule besuchte, blieben ihre Schulleistungen sehr schlecht, und sie wollte so schnell wie möglich von der Schule. Da lernte sie Hubertus kennen, der zwei Klassen über ihr zur Schule ging. Er kümmerte sich sehr um das traurige Mädchen, gab ihr auch noch Nachhilfestunden und ermunterte es zum Weitermachen, um wenigstens bis zum Abitur durchzuhalten. Hubertus hatte zu dieser Zeit seine von ihm sehr geliebte Grossmutter verloren. Er konnte sich also gut in Rainas Trauer einfühlen. An freien Nachmittagen und an den Wochenenden besuchten sie zusammen die Gräber ihrer Lieben. Hubertus nahm in Rainas Seele bald den freigewordenen Platz ein, er wurde zu ihrem Vertrauten, mit dem sie alles besprechen konnte, und bald liebte sie ihn fast so innig wie ihre Mutter. Zudem wurde sie von Hubertus' Eltern herzlich aufgenommen. Und es dauerte nicht mehr lange, da zog sie aus dem elterlichen Haus aus und richtete sich in Hubertus' Familie häuslich ein. Es war ihre glücklichste Zeit seit dem Tod der Mutter. Sie fühlte sich in der neuen Familie zum ersten Mal seit langem wieder geborgen. Raina wurde von allen geschätzt, besonders der Mutter fühlte sie sich sehr verbunden. Aber auch zum Vater hatte sie einen guten Kontakt, und sie wunderte sich manchmal darüber1 dass sie ihren eigenen Vater so schnell vergessen konnte. Hubertus studierte Pädagogik, Raina besuchte die Schule für Sozialarbeit.

Nach Abschluss der Ausbildung heirateten sie. Am liebsten hätte sie noch länger bei den Schwiegereltern gewohnt, doch bald folgte das erste Kind, und der Platz wurde zu eng. Dann kam das zweite und gleich darauf das dritte. Während dieser Zeit arbeitete Raina halbtags in einer Familien-Beratungsstelle, während Hubertus die Hälfte von Haushalt und Kinderbetreuung übernahm und zu Hause an einem Projekt für die Wiedereingliederung Alkoholabhängiger arbeitete. Später wurde Hubertus zum Leiter des Tagungshauses Schloss Ripsen gewählt, das damals noch über ein sehr spärliches Kursprogramm verfügte. Zusammen mit Raina gelang es ihm, aus einem unscheinbaren Tagungshaus, das kaum regionale Beachtung fand, ein Tagungszentrum zu schaffen, das weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt wurde.

Raina und Hubertus galten als ideales Paar, sie ergänzten sich gleichermassen als Eltern und in beruflicher Hinsicht.

Mitten in diesem wolkenlosen ungetrübten Ehehimmel brach das Gewitter los. Ohne Vorwarnung.

Doch das stimmt nicht ganz. Ich erinnere mich sehr genau an Hubertus' Erzählung, damals, kurz nach Wandas Selbstmordversuch, als er in unseren Fastenkurs platzte. Er hatte die Vorzeichen gefühlt. Er hatte gespürt, was er nicht benennen konnte. Er sagte damals nicht etwa, er habe sich eingeengt gefühlt oder die Ehe mit Raina sei eintönig geworden, er sprach von: Alles wurde einerlei.

„Wie meinst du das?“ wollte ich wissen.

„Ichweiss auchnichtgenau. Irgendwie war alleseinerlei.“ Aus seiner Biographie weiss ich, dass ernoch eine dreiJahre jüngere Schwester hatte, diegeistigbehindertwar. Er war ihr sehrzugetan und liebtesiebesonders, alssienocheinkleines Kindwar.Später wurdeerzuihrem Beschützer. Siebesuchte eineSonderschule, zuder ersie jeden Morgen mit dem Fahrradbrachte.Auch zuseinerMutterhatte er ein besonderes Schutzverhältnis.Dasich dieMutter von ihrem Mann gerade inihrerSorgeumdasbehinderteKindnichtverstanden fühlte, wandte siesich an den Sohn. Je älter er wurde, umso mehrnahmerdieHollealsihrVertrauterein,mitdemsiealles besprechen konnte. Als er Raina kennenlernte,war er in der RolledesVerstehenden,Tröstenden,Fürsorgenden schonbestens geübt undvorbereitet. Er fühlte sich nicht nurfür das Wohl von Schwester und Mutter zuständig, sondern auchfür dasvonRaina,späternochfürdieKindersowiefürdas Tagungshaus,dasPersonalundalldieTagungsteilnehmerlnnen. Für sichbeanspruchte erkaum etwas. Allemochten ihn gern.Er gehörtezuden Menschen, dielieber imHintergrund nach dem Rechten sehen, er blieb beinahe unsichtbar, in der persönlichen Begegnung war ereherfarblos,hobsichweder durch besondere Liebenswürdigkeit hervor, noch bestach er durch eine starke Ausstrahlung.Anihm war alles irgendwie „einerlei“.Undsofühlteersichauch.

Vom Jagdruf der Hormone

Es scheint, dass vor allem jene Männer davon betroffen sind, die den Affen als ihren Vorfahren betrachten. Sie sind ganz Natur. Jeder Willensimpuls scheitert an der gigantischen Stosskraft im Schritt. „Jeder Rock, der mir vor den Lauf gerät, muss erlegt werden.“ „Die Katze lässt das Mausen nicht, es sei denn, man schlägt sie tot.“ Die Jagd gehört zu ihm. Er ist kaum von schlechtem Gewissen geplagt, wie sich auch ein Hund keine grossen Sorgen darüber macht, wenn er einer Katze hinterherjagt. Immerhin sind es 15,5 Prozent der fremdgehenden Frauen und 29 Prozent der Männer, die im Falle einer aushäusigen Affäre ausschliesslich an Sex interessiert sind. 45,5 Prozent Frauen und 31,5 Prozent Männer wünschen sich bei aushäusigen Beziehungen etwas mehr als nur sexuelle Kontakte.

Nun gibt es Männer, die ihr gesamtes Dasein unter die Hormondiktatur stellen und ihre Identität davon ableiten.

18 Prozent der Männer machen den „natürlichen Jagdtrieb“ für das Fremdgehen verantwortlich. Im Zentrum ihrer Interessen steht der sich stets wiederholende Kreislauf von jagen, erobern, erlegen, jagen ... Und auch auf dem Sterbebett können sie es nicht lassen, der Schwester unter den Rock zu fassen. Ein 42jähriger Informatiker, der sich mehr in anderen als im eigenen Ehebett aufhielt, erklärte mir: „Männer, die hormonell überdotiert sind, haben es verdammt schwer. Es gibt nun mal ‚evergeile‘ Männer, die mit einer echten Hausmutter verheiratet sind. Wenn sie keine Aussenstationen hätten, um den Überdruck loszuwerden, würden sie explodieren.“

Um den sexuellen Überdruck zu regulieren, übernehmen 36 Prozent Männer und 44,5 Prozent Frauen gezielt die Initiative. um regelmässig mit einer anderen Person sexuellen Kontakt auszuüben. Ist auf freier Wildbahn nichts zu finden, helfen sich 11 Prozent der Männer mit Prostituierten oder Callgirls aus. 26 Prozent suchen gelegentlich eine Prostituierte auf, 5 Prozent einmal wöchentlich, 6 Prozent einmal monatlich.

Die Lebensmitte ist sowohl für die Frau als auch für den Mann eine krisenanfällige Zeit. Bei Männern kann beobachtet werden, dass sie bereits nach dem 40. Lebensjahr in ihrer sexuellen Aktivität merklich ruhiger werden. Bei anderen hingegen bricht der erst später aus, oft mit Beginn des fünften Jahrzehnts. Spätestens jetzt wird manifest, dass nicht nur die Frau, sondern auch der Mann der Vergänglichkeit unterworfen ist. Diese schmerzliche Tatsache wollen einige nicht wahrhaben. Alles bäumt sich dagegen auf, das Hirn gerät in Turbulenzen und beruhigt sich erst wieder, wenn der Gegenbeweis erbracht wurde. Und da es doch nicht wenige sind., die ihre Fähigkeit zu sinnlichem Genuss aus­ schliesslich auf der sexuellen Bühne erleben, werden alle existentiellen Probleme auch dort abgehandelt. Wenn die gleichaltrige Gattin den ehelichen Gemahl sexuell nicht mehr zu stimulieren vermag, wird er sich aushäusig umsehen und sein Jagdrevier verlagern. Und wenn er nicht gerade potthässlich, strohdumm und ein absolutes Ekel ist, wird er bald fündig. Trophäe. Sieg über den Tod.

Bei Frauen gibt es ähnliches, hier handelt es sich eher um Jagdinstinkt als um Jagdtrieb. Es geht nicht darum, sich jagen zu lassen, sondern selbst handelnd zu werden. Die Frau schüttelt die passive Wartehaltung ab und handelt. Sie trifft eine Auswahl, verfolgt ein Ziel. Sich endlich Freiheiten wie ein Mann erlauben, einfach auswählen und herzhaft zulangen. Sich nicht mehr appetitanregend hindrapieren, hoffend, wartend, schmachtend, dass da einer kommen möge und einen erwählt. Zum Teufel mit dem Tanzschulsyndrom. Aber so schnell scheinen wir die Vergangenheit nicht loszuwerden. Im Strandbad zeigen oft auch durchaus emanzipierte Frauen Verhaltensweisen, über die sie sich sonst selbst am meisten wundern. Sie blicken wie einst ihre Mütter beim Promenieren durch die sich im Sand Sonnenden stur geradeaus ins Niemandsland. Kein Blick nach links oder rechts: Es gilt, den Bauch einzuziehen, sich kerzengerade zu halten und grazil und zugleich selbstbewusst wie eine Elfe durch die Menge zu schreiten. Ganz im Bewusstsein, von vielen Augen betastet und beurteilt zu werden. Ein Mann hingegen lässt sich keine Gelegenheit entgehen, überall die Herumliegenden mit allergrösstem Interesse zu begutachten. Diese unsägliche Frauenqual abzustreifen, sich nicht mehr wie eine Kuh auf dem Markt von anderen einschätzen zu lassen, sondern selbst begutachtend und handelnd zu werden, ist für einige Frauen wie eine Erlösung. Und sie geniessen es in vollen Zügen, jagen, feuern ihre Schüsse ab und schleppen das erlegte Wild ins Bett. Solche Frauen müssen damit rechnen, dass sie als Schwerstgestörte eingeschätzt werden. Wenn zwei das Gleiche tun ... Gleichstellung lässt grüssen.

Selbstverständlich scheint auch ihnen der Aspekt der Vergänglichkeit ein Schnippchen zu schlagen und spielt eine grosse Rolle. Für viele ist es nicht leicht, älter zu werden. Vor allem für jene, die nach dem Strickmuster leben: Ich werde begehrt, also bin ich. Mit dem Älterwerden, und das fängt bereits in der Lebensmitte, also mit 38 Jahren an, machen sie die Erfahrung, weniger zu gefallen. Und bald heisst es für sie: Je weniger ich gefalle, um so weniger gibt es mich. Das ist eine der schmerzlichsten Lektionen, die Frauen zu lernen haben. Erst wenn es uns gelingt, den Weg zu uns selbst freizuschaufeln, erkennen wir darin auch eine Befreiung. Nicht mehr gefallen zu müssen setzt ungeahnte Energien frei, die bislang in den Tanz um das goldene Kalb investiert worden sind.

Vorsturmwarnung

Felix ist in die Stadt gefahren. Er wollte unbedingt allein gehen, um sich viel Zeit im Computerladen nehmen zu können. Es ist fast unerträglich heiss, die Sonne brennt gnadenlos in mein Arbeitszimmer. Ich vergass, Felix noch vor seiner Abfahrt zu bitten, mir die Fensterläden zu schliessen, die derart schwer sind, dass ich sie kaum bewegen kann. Das ärgert mich. Ich bin ungern abhängig, vor allem in belanglosen Alltagsdingen.

Gegen Abend ziehen Wolken auf, der Weiher vor meinem Fenster verändert die Farbe, schwefelgrau liegt er da. Die Hunde verkriechen sich in der Küche. Felix ist noch immer nicht zurückgekehrt, als die ersten grossen Tropfen auf die heissen Steine der Terrasse fallen und sofort verdampfen. Dann aber blitzt es mitten in die Tropfen hinein, es kracht fürchterlich. Solch heftige Gewitter gibt es nur in dieser Gegend, sonst allenfalls noch im Jüngsten Gericht. Die Elektrizität bricht bei jedem Blitz zusammen, Computerchips verrösten, Faxgeräte schmoren und gelegentlich schlägt einem der Blitz den Telefonhörer aus der Hand. Der Regen wird heftig und peitscht ausgerechnet von Süden an meine ungeschützten Fenster. Alle Fenster im Haus sind dicht – ausser die in meinem Arbeitszimmer. Wir hatten sie alle ersetzen lassen, durch Doppelglasfenster (ein Fremdwort hier), die ein deutscher Fensterbauer in die alten 300jährigen Eichenrahmen eingesetzt hat. Trotzdem ist ein heftiges Gewitter, das von Süden kommt, nicht trocken zu überstehen, ohne die Läden zu schliessen. Wasserbäche rinnen die Wände entlang und sammeln sich auf dem Boden zu grossen Pfützen. Meine Haushälterin und ich versuchen mit vereinten Kräften, die schweren, über drei Meter hohen Eichenläden zu schliessen, was uns leider nicht gelingt. Von Felix fehlt jede Spur. Und ich bin stocksauer. Als er endlich kommt, hat sich das Gewitter längst verzogen, die Abendsonne versinkt friedlich hinter den Bäumen, und die Wasserlachen am Boden sind bereits wieder trocken.

Die Geschichte von Raina und Hubertus beschäftigt mich noch manche Abende bis in die Nacht hinein. Raina fragt mich stets, bevor sie zu sprechen beginnt, ob ich Zeit habe. Wozu soll Zeit sonst nützlich sein, wenn wir sie nicht dann haben, wenn es brennt, bei anderen, bei uns selbst.

Bevor es zum grossen Eklat zwischen Raina und Hubertus kam, ereigneten sich sonderbare Zwischenfälle, die sie nicht einordnen konnte. Hubertus, sonst die Zuverlässigkeit in Person, hatte völlig vergessen, die Flüge für die drei Wochen dauernde Ferienreise nach Australien zu buchen. Sie hatten schon alles gepackt, erst als Raina sich erkundigte, fiel es ihm ein. Es gab einen Riesenkrach. Sie machte ihm heftige Vorwürfe, die Kinder, die sich ebenfalls auf die Reise gefreut hatten, waren enttäuscht, und er setzte sich ins Auto und fuhr davon. Über diese unangenehme Sache schwiegen sie sich aus, machten noch das Beste daraus, indem sie verschiedene Wanderungen unternahmen. Bald wuchs Gras darüber, und alle vermieden es, das Wort „Australien“ in den Mund zu nehmen. Auch im beruflichen Bereich kam es zu Fehlleistungen. Hubertus plante an einem Wochenende die Tagungen doppelt. Es reisten statt sechzig einhundertzwanzig Menschen von überallher an. Es gab eine grosse Katastrophe. Obwohl alles versucht wurde, jene Teilnehmerinnen, die nicht am gleichen Tag wieder nach Hause zurückfahren konnten, wenigstens in einem Hotel in der Nähe unterzubringen. Einige wandten sich mit Klagen an den Vereinspräsidenten des Tagungszentrums. Hubertus wurde zu einem Gespräch vor den ganzen Vorstand gebeten, wo er sich hätte erklären sollen. Und da entwich ihm jener verhängnisvolle Satz, der ihm Jahre später den Verdacht einbrachte, Feuer im Schloss gelegt zu haben: „Eines Tages sprenge ich den ganzen Laden in die Luft.“ Noch einmal gingen sowohl Raina als auch Hubertus darüber hinweg, sie erklärten es sich damit, dass Hubertus dringend Urlaub benötigte. Eine weitere Urlaubsreise fiel ebenfalls ins Wasser, da er sich zwei Tage vorher ein Bein brach: Er war von seinem Bürostuhl gefallen.

Innerlich stand ihm das Wasser bis zum Hals. Ihm wurde eng. Ein Mensch, der sich 42 Jahre lang immer nur um andere kümmert, bekommt irgendwann einmal die Rechnung präsentiert. Rückblickend war seine Ehe für ihn äusserst unbefriedigend. Es war eben alles einerlei. Raina sei ihm schon bald wie eine Schwester vertraut gewesen, und als sie endlich sexuell miteinander verkehrten, wogegen sich Raina lange gewehrt hatte, sei es nur noch ein Druckablassen für ihn gewesen. Die Sexualität führte bei diesem Paar ein Schattendasein. Nachts. Wenn alle Lichter gelöscht waren. Schnell und heimlich, eben einerlei sei es gewesen.

Als er mit Wanda an jenem Sonntagnachmittag in seinem Büro die Jahresprogramme verpackte, hatte er eben wieder einmal seine sexuelle Schnellabfertigung hinter sich und fühlte sich nicht gut in seiner Haut. Die unbeholfene Art von Wanda einerseits, andererseits aber ihr unverhohlen verführerisches Verhalten liessen etwas in ihm anspringen, das er nicht mehr unter Kontrolle bringen konnte. Nachdem er zum ersten Mal sexuell mit ihr verkehrt hatte, gab es kein Zurück. Endlich war es ihm möglich, wie ein erwachsener Mann den Körper seiner Geliebten zu erforschen und spielerisch allen Impulsen zu folgen, ohne dass ihm Grenzen gesetzt wurden. So oft und so lange er wollte. Wie ein geschenktes Leben sei es für ihn gewesen, jeweils diese eine Nacht, donnerstags in der Kapelle.

Er begann Raina abzulehnen, gelegentlich gar dafür zu hassen, dass er diese Wonne nicht mit ihr erleben konnte. Und er hätte um nichts in der Welt auf Wanda verzichtet. Gut, die Schwangerschaft war zunächst ein Schock, aber dann sah er auch darin eine Chance.

Für Raina war Sexualität tatsächlich ein sehr heikles Thema. Sie war stark auf die Mutter fixiert, was ihr wenig Spielraum gab, sich auch auf andere Menschen einzulassen, zumal sowohl von den älteren Schwestern als auch vom Vater nichts unternommen wurde, dies zu ändern. Sie lebte zwar in einer Familie, doch war diese nochmals unterteilt, und sie lebte wie in einer Symbiose mit der Mutter, in der nur sie beide Platz hatten. Die Erkrankung der Mutter verband die beiden noch stärker, und sie übernahm die Sorge stellvertretend für die anderen, die zwar ebenfalls sehr beunruhigt waren, aber doch ihr Leben weiterführten. Für Raina war es unerträglich, von der Mutter getrennt zu sein, sie stellte ihr eigenes Leben zurück, beschloss, die Schule nicht mehr zu besuchen, um die Mutter zu pflegen. Dabei wäre es für sie entwicklungsmässig höchste Zeit gewesen, sich allmählich abzulösen, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse überhaupt erst einmal kennenzulernen und eigenen Interessen nachzugehen. Der Einbruch sexueller Energien stand vor der Tür, was sie hätte veranlassen sollen, sich neugierig auf die Welt einzulassen, sie zu erforschen und sich auf das andere Geschlecht zuzubewegen. Bis dahin hatte sie keinen Kontakt mit männlichen Menschen gehabt. Der Vater entzog sich weitgehend. Nun war sie aber gerade in dieser Zeit so stark mit der Sorge um die Mutter beschäftigt, dass es ihr beinahe unmöglich war, an irgendetwas anderes zu denken. Als es ihr endlich einmal für wenige Stunden gelang, sich von ihrem grossen Kummer etwas abzulenken, und sie zum ersten Mal einem Jungen offener begegnete, folgte die Quittung auf dem Fuss: Der Mutter ging es augenblicklich schlechter, schlimmer noch, nach diesem Abend ging es sichtlich bergab. Raina verknüpfte unbewusst ihre vergnüglichen Stunden, die sehr harmlos waren, mit der Verschlimmerung von Mutters Zustand. Das erste zarte Erleben mit einem Jungen, wo sich bei ihr zweifellos erste erotische Gefühle meldeten, die sich später in Träumen bestätigten, wurde von Gefühlen schwerer Schuld überlagert. Raina rang um das Leben der Mutter, wie wenn es ihr eigenes gewesen wäre. Und es ging ja auch um ihr Leben. Starb die Mutter, hiess das für sie, dass sie sich schuldig gemacht hatte und deshalb die Mutter ihr Leben lassen musste. Überwand die Mutter die Krankheit und blieb am Leben, so hätte Raina die Zustimmung des Himmels für ihre vergnüglichen Stunden erhalten und hätte sich dem Leben zuwenden können. Die Mutter aber starb. Und mit der Mutter Rainas Zukunft. Als sie Hubertus kennenlernte, liebte sie ihn unter Ausschluss jenes Bereiches, in dem sie sich der Mutter gegenüber schuldig fühlte. Und Hubertus war ein verständiger Mann, einfühlend und verstehend.

Bis eines Tages die Rechnung nicht mehr aufging. Hubertus' inneres Gleichgewicht hatte längst Schlagseite bekommen. Seine Entwicklung ist ebenfalls dadurch gekennzeichnet, dass er sich abhandengekommen war. Er funktionierte nur darin, anderen zu helfen, sie zu unterstützen, für sie zu sorgen, für sie zu organisieren. Die drei Warnschüsse hatte er nicht verstanden. Irgendetwas in ihm weigerte sich, die Ferienplanung für die ganze Familie zu übernehmen, und er vergass die Flugtickets zu bestellen. Er vergab das Tagungshaus für hundertzwanzig Personen statt für sechzig Leute und brachte damit seine Überforderung auch noch szenisch zum Ausdruck, nicht zu reden von dem Nachspiel vor der Vorstandskommission. Und dann fiel er auch noch vom Bürostuhl und brach sich das Sprunggelenk. Es gibt zweifellos wenige Menschen, die vom Bürostuhl stürzen, ohne hinterher wieder unversehrt aufzustehen. Hubertus schaffte es immer­ hin, so ungeschickt hinzufallen, dass ihm das Springen für die nächste Zeit unmöglich war. Der Gipsfuss hinderte ihn dann später allerdings nicht daran, in das Geschäft des Seitenspringens einzusteigen. Genaugenommen begünstigte er es sogar. Aufgrund seiner eingeschränkten körperlichen Mobilität beschloss Hubertus, den Sonntag im Büro zu verbringen und nicht mit Raina und den Kindern einen Ausflug zu machen. Und dann kam eben Wanda. Die Vorzeichen deuteten alle darauf hin, dass Hubertus die Verleugnung seiner eigentlichen Wünsche nicht weiterhin straffrei betreiben konnte.

Der Begriff „Selbstverleugnung“ wird gelegentlich in religiösen Schriften als ein lauteres Ziel menschlicher Entwicklung dargestellt und hat zweifellos dazu geführt, dass Menschen, die sich vorwiegend altruistischem Bemühen verschreiben, irgendwann an sich scheitern müssen. Wir können das Selbst nicht verleugnen. Wozu auch? Vielleicht aber verwechseln wir lediglich Selbstverleugnung mit Selbstaufgabe. Selbstaufgabe ist aber etwas ganz anderes und bedeutet, selbstische Bezogenheit aufzugeben, sich nicht stets als Nabel der Welt zu sehen und, unermüdlich Pirouetten um die eigene Achse zu drehen. Zuerst aber muss ich mein Selbst entfalten, überhaupt ein Selbst besitzen, bevor ich es aufgeben kann. Ich muss doch wissen, was ich als Opfer darbringe. Alles, was in Richtung Verleugnung geht, widerspricht der Wahrheit, ist für die Entwicklung unbrauchbar und darüber hinaus sehr gefährlich. Wenn wir nicht in der Lage sind, in uns selbst Bedingungen zu schaffen, die uns Wachstum und Entfaltung unserer Fähigkeiten ermöglichen, werden wir damit rechnen müssen, dass das Leben irgendwann eine Korrektur vor­ nimmt, die nicht mehr steuerbar ist.

Zusammenbruch

Und bist du nicht willig ...

Gebrannte Kinder scheuen das Feuer. Raina und Hubertus hatten ähnliche Erfahrungen gemacht. Für beide gab es keinen Grund, sich vertrauensvoll auf das Leben als einen sich ständig verändernden Prozess einzulassen. Beiden wurden früh die Flügel gestutzt. Sie lernten früh, was andere von ihnen erwarteten. Sie übernahmen schon als kleine Kinder Funktionen, die ihrem Alter nicht entsprachen. Sie hatten keine andere Wahl.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass es ihnen besonders schwerfiel, sich auf eine Auseinandersetzung mit den eigenen Schwierigkeiten und ihrer Geschichte freiwillig einzulassen. Wenn wir nicht bereit sind, uns mit unserer Entwicklung auseinanderzusetzen, wird sie uns früher oder später irgendwann einholen. Zum unpassendsten Zeitpunkt. Es fühlt sich dann an, als ob wir seelisch in eine Waschmaschine geraten wären und so lange durchgewaschen, gerüttelt und ausgewrungen werden, bis der ganze fremde Dreck, der nicht zu uns gehört, herausgewaschen und ausgebleicht ist. Sich entwickeln heisst, sich aus Verwicklungen zu befreien. In leichteren Fällen des Festhaltens an alten Mustern genügt bereits der Schongang, bei schwerem Starrsinn wird das Intensivprogramm eingeschaltet. Gelegentlich ist sogar ein zweiter oder ein dritter Waschdurchgang nötig, bis alle Fremdstoffe ausgewaschen und entfernt sind und endlich das ursprüngliche Material zum Vorschein kommt.

Als die Welt von Raina und Hubertus zusammenbrach, geriet Raina in tausend Höllen, während Hubertus in den Wolken schwebte und endlich erfahren konnte, wie es ist, wenn die viel zu engen Grenzen gesprengt sind. Bei Menschen, die sich auf eine Aussenbeziehung einlassen, steht dieses Gefühl der Befreiung als überwältigendes Erlebnis im Vordergrund, das alles andere überdeckt. Sich ohne hindernde Vorschriften und Fesseln frei zu fühlen ist für sie ein derart umwerfendes Erlebnis, dass es ihnen nicht in den Sinn kommt, sich des­ wegen auch noch schuldig zu fühlen. Aus meiner Fremdgeh­Umfrage geht hervor, dass 50 Prozent Frauen und 57 Prozent Männer kein zwingendes Bedürfnis verspüren, mit dem/der Partnerin über die Liebschaft zu sprechen. 15 Prozent Frauen und 12,5 Prozent Männer sind dazu bereit, falls sich eine günstige Gelegenheit ergibt. Dagegen haben nur 9 Prozent Männer das Bedürfnis, offen mit der Partnerin über die Affäre zu sprechen. Die mangelnde Bereitschaft ist durchaus als ein Zeichen dafür zu werten, dass zunächst das schlechte Gewissen gegen das grosse Gefühl, Eigendrehungen zu machen, eigenen Impulsen zu folgen und aus dem vollen zu schöpfen, keine Chance hat. Es ist eine derart grossartige Angelegenheit, dass es unter allen Umständen geschützt und gegen alle möglichen Spielverderber abgeschottet wird. Dass viele, die fremdgehen, nicht mit ihrem/ihrer Partnerin darüber sprechen wollen, hat nichts mit einer grundsätzlichen Verlogenheit zu tun, wie ihnen gerne unterstellt wird, sondern mit dem heissen Begehren, die lustvolle Freiheit möglichst lange und umfassend geniessen zu können.

Raina indessen durchschritt die Unterwelt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Unbekannte Gefühle brachen wie ein Vulkan in ihr aus. Sie kannte sich selbst nicht mehr. Ihr Hass auf Hubertus und Wanda war abgrundtief, sie balancierte auf einem schmalen Grat zwischen Realitätsverlust und etwas Boden unter den Füssen. Der ungeheure Schmerz über die Trennung und letztlich den Verlust ihrer Mutter brach aus den Tiefen ihrer Seele hervor und vermischte sich mit der aktuellen Situation. Als die Mutter starb, hatte sie mit Depression reagiert, die aber nicht behandelt wurde. Dank Hubertus fand sie einigermassen wieder ins Leben zurück. Der Schmerz aber ruhte wie eine tickende Zeitbombe in ihr. Über die Sexualität hätte sie leicht gezündet werden können, hing doch das Thema Mutter – Tod – Schuld damit zusammen. Es gelang Raina aber, einen grossen Bogen darum herum zu machen, von Hubertus einfühlend begleitet. Sie erlebte in Hubertus sehr viel Mütterliches, Fürsorgliches. Er war ihr Heimat und schloss nahtlos an die Symbiose an., die sie mit ihrer Mutter gelebt hatte. Sie war weit davon entfernt, Hubertus als Mann zu sehen, der auch in seiner Männlichkeit beantwortet werden wollte, und sich als erwachsene Frau auf die Bühne der Leidenschaftlichkeit zu wagen. Sie war noch immer wie ein Kind mit der Mutter verbunden. Der frühe Tod hatte nicht nur Gefühle der Schuld, sondern auch tiefer Verlassenheit ausgelöst. Das Scheitern ihrer Liebesbeziehung zu Hubertus belebte wieder ihre Erinnerung, von der wichtigsten Person verlassen zu werden. Sie kämpfte dagegen an. Diesmal fiel sie nicht wie damals in einen Zustand der Apathie, den sie im Nachhinein als ein schreckliches Erleben von Todsein geschildert hatte, sondern sie flüchtete in das Gegenteil, dem sie nichts entgegensetzen konnte: Aktion, unermüdliches, hyperaktives Handeln, Beschimpfungen und Fluchen. Es habe sich angefühlt, wie wenn alles aus ihr herausfliessen würde, wie ein innerliches Ausbrennen, ohne dass ein Ende abzusehen war. Dann habe sie das Feuer gelegt.

Noch bevor der Rauch in der Kapelle Hubertus und Wanda dazu trieb, durch die kleine Tür hinter der Orgel zu fliehen und via Wendeltreppe durch den Keller ins Freie zu gelangen, geriet Hubertus' Glück in grösste Schwierigkeiten. Wanda, als Kind vom ersten Tag an von der Mutter abgelehnt, war nicht nur körperlich magersüchtig, sondern auch seelisch am Verhungern. Die Mutter wollte sie nicht. Und auch die Grossmutter, bei der sie aufwuchs, nahm sie nur widerwillig auf. Nur der Grossvater hatte Freude an dem kleinen Mädchen. Als sie acht war, versuchte er allerdings, sich sexuell an ihr zu stimulieren. Sie wehrte ihn ab, so gut es ging, gleichzeitig aber wollte sie sich seine Liebe nicht verscherzen. Auch hatte sie nicht gewagt, mit der Gro{3mutter oder sonst mit jemandem darüber zu sprechen. Ernst, ihr späterer Mann, verlor mit elf Jahren seine Eltern bei einem Autounfall. Er wuchs als Pflegekind ebenfalls bei Wandas Grosseltern auf, die ihm aber wenig Liebe entgegenbrachten und ihn wohl eher des Kostgeldes wegen aufnahmen. Es verband sie eine sprachlose Schicksalsgemeinschaft, ohne dass sie je über ihre Sorgen offen miteinander gesprochen hätten. Es lag irgendwie auf der Hand, dass sie später heirateten.

Hubertus sprang wie auf Knopfdruck auf Wandas über­ grosse Bedürftigkeit an. Er umsorgte sie. Löste ihre Zunge. Da er ein aussergewöhnlich guter und geduldiger Zuhörer war, begann sie allmählich über ihre Vergangenheit zu reden und befreite sich so allmählich aus ihrem Gefängnis. Er begleitete sie einfühlsam durch die Aufarbeitung ihrer schwierigen Jugend. Später entdeckte sie mit ihm die Sexualität, und er

erhielt dadurch die Möglichkeit, endlich seine sexuellen Wünsche auszuleben. Später übernahm er noch die Rolle des Krankenpflegers für sie, fütterte sie behutsam, peppelte sie auf, engelsgeduldig. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt erneut mit seinen sexuellen Bedürfnissen auf dem Trockenen sass. Da er ja noch immer mit Raina zusammenlebte und auch keineswegs daran dachte, sich von ihr zu trennen, bedeutete sie doch immer noch ein Stück Heimat. Er hatte also stets die Möglichkeit, sich den ständig wachsenden Forderungen, die Wanda an ihn stellte, zu entziehen. So gab ihm die Ehe Schutz vor Wandas Zugriff. Das ist sicher auch der Grund, weshalb sich das Verhältnis über einige Jahre hinzog. Dann kam die Schwangerschaft. Der Brand. Die Verhaftung. Die Geburt. Der Tod des Kindes. In dem Moment, als sich Hubertus stärker auf Wanda konzentrierte und den Alltag mit ihr lebte, steckte sie ihm ihrerseits Grenzen, die im Vergleich zu der Beziehung mit Raina noch enger waren. Er versuchte sich bereits wieder wegzuschleichen und auf Raina zurückzugreifen, da setzte ihn Wanda nochmals gehörig unter Druck und hörte zu essen auf: Kümmere dich um mich! Es sei gewesen, wie wenn man ihn strangulieren wollte. Ein letzter Appell. Hubertus floh und rannte um sein Leben. Dann machte sie einen Selbstmordversuch.

Alle Systeme brachen zusammen.

Vom Verfallsdatum und der potenzierten Schubkraft

Es ist durchaus möglich, über einen bestimmten Zeitraum einen gigantischen Energieaufwand zu betreiben, um anstehende Veränderungsprozesse nicht vollziehen zu müssen. Nun verhält es sich im seelischen Bereich ebenso wie in allen anderen materiell sichtbaren Belangen. Wird ein Garten nicht regelmässig gejätet, wird sich bald ein dichtes Netz von Unkraut über dem Boden bilden, die Wurzeln ineinander verschlungen und fest in der Erde verhakt. Und es bedarf eines ungleich viel grösseren Zeitaufwands, um die Beete von über­ wucherndem Unkraut zu säubern.

Raina und Hubertus hatten viel ihrer Lebenskraft darin investiert, in ihrer Beziehung nicht von unerwünschten Bedürfnissen gestört zu werden. Hubertus verzichtete auf Sexualität und Leidenschaft. Obwohl sie ihm sehr wichtig gewesen wäre. Er sagte sich, dass schliesslich nicht Sex allein aus­ schlaggebend für das Glück auf Erden sei. Er widmete sich ganz seinem Beruf, arbeitete oft bis in die Nacht hinein und übers Wochenende. Raina unterstützte ihn dabei sehr. Beide genossen den Erfolg ihrer Arbeit. Auch hielt er sich mit viel Phantasie über Wasser, besorgte sich in aller Heimlichkeit harmlose Sexheftchen, schaute sich auch gelegentlich ein Video an, um sich sexuell zu stimulieren und abzureagieren. Mit diesem Lösungsversuch ist Hubertus nicht allein. 24 Prozent Männer und 22,5 Prozent Frauen, die in einer Partnerschaft leben, regulieren ihre sexuellen Bedürfnisse mit Masturbation. Viele konzentrieren sich auf andere Genüsse und versuchen sich abzulenken. 15,5 Prozent Männer phantasieren ihre Wünsche mit einer anderen Partnerin. Das heisst also, der Partner/die Partnerin schwingt in seiner Häufigkeitsfrequenz anders, oder eine andere Art sexueller Befriedigung macht ihnen mehr Spass, und sie suchen eine für sie befriedigende Alternative, ohne fremdzugehen. 21 Prozent Frauen und 15,5 Prozent Männer suchen. ein klärendes Gespräch mit ihrem Partner/ihrer Partnerin.

Alleinstehende phantasieren sich die Partnerschaft oft als sexuelles Schlaraffenland. Irrtum. Während sich jene ohne Partnerin jederzeit unbekümmert in ihren vier Wänden selbst befriedigen können, flankiert von persönlich bevorzugter Stimulation, suchen in einer Partnerschaft Lebende krampfhaft nach irgendwelchen zeitlichen und geographischen Schlupf­ löchern, in denen sie sich ungestört das holen können, was ihnen mangelt. „Es ist zum Verzweifeln!“ stöhnte eine 31jährige Telefonistin. „Ich muss mich bereits vor Krimiende aus dem Wohnzimmer schleichen, damit ich mich mit mir vergnügen kann. Ich fühle mich gehetzt. Mit einem Ohr lausche ich, ob mein Mann nicht ins Zimmer kommt. Dadurch reisst der stimulierende Phantasiefilm im Kopf immer wieder, und es dauert viel länger, bis ich zum Orgasmus komme. Wenn ich Pech habe und mein Mann früher ins Bett kommt, stürze ich jäh aus der Erregung wie ein abgeschossenes Flugzeug vom Himmel. Wut auf ihn. Auf mich. Und auf alle Alleinstehen­ den, die sich immer selbst befriedigen können, wenn sie Lust haben.“ Und ein 48jähriger Unternehmer resigniert: „Schnell morgens unter der Dusche einen herunterholen. Das war's.“ Trotzdem gelingt es vielen Paaren, sich mit diesen selbstregulierenden Massnahmen einen inneren Ausgleich zu verschaffen, ohne dass es irgendwann zu einem Zusammenbruch kommen muss. Der ausschlaggebende Faktor besteht darin, ob das empfundene Defizit durch solche Massnahmen ausgeglichen werden kann. Bei Hubertus kam noch ein sich früh angeeigneter Verzicht auf Verwirklichung eigener Interessen dazu. Er war bereits als Kind in der Rolle des Fürsorgenden, er kümmerte sich um die behinderte Schwester, er funktionierte als Partnerersatz, stand der Mutter in allen Sorgen und Nöten bei. Da blieb wenig Spielraum für ihn selbst. Die Entfernung zu sich selbst war derart gross, dass es für Hubertus näherliegend war, Bedürfnisse anderer aufzunehmen als seine eigenen. In der Beziehung zu Raina wurde diese defizitäre Linie fortgesetzt. Bereits in seinen ersten Ehejahren traten kürzere Irritationen auf, wie zum Beispiel, dass er Rainas Geburtstag vergass. Er überging diese Zeichen und die späteren Warnschüsse ebenfalls.

Auch bei Raina gab es deutliche Hinweise, dass irgendetwas zu bearbeiten gewesen wäre. Sie verspürte manchmal ein derart starkes körperliches Ekelgefühl Hubertus gegenüber, dass sie sich einfach ins Auto setzen und stundenlang herumfahren musste, bis sich diese Abneigung wieder legte. Darüber hinaus litt sie an Angstzuständen, die sie aus heiterem Himmel überfielen und in Atem hielten.

Raina und Hubertus mobilisierten all ihre Kraft, um ihre Beziehung zu schützen – längst über das Verfallsdatum hinaus.

Wird ein längst fälliger Entwicklungsschritt verweigert, können wir früher oder später damit rechnen, dass eine gewaltige Schubkraft in Gang gesetzt wird, die den Wachstumsprozess vorantreibt und Stagniertes und Festgefahrenes aufbricht und in Bewegung bringt. Je länger wir aufschieben, umso heftiger wird die Sturmbö über das Wasser fegen und die Boote, die festgezurrt zwischen Pfählen liegen, aus ihrer Verankerung reissen. Ein Schiff gehört aufs offene Wasser. Ein Mensch mitten ins Leben. Hubertus und Raina widersetzten sich, sie versuchten, so lange dem heftigen Sturmwind stand­ zuhalten, bis eine tosende Flutwelle sie ergriff und weit hinaus in das tobende Wasser warf. Ruderlose Nussschalen auf haushohen Sturmwellen: „Ich fühle mich wie ein Segelschiff, mit gebrochenem Mast, die Segel hängen zerfetzt herunter. Alles droht unterzugehen“, so schildert Hubertus seine Situation. Raina fühlt sich noch elender, eher wie ein Schiff, das zertrümmert auf den Klippen liegt. „Es hat mich in tausend Stücke zerrissen. Nun muss ich mich wieder einsammeln und zusammenflicken.“

Wenn die eigene Entwicklung ins Stocken geraten ist, wird sich der Drang nach Wachstum mit einem gehörigen Schicksalsschlag melden, damit der Entwicklungsprozess fortgesetzt werden kann.

Bei einigen wenigen braucht es keine Erschütterungen. Sie folgen unauffällig dem Gesetz, sich im Laufe ihres Lebens zur Blüte zu bringen, und stellen sich freiwillig ihren Aufgaben. Andere besinnen sich erst, wenn sie keinen anderen Ausweg mehr sehen. Die meisten aber werden vom Schicksal so lange zurechtgemeisselt, bis die Kontur ihrer Lebensaufgabe deutlicher wird und sich die Bereitschaft zeigt, ihr zu folgen.

Heute kommt der Briefträger später. Ein gigantischer Regenguss hat die leicht ansteigende Strasse, die zu unserem Dorf führt, mit vom Wald heruntergespülten Ästen und Zweigen versperrt. Wir öffnen alle Fenster, um den Duft der nassen Bäume einströmen zu lassen. Als das gelbe Auto endlich kommt, stürzen unsere Hunde an das grosse Tor und bellen im Quartett. Ich nehme die Post durch die Gitterstäbe entgegen und erkenne sofort Rainas Schrift. Ich bin aufgeregt. Was soll das bedeuten? Wir telefonieren noch immer ganze Nächte lang. Ich reisse ihn auf: „Es ist so weit. Drück mir die Daumen. In wenigen Wochen findet die Gerichtsverhandlung statt. Der Antrag des Staatsanwalts lautet auf zwei Jahre Gefängnis.“

Abbruch

Entweder – Oder

Die Untreue des Partners/der Partnerin zu entdecken ist für die meisten ein schwerer Schock. Aber auch von einer eigenen Affäre elektrisch aufgeladen zu werden bedeutet nicht durchwegs eitel Freude, bedenkt man die Schwierigkeiten, die al­ lein die Organisation einer aushäusigen Liebschaft mit sich bringt. So gerät einiges in Unordnung. Diese Ereignisse sind deshalb vor allem hervorragend geeignet, verfestigte Strukturen, Entwicklungen, die ins Stocken geraten sind, wieder in Bewegung zu bringen.

Um möglichst schnell aus dem Dilemma herauszukommen und dem unerträglichen Gedanken ein Ende zu setzen, dass der Partner/die Partnerin fremdgeht, reagieren viele so, dass sie den Partner/die Partnerin unter Druck setzen und zu einer klaren Entscheidung nötigen. Sie oder ich. Er oder sie. So einleuchtend diese Forderung auch sein mag, ist sie doch ein untaugliches Mittel, wie die Praxis zeigt.

Wäre für den Fremdgänger/die Fremdgängerin die Sachlage klipp und klar, hätte er oder sie längst gehandelt. Da der/ die Lebenspartnerin oft für familiäre Zugehörigkeit, für Heimat steht, die aushäusige Liebschaft hingegen entweder für abenteuerliche Neuerkundung möglicher Freiräume oder für eigene ungelebte Anteile, für eine Vitalisierung des bisherigen Lebens und damit lediglich eine regulierende Funktion ausübt, ist eine Entscheidung zu treffen alles andere als einfach. Für die meisten Fremdspringerinnen ist es ausgesprochen schwierig, für sich eine Lösung zu finden, die einigermassen dem entspricht, was sie sich vorstellen. Sie fühlen sich, wie immer sie sich auch entscheiden, als Verliererinnen. In jeder Variante verlieren sie etwas, müssen sich von etwas trennen, das durch das Gewonnene nicht ersetzt werden kann. Eigentlich gibt es in dieser Situation keine Lösung, und jede Entscheidung ist falsch, es sei denn, es zeichnen sich ganz klare Präferenzen ab, dann aber muss nicht mehr lange überlegt werden, sondern es wird gehandelt. Wenn nun auch noch Druck von aussen kommt, ob von Lebensgefährten oder Geliebten, die endlich wissen wollen, woran sie sind, kann eigentlich alles nur schieflaufen. Dies ist zweifellos auch ein Grund dafür, dass länger dauernde Affären sich oft über Jahre hinziehen, weil die Betroffenen, die sich entscheiden sollten, einfach keine Lösung finden, die einigermassen befriedigt.

Wenn die Fremdspringerinnen zu keiner klaren Entscheidung kommen, und die Partnerinnen die für sie beinahe unerträgliche Situation nicht auszuhalten imstande sind, suchen sie eine Lösung, indem sie die Beziehung abbrechen. Laura, die schnittige Diätkursleiterin, wollte sich diesem Gefühlsterror nicht aussetzen, sondern unverzüglich klare Verhältnisse schaffen. Sie brach die Beziehung, bevor sie sich wie eine Maus in der Falle fühlte, auf der Stelle ab. Menschen, die eher dazu neigen, dem Leben ihre Vorstellung aufzuzwingen, notfalls mit eiserner Disziplin um deren Verwirklichung kämpfen, können sich kaum auf Prozesse einlassen, deren Ausgang sich nicht vorherbestimmen lässt. Es fällt ihnen aussergewöhnlich schwer, sich einfach auf die Wellenbewegung des Lebens vertrauensvoll zu verlassen, sie wollen alles selbst mit ihrem Kopf steuern. Gelegentlich werden aber auch typische Macherinnen in die Knie gezwungen, und zwar dann, wenn sie durch die selbst vollzogene Trennung in seelische Turbulenzen geraten, die sich nicht mehr mit dem Kopf steuern lassen. Laura gab bereits nach drei Wochen auf. Die Trennung hatte sie weich geklopft. Ihre Disziplin war im Eimer. Nachdem sie nur noch weinte, im Bett blieb und sich mit grösster Anstrengung nicht mehr auf die Beine brachte, rief sie ihren Willi an: „Ich will nicht mehr! Komm!“ Willi verstand. Und kam. Aber er musste die andere Frau opfern, das war Bedingung. Willi hat jetzt aber keine Lust mehr, mit seiner Laura sexuell zu verkehren. Sie hat ihn zum Arzt geschickt. Willi ging. Nun schluckt er Medikamente.

Obwohl der Seitensprung in den meisten Fällen eine sehr leidvolle und für beide Seiten strapaziöse Angelegenheit ist, deren Aufarbeitung sich in der Regel in die Länge zieht, gibt es dennoch nur wenige, welche die Beziehung abbrechen und nicht mehr weiterführen wollen. 50 Prozent Frauen und Männer würden versuchen, die Situation zu klären, rund 20 Prozent der Männer und Frauen würden auf jeden Fall versuchen, ihre Partnerinnen zurückzugewinnen. Lediglich 5 Prozent Frauen und 6,5 Prozent Männer würden die Beziehung sofort abbrechen. Die Bereitschaft ist gross, sich grundsätzlich mit den Schwierigkeiten auseinandersetzen zu wollen und nicht sofort das Handtuch zu werfen. Die Anzahl derer, die sich paartherapeutisch helfen lassen, ist noch immer gering, lediglich 15,5 Prozent Frauen und 9,5 Prozent Männer würden sich paartherapeutisch Hilfe holen. Leider warten die Betroffenen oft viel zu lange, bis sie sich fachliche Hilfe holen. Es ist dies eine eigenartige Einstellung zum seelischen Haushalt. Mit jedem Auto, das irgendein Zipperlein hat, fahren wir unverzüglich zur Werkstatt. Mit körperlichen Beschwerden eilen wir zum Arzt. Nur wenn es um die seelische Gesundheit geht, versuchen wir die Störung entweder zu ignorieren, hoffen, dass sie sich von alleine regelt, oder klempnern selbst mehr oder weniger halbherzig, ohne jegliche Fachkenntnisse an ihr herum.

Wenn der Partner/die Partnerin den Abbruch der Affäre erzwingt

Ein erzwungener Abbruch der Affäre wird die Chance für eine einigermassen gelungene Weiterführung der Partnerschaft keineswegs erhöhen. Im Gegenteil. Er wird zum Dauerbrenner für Unstimmigkeiten im besten Fall., im schlechtesten für Streit, Vorwürfe und Entwertung. Langfristig wird sich der/ die Fremdgängerin um die Lebenschance, um Freiheit und Autonomie betrogen fühlen und dies dem anderen insgeheim vorwerfen. Es ist eine völlig andere Situation, wenn jemand aus reiflicher Überlegung zum Schluss kommt, die aushäusige Liebschaft zu beenden, um die Partnerschaft weiterzuführen, als wenn jemand unter Druck gesetzt wurde. Gefühle können bekanntlich nicht einfach wie abgetragene Kleider weggeräumt werden. Gefühle sind da. Ob sie uns in den Kram passen oder nicht. Zudem haben sie die Tendenz, sich zu verstärken, sobald der Versuch unternommen wird, sie zu eliminieren und zum Verschwinden zu bringen. Partner­ Innen von FremdgängerInnen sollten sich darüber im Klaren sein, dass alle ihre Bemühungen, die Aussenbeziehung zu unterbinden, die Leidenschaft zusätzlich beleben und anfeuern wird. Es scheint eine hoffnungslose Zwickmühle zu sein, die aber bei genauem Betrachten lediglich eine unerbittliche Lektion ist, dass der Partner/die Partnerin nicht unser Eigentum ist, über das zu bestimmen und zu verfügen wir berechtigt sind, sondern ein eigenständiger Mensch, der selbst Entscheidungen trifft und über sich selbst bestimmt.

Viele wollen dieses Lehrstück nicht absolvieren und halten verbissen an ihrer Forderung einer sofortigen Lösung fest.

Entscheidet sich der unter Druck gesetzte Gefährte/die Gefährtin für die Partnerschaft, wird es kaum zu einer erfreulichen Weiterführung dieser Partnerschaft kommen können. Der Partner/die Partnerin des Fremdgängers/der Fremdgängerin wird mit Zweifeln zu kämpfen haben, kann er/sie doch nie mit Sicherheit wissen, ob die alte Beziehung aus Überzeugung und Liebe weitergeführt wird oder nur deshalb, weil keine andere Möglichkeit zur freien Wahl stand. Es wird folglich unermüdlich nach Liebesbeweisen gefahndet wer­ den, was der Beziehung zweifellos nicht gut bekommt und die etwaigen guten Vorsätze der Fremdspringerlnnen zunichtemacht.

Aber auch die Geliebten werden ihre blauen Wunder erleben, wenn sie versuchen, den/die LiebhaberIn unter Druck zu setzen, sich endlich zu trennen oder gar sich scheiden zu lassen.

Wanda setzte ihre Druckmöglichkeiten ein und verweigerte das Essen. Hubertus, in grosser Sorge, war sofort zur Stelle und fütterte sie. Sechs Wochen löffelte er fleissig Brei, zerdrückte Bananen und gab Haferschleim ein. Sie genas. Hubertus atmete auf. Wanda wollte, dass er weiterhin rund um die Uhr an ihrem Bett sass und sie umsorgte. Ihm wurde eng. Er konnte sich vor ihren Forderungen nur noch in Sicherheit bringen, indem er mehr Zeit mit seiner Familie verbrachte. Da wurde sie schwanger und angelte Hubertus noch mal an seinem Pflichtgefühl. Dann kam der Brand. Hubertus sass drei Wochen in Untersuchungshaft, die ihm wenig anhaben konnten, fühlte er sich doch von sämtlichen Fesseln wie befreit. Und das hinter Gittern. Als er entlassen wurde, schnappte die Falle endgültig zu. Wanda wollte, dass er bei ihr wohnte. Für immer blieb. Ihm ging die Puste aus. Sie griff noch einmal zum altbewährten Mittel und hörte zu essen auf. Um nicht zu ersticken, ging er. Hubertus wollte nicht mehr. Nicht so. Dann folgte Wandas Selbstmordversuch.

Für die einen ist ein sofortiger Abbruch der Beziehung die einzige Möglichkeit, ihre Haut zu retten. Jede differenzierte Auseinandersetzung würde sie zu sehr in ihrem Wunsch nach Autonomie und Selbstbestimmung gefährden.

Felix kommt strahlend aus der Stadt. Er drängt und will heute früher zum abendlichen Hundespaziergang aufbrechen. Schnell umziehen. Wir gehen eine Stunde. Boote auf dem Fluss. Sie warten vor der Schleuse. Abendsonne funkelt zwischen den Birken. Wir suchen ein Plätzchen und legen uns ins warme Gras. Hechelnde Hundeschnauzen überm Gesicht. Ein kleines Paradies. Felix erzählt, was ihn so strahlend macht. Er war bei der Post. Eine lange Warteschlange und umständliches Ausfüllen unübersichtlicher Formulare erwarteten ihn. Es würde wohl Stunden dauern. Da entdeckte sie ihn, die altbekannte attraktive Postschalterdame, die heute im Hintergrund tätig war. Und sie eilte herbei, öffnete eigens für ihn einen geschlossenen Schalter. Das war alles. Aber es hat ihm Flügel wachsen lassen. Ein sanfter Abendwind bläst ihm die Haare aus dem Gesicht, das in die untergehende Sonne hineinblüht.

Moska, das kleine Schäferhundweibchen, kuschelt sich an ihn und leckt ihm die Hand.

Durchbruch

Entwicklungsphasen in der Paarbeziehung

Noch vor wenigen Jahren wäre es mir nicht möglich gewesen, mich darüber herzlich zu freuen, wenn sich Felix an anderen Frauen erfreute und herumflirtete. Ich war ein gebranntes Kind. Alle meine Beziehungen zu Männern liefen schief. Sie gingen alle fremd. Allen voran mein Vater. Er hatte kein Interesse an mir. Dieses erste Beziehungsmuster zum anderen Geschlecht legte den Grundstein für spätere Beziehungen. Frauen, die diesen stets brennenden Phantomschmerz mangelnder Beantwortung durch den Vater in sich tragen, wiederholen später in ähnlicher Beziehungskonstellation die erste Enttäuschung.

Ich wollte unbedingt einen Mann, der mich nicht betrügt und mir bis an mein Lebensende treu ist. Es war eine Illusion. Es hat mich durch sämtliche Waschmaschinenprogramme durchgeschleudert. Eine interessante Gesetzmässigkeit scheint dahingehend zu wirken, dass wir am Ende unseres Lebens über mehr Toleranz und Liebesfähigkeit verfügen sollen als zu Beginn.

Eine Partnerschaft ist, wie alle anderen Stationen, ein Lehrgeld. Es ist nicht ihr Ziel, dass wir uns, einmal dort angekommen, in weich gepolsterte Sessel fläzen, um das Endlosglück einzuschlürfen.

Das ganze Leben ist durchdrungen von Lernphasen, in denen Unterschiedliches gelernt werden muss, um die angeeigneten Fähigkeiten für die Bewältigung der nächsten Phase einzubringen. Nicht immer gelingt es, den Knackpunkt zu erwischen, ihn zu verstehen und zur eigentlichen Essenz der gestellten Aufgabe durchzudringen. Wie auf jeder Wanderung kommen wir auch in inneren Prozessen in seelische Landschaftsbereiche, die besonders schön und erholsam sind und die uns verlockend zu einer Verschnaufpause einladen. Da kann es durchaus geschehen, dass wir uns niederlassen, uns der schönen Gegend erfreuen und uns am liebsten nicht mehr von der Stelle wegbewegen würden. Wir beginnen uns auf einem Rastplatz häuslich einzurichten und vergessen da­ bei, dass wir unterwegs sind und uns auf einer Wanderung befinden. Vielleicht denken wir irgendwann später wieder daran, rappeln uns auf, wollen aufbrechen und bemerken, dass es nicht einfach ist, den Weg wieder zu finden, der weiterführt, oder wir meinen erschreckt, gar den Anschluss verpasst zu haben.

Die Phasen in der Paarbeziehung beinhalten ebenfalls Lektionen. Die Fallen sind reichhaltig ausgelegt, der Wunsch nach immerwährendem Glück macht begriffsstutzig und lernträge. Gerade aber in der Partnerschaft erleben wir ein hochsensibles, störanfälliges System, das sofort reagiert, wenn die Forderung nach Wachstum und Entwicklung nicht gestellt wird. Die Partnerbeziehung ist wie jeder lebendige Organismus darauf angewiesen, genährt und gepflegt zu werden, damit sie überhaupt leben kann. Jede Stagnation, jeder Versuch, alles beim Alten zu lassen und möglichst keine Veränderungen zuzulassen, führt zur Erstarrung und somit weg vom Leben. In einer Paarbeziehung ist die Versuchung gross, sich als feste Hälfte eines Ganzen zu sehen, die Hände in den Schoss zu legen und die Auseinandersetzung mit sich selbst einzustellen, denn schliesslich, so glauben nicht wenige, geht es um die Partnerschaft als Ganzes und nicht um ihre Teilbereiche. Wer den Blick ständig auf die Partnerschaft richtet, analysiert pausenlos das Verhalten des Partners/der Partnerin und vergisst dabei, sich selbst kritisch zu beobachten. Irgendwann müssen wir feststellen, dass die Partnerbeziehung nicht als von uns abgelöstes, eigenständiges System funktionieren kann, sondern aufs engste mit der Entwicklung der· Beteiligten verknüpft ist. Wenn zwei Menschen zusammen­ finden, die beide nicht über sich selbst nachdenken und ihre Verhaltensweisen nicht reflektieren, entsteht daraus nicht eine lebendige Beziehung, sondern ein starres, in sich festgefahrenes System. Mit einem solchen Paar einige Stunden zu verbringen, hinterlässt den Wunsch, eher den eigenen Toten­ schein zu bestellen, als sich dem Leben zuwenden zu wollen. Kinder, auch Haustiere und Zimmerpflanzen, sind solchen Verhältnissen ungeschützt ausgeliefert. Wenn sich hingegen einer der beiden der Auseinandersetzung mit sich selbst stellt, bringt das unweigerlich wieder Bewegung in die Beziehung.

Die Auseinandersetzung beginnt beim einzelnen und wird in die Beziehung eingebracht – und nicht umgekehrt. Es ist nicht möglich, mit sich selbst nichts zu tun haben zu wollen, um sich ausschliesslich auf die Gemeinschaft zu konzentrieren. Was ich mir Gutes tue, das tue ich letztlich auch für die Partnerschaft. Wenn ich mich meiner Entwicklung stelle, mit mir im lebendigen Kontakt stehe, wird auch die Beziehung wichtige Impulse erhalten, was wiederum zur Entwicklung der Partnerschaft beitragen wird.

Spätestens an dieser Stelle werden alle, die gelernt haben, sich selbst nicht „zu viel“ Beachtung zu schenken, argumentieren, dass diese Haltung eine gefährliche sei und zu sehr bedenklichem Egoismus führe. SchliessIich gehe es in der Paarbeziehung doch um die Gemeinsamkeit, die Entwicklung müsse stets als Ganzes gesehen und das Individuelle zurück­ gesteckt werden. Es sei deshalb wichtig, dass sich beide Partner gleichermassen daran beteiligen. Dies ist ein grosser Irrtum. Beide Seiten liefern einzeln die bauliche Grundsubstanz, aus der eine lebendige Partnerschaft erwächst. Aus energielosem Material lässt sich nichts Energievolles zurechtzimmern. Zudem führt die Vorstellung, beide Partner müssten wie eineiige Zwillinge ihre Entwicklungsschritte synchron machen, zu einem weiteren unseligen Partnerschaftsmissstand. Da wird der eine Teil massiv unter Druck gesetzt, endlich auch etwas für die Beziehung zu tun, während der andere untätig darauf wartet und seine eigene Entwicklung auf­ schiebt. Mit Veränderung, Wachstum und Entwicklung muss sich jeder individuell auseinandersetzen, dies wird sich wiederum auf die Beziehung auswirken, ungeachtet dessen, ob sich auch der andere in einer Auseinandersetzung mit sich befindet oder nicht. Zudem ist es einfach eine Anmassung ohnegleichen. Wie wollen wir von aussen beurteilen, was an innerer Arbeit vom Partner zu leisten ist! Entwicklungsschritte lassen sich nicht durch andere beurteilen, sondern können nur ausschliesslich selbst bewertet werden.

Wanda beklagte sich oft, dass Ernst ein sehr einfaches Gemüt besitze. Er verzehre noch immer gedankenlos und frisch vergnügt Fleisch, während sie schon längst Vollvegetarierin geworden sei. Er besuche profane Kurse, gehe abends gerne Kartenspielen, während sie immerhin eine anspruchsvolle Ausbildung als Meditationslehrerin absolvierte. Wanda leitet aus diesen äusseren Fakten ab, dass sie in ihrer Entwicklung schon sehr weit fortgeschritten sei, im Gegensatz zu Ernst, der weder von Meditation noch von sonstigen spirituellen Tätigkeiten etwas wissen will. Er steht morgens um fünf auf, begrüsst jeden Morgen den Tag und die Sonne, und abends bedankt er sich. Das war's, sagt er und faltet die Hände, damit sie sich ausruhen können. Bis zum nächsten Tag. Er spricht mit Tieren und Pflanzen, er entschuldigt sich bei Bäumen, denen er einen Ast absägen muss, der ganzen Natur bringt er einen selbstverständlichen Respekt entgegen. Ohne grosse Worte. Einfach so, weil er gar nicht anders kann. Wer will da bewerten, wer von den beiden innerlich weiter gekommen ist?

Eine Partnerschaft besteht aus zwei Menschen. Obwohl eine Beziehung sie miteinander verbindet, bleibt als Einzel­ wesen jeder für sich selbst verantwortlich. Wir können nicht sagen: Jetzt, da wir ja ein Paar sind, wollen wir uns als Ganzes sehen. Der eine übernimmt die Verdauungsarbeit, der andere übernimmt die Entgiftungsarbeit der Leber. Wenn der eine zu hohe Cholesterinwerte hat und sich an eine Diät halten muss, wäre es doch ein ausgekochter Unsinn, vom anderen, dessen Werte normal sind, zu erwarten, dass er/sie sich ebenfalls der Diät anschliesst. Jeder/jede ist für sich, seine körperliche und psychische Gesundheit, absolut selbst verantwortlich. Die Erwartung also, wenn ich mich mit einem Thema auseinandersetze, müsse der andere sich anschliessen, muss aufgegeben werden. Durch meine Entwicklung können sich Impulse für den anderen Partner ergeben. Wird er es für sich als wichtig erachten, kann er etwas davon aufnehmen, sich davon inspirieren lassen, wenn nicht, ist es auch in Ordnung.

Jede Phase, die wir in einer Beziehung als Individuum durchlaufen, können wir nur als Individuum bewältigen. Da es wohl nichts Verlockenderes gibt, als in einer Partnerschaft den anderen für das eigene Wohlbefinden verantwortlich zu machen, werden wir uns oft durch einige dunkle Tunnels durchrobben müssen, bis wir zum Durchbruch kommen, die Sicht klar wird und wir erkennen können, welche Aufgabe es zu bewältigen gilt.

Vom paradiesischen Einssein zur Erkenntnis: Ich bin

Die meisten erleben dieses Wunder: Wir treffen auf einen Menschen, wir verlieben uns und haben nur noch den einen Wunsch, uns nie mehr von ihm trennen zu müssen.

Hans Jellouschek, ein erfahrener Paartherapeut, beschreibt fünf unterschiedliche Phasen in der Paarbeziehung, mit denen sich ein Paar auseinanderzusetzen hat.

Dieser Entwicklungsprozess ist für den einzelnen eine grosse Herausforderung. Es werden vor allem drei typische Stationen deutlich, die individuell zu bewältigen sind. Diese Knotenpunkte können entweder aufgelöst werden und die eigene Entwicklung begünstigen oder unerlöst als Beziehungsgeist für Unruhe sorgen oder wie ein Einschlafmittel auf die Partnerschaft wirken, damit sie stagniert.

Wie bereits beschrieben, wird in einer ersten Phase die Urerinnerung des Einsseins, des Sich-aufgehoben-Fühlens in etwas Ganzem geweckt, und ebenso wird die erste symbiotische Zeit, die wir mit der Mutter erlebten, wieder in Erinnerung gerufen. Es ist verständlich, dass wir möglichst lange in diesem Zustand des Aufgehobenseins verharren wollen, selbst wenn uns durchaus bewusst ist, dass wir diesen Zustand nicht über längere Dauer aufrechterhalten können. Zugleich wird auch noch ein anderer, ein gegensätzlicher Impuls spürbar, der des Weitergehen-Wollens, des Nach-vorne-Drängens, des Frühlingshaft-ins-Leben-hinein-Spriessens. Früher oder später wird einer der beiden Verliebten das Bedürfnis verspüren, aus der Nähe zum anderen wieder auszubrechen, um seinen eigenen Impulsen mehr Raum zu geben. Somit gerät jener Teil, der lieber noch länger in symbiotischer Nähe zum anderen verblieben wäre, unweigerlich in eine schwierige Situation.

Der Lernschritt heisst zu begreifen, dass der Partner mit dem Bedürfnis, etwas mehr Distanz zu halten, nicht etwa Böses und gegen den anderen/die andere Gerichtetes im Sinn hat, sondern lediglich seiner eigenen Entwicklung folgt. In dieser Phase sollte der Durchbruch zu der Erkenntnis erfolgen, dass eine Symbiose nicht auf Dauer aufrechtzuerhalten ist. Sie ist dann förderlich, wenn sie dem natürlichen Rhythmus von Ein- und Ausatmen folgt. Sonst richtet sie sich gegen das Leben und ist letztlich für die Partnerschaft tödlich. Wir sollten auch wieder aus der Symbiose herausfinden und Distanz zum anderen einnehmen. Dies führt dazu, dass Eigenes wieder stärker in den Vordergrund gerät, Eigendrehungen erfolgen können, Autonomie gelebt wird und ein dem einzelnen gemässer Lebensplan entwickelt werden kann.

Das Verharren in der Symbiose ist mit der Weigerung, sich als selbständiges und selbstverantwortliches Wesen zu erleben, gleichzusetzen und führt zwangsläufig dazu, dass wir uns den anderen einverleiben und so tun, als sei er ein Teil von uns und gehöre uns. Das hat für die Beziehung verhängnisvolle Folgen. Sobald ich den anderen nicht mehr als ein anderes Individuuman erkenne, beginne ich über ihn zu verfügen, wie ich es über meine eigenen Belange zu tun gewöhnt bin. Ich gehe ohne anzuklopfen in die Innenräume des Partners, stelle alles um, was mir nicht gefällt, oder unternehme gar den Versuch, Dinge, die ich als störend empfinde, ganz zu eliminieren. Es ist zu vergleichen mit dem Besuch in einer fremden Wohnung. Nur mit dem Unterschied, dass wir da nicht einfach eintreten und ausrufen: „Was ist das für ein scheussliches Bild, das hänge ich jetzt gleich mal weg, und auch der Teppich zeugt von schlechtem Geschmack, ich rolle ihn zusammen!“ Normalerweise gehen wir in einer entsprechenden Situation sehr viel sorgfältiger und respektvoller um. Alles, was uns nicht gefällt, nehmen wir einfach zur Kenntnis.Schliesslich ist es nicht unsere Wohnung.Wenn wir in die Falle geraten, uns den Partner einzuverleiben, gebärden wir uns in den Innenräumen des Partners, als ob sie unsere eigene Wohnung wären. DieserAnspruch wird vom Partner als Mangel an Respekt und Wertschätzung empfunden. Und damit hat die Entwertungsspirale ihren Anfang genommen, die die Partnerbeziehung allmählich zersetzt, und wir landen in der nächsten Station.

Von der Vertreibung aus dem Paradies zur Selbstverantwortung im eigenen Garten

Während wir in der ersten Zeit nur die sogenannten guten Eigenschaften des Partners sehen, landen wir in einer weiteren Phase in jener Perspektive, die das Licht vor allem auf die unliebsamen Bereiche wirft. Wir geraten in eine Ernüchterung und halten unsere jetzigen Wahrnehmungen für die einzig gültige Realität. Wir beginnen Eigenschaften und Verhaltensweisen des Partners aus einer neuen Sicht negativ zu sehen und machen ihm Vorwürfe. Interessant vor allem, dass wir nun dem Partner genau das vorwerfen, was uns zuerst angezogen hat. So wird sich eine Frau, die in erster Linie an das Wohl anderer denkt und gewohnt ist, eigene Wünsche in den Hintergrund zu stellen, besonders durch die autonome Art des Partners angezogen fühlen, wie er seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt und dafür sorgt, dass sie befriedigt werden. Er wiederum wird vor allem das einfühlsame, gefühlsbezogene Wesen seiner Frau schätzen. Der eine hat das, was dem anderen fehlt. Die Faszination der Ergänzung und die Möglichkeit, vom anderen das zu lernen, was einem fehlt, funktioniert nur, solange wir uns den Partner nicht einverleiben. Sobald wir ihn als zu uns gehörend erleben, fallen wir aus der Ich-du-Spannung heraus und lassen uns an einem Pol nieder, der uns nur eine einzige Perspektive gestattet. Um aber einen Menschen zu erfassen, genügt es nicht, ihn nur einpolig zu betrachten. Die menschliche Psyche ist mit einem Haus zu vergleichen, in dem es verschiedene Stockwerke mit vielen Zimmern gibt. Wenn wir uns verlieben, sehen wir nur das schönste und das sonnigste Zimmer, es ist auch in uns selbst jenes, das wir als erstes dem anderen präsentieren. Weil wir uns aber nicht stets im gleichen Raum aufhalten können, lernen wir bereits nach kurzer Zeit auch noch andere kennen, die uns vielleicht nicht besonders gefallen. Wenn es uns gelingt, auf Distanz zu gehen und nicht an der Symbiose festzuhalten, werden wir etwas Wesentliches lernen können, was uns ganz neue Handlungsspielräume sowohl in der Beziehung als auch für die eigene Lebensgestaltung erschliesst. Die Beurteilung eines Menschen – auch des Partners! – führt immer zu einem Fehlurteil, wenn wir nur einen einzelnen Raum begutachten. Bei der Beurteilung eines Hauses ist es ganz klar, dass nicht alle Zimmer gegen Süden gerichtet sein können.

In der Partnerschaft bedeutet dies, dass es im Partner, in der Partnerin Räume gibt, die mir weniger gefallen, einige liegen im Schatten, vielleicht gibt es sogar einige, die ich nicht betreten möchte, weil sie mich abstossen, und mit grösster Wahrscheinlichkeit gibt es Nischen und Ecken in diesem Haus, die ich niemals kennenlernen werde und die der Partner für sich allein beanspruchen und bewohnen möchte.

In Beziehungskonstellationen gibt es oft gegensätzliche Bedürfnisse, was das Offenlegen geheimster Ecken voreinander betrifft. So gibt es Menschen, denen ausgesprochen wohl ist, wenn nichts Trennendes zwischen ihnen und ihren Partnern/ Partnerinnen ist. Sie erwarten und bewerten es als Liebesbeweis, wenn der andere keine Geheimnisse für sich behält. Nun gibt es aber viele, die für sich einen Ort brauchen, wo sie ganz für sich allein sind, über den nur sie allein frei verfügen, wo sich niemand einmischt oder sogar nicht einmal davon Kenntnis hat. Sie benötigen diesen Schonraum wie die Luft zum Atmen, und jeder Versuch, da einzudringen, wird als ein schwerer Eingriff empfunden. Besonders Menschen, für die Distanzhalten eine wichtige Voraussetzung ist, um sich überhaupt auf andere einzulassen, erleben das Offenlegen sämtlicher Interessen und Lebensbereiche als Angriff gegen Leib und Leben.

In dieser Phase werden schwierige Lektionen erteilt, die manchen unbeschreiblich schwerfallen. Erst nach mehreren Engpässen kommt man zu der Erkenntnis, dass jeder ein eigenständiger Mensch ist und bleibt – auch in der Partnerschaft.

Jeder ist für sich und sein Glück selbst verantwortlich. Wir werden also ganz auf uns selbst zurückgeworfen. Obwohl jeder Versuch scheitert, den anderen verändern zu wollen statt sich selbst und die Verantwortung für das eigene Glück an den Partner zu delegieren, wollen wir nur mühsam lernen. Die Gefahr ist gross, sich in Spielen zu verirren, in denen alle Spieler zu Verlierern werden.

Vom Ende einer Buchführung

Wenn Forderungen und Erwartungen nicht erfüllt werden, ist das immer mit einer Kränkung verbunden. Und weil wir üblicherweise in akuten Auseinandersetzungen in unseren· eigenen Verletzungen verfangen sind, gelingt es uns kaum, Verständnis für die Situation des Partners/der Partnerin auf­ zubringen. Wir schaukeln uns gegenseitig mit Kränkungen hoch und sehen nur noch eine Lösung: mit einer gezielten Revanche den anderen zu verletzen und zu entwerten. Aus einem solchen Teufelskreis findet man schwer wieder heraus. Um diesem Kreislauf zu entrinnen, braucht es vor allem eine Rückbesinnung auf sich selbst. Der Partner muss einfach mal ausgeblendet werden, damit wir die Verantwortung wieder bei uns selbst ansiedeln können. Alle Lösungsversuche können nur in eine Richtung zielen, nämlich zu uns selbst hin. Und da können wir uns die zentralen Fragen stellen: Wie gehe ich mit Erwartungen uni, die mein Partner nicht erfüllt? Wie gehe ich damit um, dass mein Partner sich nicht so verhält, wie ich mir das vorgestellt habe? Die Fragen werden also ganz aus dem Verantwortungsbereich der Partnerinnen herausgelöst, er wird als mögliche Lösungsinstanz ganz entlassen. Obwohl es durchaus verständlich ist, dass es vielen sehr viel näher liegt, die Forderung nach Veränderung an den/die Partnerin zu delegieren, als sie an sich selbst zu stellen. Der Weg zu sich selbst scheint eben doch ziemlich beschwerlich zu sein.

Der Durchbruch liegt in der zentralen Erkenntnis, dass ausschliesslich ich selbst es bin, der/die sich verändern kann. Über die Veränderungsmöglichkeiten meines Partners bin ich weder befugt zu urteilen, noch sollte ich gezielte Forderungen an ihn stellen.

Die Partnerschaft bietet die einzigartige Möglichkeit, gerade dann, wenn es schwierig wird und der Partner/die Partnerin sämtliche Ansprüche strikt zurückweist, auf mich selbst zurückgeworfen zu werden, um jene Eigenschaften zu entwickeln, die mit Liebe gleichgesetzt sind: Toleranz, Akzeptanz, Wertschätzung.

Das sind grosse Töne.

In meine heilige Morgenstille hämmert der Bass aus Felix' Stereoanlage. Obwohl ich es ihm schon hundertmal gesagt habe, wie sehr es mich nervt, scheint er es nicht begreifen zu wollen. Ich habe immer unter lauten Männern gelitten. Wie lange wohl noch?

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