Fortsetzungsroman: Die Kirschen in Nachbars Garten / Teil 6

Julia Onken, 09.01.2023

Von brüchigen Partnerschaften zu stabilen Verhältnissen / Teil 6

Julia Onken
Julia Onken

Auszug aus dem Buch "Die Kirschen in Nachbars Garten", erhältlich im Bücher-Shop:

Bilanz

Realitätsprüfung

Wenn wir uns ein Haus wünschen, pinselt unsere Phantasie blitzschnell das Traummodell.

Vielleicht träumten wir einst in jungen Jahren von einem Penthouse, einer italienischen Villa am Mittelmeer oder einem Schloss in Irland. Und dieser Traum stand wie ein Fixstern über uns und bewirkte, dass wir die Lehre, das Studium oder sonst eine schwierige Ausbildungssituation durch­ standen und uns später dann bemühten, uns beruflich allmählich von Stufe zu Stufe hochzuarbeiten. Die Vision verlieh uns Kraft, die Zukunftsperspektive liess uns in eine bestimmte Richtung gehen.

Wenn wir ein Haus bauen, befassen wir uns zunächst so­ wohl mit optischen als auch praktischen, statischen und bausubstanzlichen Belangen. Es findet ein sorgfältiges Abwägen und Prüfen der Vorstellungen einerseits und der Gegebenheiten andererseits statt, um eine Entscheidung treffen zu können, die beide Aspekte berücksichtigt. Bei der Umsetzung unserer Wünsche wird der Realität Grenzen gesetzt. Wir sind gezwungen, die spezielle Situation des Baugrundstücks und die statischen Erfordernisse zu berücksichtigen sowie unsere wirtschaftlichen Möglichkeiten realistisch einzuschätzen. Gut, zu einem Schloss hat es letztlich nicht gereicht, aber immerhin zu einer schönen Eigentumswohnung mit herrlichem Blick auf den Stadtpark. Auch mit der Villa wollte es nicht gelingen, aber ein schönes Häuschen im Grünen ist entstanden.

Der Traum vom grossen, prächtigen Haus ist ein archaisches Bild im Menschen, das die seelische Entwicklungsphantasie dahingehend stimuliert, möglichst viele grosse Räume in seinem Innern zu erschliessen und zu bewohnen.

Wir brauchen grosse Träume, und sie können eigentlich nicht gross genug sein, damit sie unsere ganze Energie in Bewegung bringen und wir uns auf die Socken machen: Ein indianisches Sprichwort rät: „Träum deine Träume gross genug; sie werden eh kleiner, bis sie auf der Erde angekommen sind.“

Wenn wir versuchen, grosse Träume umzusetzen, korrigiert die Realität, und sie schrumpfen auf das Machbare zusammen. Setzen wir sie bereits zu bescheiden und zu klein an, werden sie niemals die erforderliche Stosskraft in uns auslösen. Im Schrumpfungsprozess der Realisierung bleibt von kleinen Wünschen überhaupt nichts mehr übrig.

Die meisten Menschen, erstaunlicherweise auch jene, die sich selbst als eher nüchtern bezeichnen, tragen einen romantischen Beziehungstraum in sich, in dem Liebe und bei vielen ebenso die Treue im Zentrum der Partnerschaft stehen. Dieser Traum nährt sich, wie wir gesehen haben, aus Erinnerungen an die einstige Beheimatung. Und auch der tiefe Wunsch nach Vereinigung von Mann und Frau ist als Ursehnsucht zu verstehen, Männliches und Weibliches, alles, was einst in einem Umfassenden und Ganzen zusammengehörte, wieder zu vereinen. Es ist die Kraft dieser Phantasie, die das manchmal unerhört grosse Durchhaltevermögen schwierigster Durststrecken einer Partnerschaft ankurbelt.

Bei der Umsetzung unserer Beziehungsträume werden wir mit einer Realität konfrontiert, die der Romantik nicht allzu­ viel Platz übriglässt. Dennoch sind viele nicht bereit, die faktischen Gegebenheiten zu akzeptieren, und weigern sich, eine partnerschaftliche Statikberechnung, eine Analyse der Bausubstanz sowie die Ermittlung wirtschaftlicher Faktoren vorzunehmen. Oft gleichen wir wohl eher absolut verrückten Bauunternehmerinnen, die versuchen, ein Haus auf Sand zu bauen. Wir halten eisern am Wunschbild fest, auch wenn alles dagegen spricht. Wie wäre es sonst möglich, das Phänomen zu erklären, dass wir beispielsweise das Wunschbild eines treuen Ehegefährten über einen Mann stülpen, der keinen Hehl aus seiner multiplen Neigung zum anderen Geschlecht macht? Eine 35jährige Apothekerin wollte sich umbringen. Sie ertrug es nicht mehr, dass ihr Mann sie laufend betrog. Er hatte sie schon vom ersten Tag ihrer Bekanntschaft an hintergangen und machte zuerst einen kurzen Abstecher ins Bett ihrer älteren Schwester, dann ihrer Freundinnen und anderer Frauen. Dennoch gelang es ihr, sich das innig gewünschte Bild vom Treuliebenden zu bewahren und eisern daran festzuhalten. Nach zehn Jahren drohte sich die Illusion allmählich zu verflüchtigen. Der Treugemahl genoss seine Liebschaften vor ihren Augen. Auch dann zog sie es vor, lieber selbst zugrunde zu gehen, als ihre Idee sterben zu lassen.

Gerade in Bezug auf Treue wollen viele die Realität nicht sehen. Intellektuelle hirnakrobatische Endlosverrenkungen sollen die unumstösslichen Fakten etwas mildern. Nächtelang im Freundeskreis darüber diskutieren, was unter Treue zu verstehen sei. Ob körperlich. Oder seelisch. Da sei eben der grosse Unterschied, und wo denn der seelische Treuebruch aufhöre und der körperliche beginne. Bei diesen Fragen gibt es viel zu klären. Und während wir uns hektisch in begriffliche Kleinarbeit vertiefen, funkt es zwischen der besten Freundin und dem Ehemann heftig, und sie werden wohl viele Nächte entweder voneinander träumen oder versuchen, sich irgendwo ein heimliches Stelldichein zu geben. Vielleicht fühlt sich der eine oder die andere bereits beim Träumen schlecht und hat das Gefühl, untreu zu sein. Vielleicht braucht es auch eine eindeutige sexuelle Aktivität, um dieses subjektive Gefühl hervorzurufen. Es gibt immer wieder Frauen, die zusammenbrechen, wenn sie bei ihrem Partner

„zufällig“ unter den hintersten Hängeregistermappen Sexheftchen entdecken. „Mein Mann betrügt mich mit einem dieser billigen pummeligen Papierflittchen“, schluchzte ein 21jähriges busenloses, bildhübsches Model, Konfektionsgrösse 36. Sie wollte sich unverzüglich von ihm trennen. Sämtliche Beteuerungen seinerseits, dass er ihr doch absolut treu sei, vermochten sie kaum zu beruhigen. Treue scheint ein sehr subjektiver Begriff zu sein. Jeder Versuch der Differenzierung, um eine möglichst allgemeingültige Bewertung vor­ zunehmen, scheitert und ist wohl eher als ein Versuch anzusehen, der Realität nicht ins Auge zu blicken.

Die meisten haben irgendwann Phantasien und Wünsche, mit einer anderen Person sexuell zu verkehren. 30,5 Prozent Männer und 15,5 Prozent Frauen phantasieren oft ihre sexuellen Wünsche mit anderen Personen, 45,5 Prozent Männer und 38,5 Prozent Frauen tun es gelegentlich und nur 5 Prozent Männer haben keinerlei solche Phantasien. Ich denke nicht, dass sie alle einen psychischen Defekt haben, diese Phantasien scheinen vielmehr so selbstverständlich zum Leben zu gehören wie der Tod, der ja meist auch eher als Spielverderber gefürchtet ist und lieber aus dem Bewusstsein ausgeblendet wird. Sich sexuell zu betätigen ist, wie Geburt und Tod, eine menschliche Grundvariable. Bei den einen sitzt die Bereitschaft zu geschlechtlicher Aktivität stets sprungbereit auf der Lauer, es genügt die Ahnung eines Beins, ein knisternder Faltenwurf oder “( ... ) ein Duft kommt mit. Kaum Duft. Es ist nur eine süsse Vorwölbung der Luft gegen mein Gehirn ( ... ).“.Oft ist nicht einmal ein äusserer Impuls nötig, es genügt der Anflug einer Erinnerung, ein Gedanke, und alles drängt schrittwärts. Obwohl sich rund 25 Prozent der Männer und Frauen ihr Bildmaterial für ihr Privatvideo mit Personen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis sowie aus dem näheren Lebensumfeld zusammenstellen, um sich sexuell zu stimulieren, wird über diese Tatsache lieber hinweggesehen. 31 Prozent der Frauen arbeiten mit einem speziell entworfenen Phantasiebild: „Er ist immer für mich da. Ich nenne ihn Johannes. Ich weiss genau, wie er aussieht, eine Mischung zwischen Don Johnsen und Gary Cooper. Wenn ich mit meinem Partner im Bett liege, muss ich nur an ihn denken, und schon funktioniert bei mir die Sexualität wie auf Knopfdruck“, berichtete eine jung verheiratete Frau. Aber auch Männer, 18,5 Prozent, halten sich in ihrer Phantasie eine Traumfrau auf Lager, um mit ihr das erträumte Sexualleben zu geniessen.3 Ein gigantisches Fremdgehpotential lagert in Hüften und Lenden. Jederzeit könnte es aktiviert werden. Es erinnert an das Phänomen der Weizenkeimlinge, die wie winzige tickende Zeitbömbchen über Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte in Säcken schlummern. Nichts bewegt sich. Nimmt man auch nur einen dieser Winzlinge heraus, setzt ihn in die Erde und begiesst ihn, dann treibt bald ein Halm zum Himmel und bringt Korn zum Reifen. Die Sexualität ist stets in pulsierender Wachstumsbereitschaft. Den einen gelingt es, den Vorratssack verschlossen zu halten, ihn nur gelegentlich zu öffnen und einige wenige Keimlinge herauszulassen, bei anderen hingegen springen sie wie Flöhe unkontrolliert nach rechts, nach links und überallhin.

Zweifellos ist das Zulassen dieser Aktivität eine ständige Möglichkeit, es für selbstregulierende Zwecke einzusetzen. Deshalb darf es nicht verwundern, wenn es für viele das Nächstliegende ist, etwaige innerbetriebliche Unebenheiten mit sexuellen Aktivitäten ausgleichen zu wollen. Wenn der psychisch-seelische Haushalt in Unordnung zu geraten droht, sorgen wir sofort für einen Ausgleich, wie etwa eine 45jährige Lehrerin und Mutter von drei Kindern, die ebenfalls mit einem Lehrer verheiratet war. Es gab besondere Stresszeiten, da fühlte sie sich in tausend Pflichten derart eingespannt, dass sie das Gefühl hatte, kaum noch Luft zum Atmen zu haben. Die einzige Möglichkeit, wieder durchzuatmen und zu einer Verschnaufpause zu kommen, bestand darin, regelmässig fremd­ zugehen. „Hinterher fühle ich mich ausgeruht und wie neu geboren.“

Für viele steht diese Art der Selbstregulierung nicht zur Diskussion. 15 Prozent Männer und Frauen haben eine feste moralische Überzeugung, dass Treue etwas Wichtiges für eine Partnerschaft ist. 18,5 Prozent Frauen und 22 Prozent Männer gehen nicht fremd, weil sie ihre Partnerinnen nicht verletzen wollen. 11 Prozent Frauen und 13 Prozent Männer haben Angst, ihre eigene Beziehung dadurch zu gefährden. Und nur 5 Prozent Frauen und 2 Prozent Männer haben Angst vor Aids.4

Eine andere unerbittliche Tatsache muss ebenfalls mit ein­ bezogen werden, womit sich die meisten schwertun. Das Erleben sexueller Lust und Freude nimmt mit dem Älterwerden bei den meisten Menschen mehr oder weniger ab. Das gegenseitige Begehren geht im Laufe des Zusammenlebens zurück. Obwohl sich viele Paare grösste Mühe geben, diesen Bereich intakt zu erhalten, und ihnen nichts zu mühsam ist, um ein Verflachen zu verhindern, geschieht es dennoch. Es gibt Paare, die sich mit anderen zusammentun, um mittels Partnerlnnenaustausch den erlahmten Eifer aufzufrischen. Sie lesen Anleitungsbücher für sexuelle Praktiken, stimulieren sich zusätzlich künstlich auf jede nur erdenkliche Art und tun alles, um das Gespenst der Eintönigkeit zu verscheuchen. Es findet ein ähnlicher Wettlauf gegen die Zeit wie in der Schönheitschirurgie und dem Fitnessfirlefanz statt, um die Gesetzmässigkeit der Vergänglichkeit auszutricksen.

Weshalb wollen wir nicht wahrhaben, dass alles seine Zeit hat? Weshalb fällt es uns so schwer, die Lektionen zu akzeptieren, die das Leben für uns bereithält? Die Schöpfungsintelligenz lässt sich nicht ins Handwerk pfuschen, sie lässt sich weder täuschen noch manipulieren. Die Sexualität hat einmal den Zweck der Arterhaltung durch Reproduktion, zum anderen nährt sie die Sehnsucht, über den/die Partnerln die Rückbindung zum Herkunftsort zu suchen. Um dies nicht nur sicherzustellen, sondern uns auch noch schmackhaft zu machen, haben sich wohl Götter und Göttinnen beraten und entschieden, die Ausübung sexueller Aktivitäten mit aller­ grösstem Lustempfinden und umfassender Freude zu belohnen. Damit jeder Mensch für seine geleistete Pflichterfüllung eine angemessene Entschädigung erhält.

Interessanterweise erleben rund ein Drittel der Männer und Frauen im Laufe ihrer Beziehung ein allmähliches Nachlassen der sexuellen Anziehung und machen den Alltagstrott dafür verantwortlich. 9,5 Prozent Frauen und 7 Prozent Männer empfinden nach der Geburt des ersten Kindes eine deutliche sexuelle Lusteinbusse. Nach meinen Recherchen hat das auf der Seite der Frau etwas damit zu tun, dass sie sich durch und durch liebend erlebt und deshalb weniger Lust dazu verspürt, „Liebe zu machen“. Beim Mann kann dieser Aspekt ebenso mitspielen, oft aber ist es lediglich eine Reaktion auf das Verhalten der Frau, die sich sexuell etwas zurückzieht.

Den Gründen für das allmähliche Nachlassen sexueller Anziehung in der Partnerschaft nachjagen zu wollen, scheint mir genauso überflüssig zu sein, wie sich die Frage zu stellen, weshalb es nach den Sommermonaten wieder merklich kühler wird. Nicht nur das menschliche Leben ist dem Zeitfaktor unterworfen, sondern auch partnerschaftliche Beziehungen sind es. Die Vorstellung von immerwährender Leidenschaft und sexueller Anziehung ist nur schwer aufrechtzuerhalten und zielt haarscharf an der Realisierbarkeit vorbei.

Wir rechnen bei einem neu gebauten Haus damit, dass wir die Läden nach einigen Jahren nachstreichen müssen. Küchengeräten und Haushaltsmaschinen räumt man eine realistische Lebensdauer von rund zehn Jahren ein. Nur wenn es um die Partnerschaft geht, haben wir unrealistische Vorstellungen. Wer hat schon ein Paar, beide über siebzig oder achtzig Jahre alt, von ihrer überaus glücklichen und leidenschaftlichen Sexualität erzählen hören? Zweifellos ist es möglich, dass auch Paare im fortgeschrittenen Alter eine beglückende Sexualität miteinander erleben. Die Schwer­ punkte gemeinsamer sinnlicher Freude sollten indessen über die Sexualität hinausgehen und die Ebenen der Begegnung erweitern. Paare, die bis in die reifen Jahre zusammenbleiben, sollten vor allem Freunde werden. Denn die Freundes­ liebe ist die grösste Kraft, die die Menschen auf Dauer mit­ einander verbindet.

Das Thema Fremdgehen, in welcher Form auch immer, ist beim Bau einer stabilen Partnerschaft auf alle Fälle ein Faktor, der nicht aus dem Bewusstsein ausgeblendet werden darf. Wenn wir uns ins Auto setzen, rechnen wir zwar nicht damit, dass wir in einen Unfall verwickelt werden, führen aber diese Möglichkeit mehr oder weniger immer in unseren Gedanken mit. Trotzdem machen wir uns auf die Reise und gehen dieses Risiko ein. Sich auf eine Partnerschaft einzulassen bedeutet schliesslich, sich wirklich allen Risiken, die damit verbunden sind, zu stellen und sich mit den Schwierigkeiten, die eventuell eintreten könnten, bereitwillig auseinanderzusetzen.

Der Fremdgeh-Faktor ist grundsätzlich als eine mögliche Beziehungsgefährdungmit einzuplanen. Vor allemist esabsolut töricht,dieeigene Partnerschaft davon ausschliessen zu wollen.

Vom Sinn selbstregulierender Massnahmen

Menschen, deren Partnerinnen fremdgehen, bezeichnen das Aushalten dieser Situation als das Schwierigste überhaupt, nicht zu vergleichen damit, wenn der Lebensgefährte/die Lebensgefährtin stirbt. Den wenigsten gelingt es, sich noch während der akuten Kränkungsphase mit theoretischen Überlegungen auseinanderzusetzen und ihre Position zu reflektieren.

Raina ist eine intelligente und kluge Frau. Es war ihr aber nicht möglich, sich mit der Liebschaft ihres Mannes auf eine Art und Weise zu befassen, die ihr mehr Einblick in ihr eigenes Wesen erschlossen hätte. „Dort, wo einst das Hirn in meinem Kopf logierte, hatten sich hundert zankende Gockel einquartiert. Hahnenkampf rund um die Uhr. Feuerhagel. Blut im Mund.“

Jetzt, im Nachhinein, beginnt sie allmählich die regulierende Funktion zu begreifen, die hinter der Affäre Wanda/ Hubertus stand.

„Wahrscheinlich ist es zu spät“, meint Raina lakonisch.

„Falls ich mich jemals wieder mit Hubertus zusammenraufe, wartet noch eine Freiheitsstrafe wegen Brandstiftung auf mich. Bis ich wieder auf freiem Fuss bin, hat sich längst Moos auf unserer Ehe angesetzt."

Eines aber ist ihr klargeworden: Hubertus kämpfte um sein Leben, indem er fremdging. „Kein böser Wille steht dahinter. Wer fremdgeht, reguliert ein Defizit, gleicht einen Mangel aus. Das habe ich kapiert.“

Es gibt viele Möglichkeiten der Selbstregulierung, und wir wählen jene, die für uns praktikabel sind: Raina hatte ihrerseits, längst bevor sie etwas von der Affäre zwischen Wanda und Hubertus wusste, versucht, ihr Wohlgefühl einigermassen zu regulieren. In einem schier unüberwindlichen Zwang kaufte sie Unterwäsche. Vieles war noch nicht einmal ausgepackt, sie hätte damit einen ganzen Damenturnverein einkleiden können. Die vollen Einkaufstüten verstaute sie in einem Mottenschrank. Unterwäsche zu kaufen gab ihr ein Gefühl von Luxus, sie wollte sich selbst verwöhnen. Zudem machte ihr in der letzten Zeit ihr Gewicht zu schaffen. Obwohl sie sich mit allen nur möglichen Diäten herumschlug, nahm sie unentwegt zu. „Ich habe mich sehr vernachlässigt, habe nicht dafür gesorgt, dass ich mich in meiner Haut wohl fühlte, da hat sich eben eine andere Intelligenz eingeschaltet und zu ihr gesagt: Komm, kauf dir was Schönes und iss, so oft du kannst.“ So gelang es ihr endlich, sich dem Gefühl des Unwohlseins, der Unbehaglichkeit nicht auszusetzen, sondern ihm zu entrinnen. Hier bestimmte sie selbst. Die Nebenwirkung von Kaufzwang und Übergewicht schien das kleinere Übel zu sein und wurde von ihrer „Unterwasserzentrale“ im Kauf genommen.

Die Möglichkeiten, sich innerbetrieblich selbst zu regulieren, einen Druckausgleich zwischen Wohl- und Unwohlgefühl herzustellen; sind vielfältig. Die einen müssen sich· drei Stunden oder noch länger pro Tag vom Fernsehkasten beflimmern lassen, um sich das Gefühl der Sinn- und Erlebnislosigkeit, der inneren Leere und der Langeweile vom Leib zu halten. Die Nebenwirkung, viel unnützes Daten- und Bildmaterial in sich hineinzustopfen und herumzuschleppen, ohne über etwas fundiert informiert zu sein, und einen grossen Teil ihres Lebens in einen Kasten zu starren, erscheint weniger schlimm, als sich dem Gefühl auszusetzen, das Leben zu verpassen.

Andere müssen kaufen. Männer kaufen. Frauen kaufen. Viel. Und oft völlig überflüssige Dinge. Männer springen eher auf technische und elektronische Produkte an, auf Stereoanlagen, Computer, Video- und Fotoapparate sowie auf Fachzeitschriften aller Art, Frauen auf Kleider, Schuhe und Kosmetik. Ein 42jähriger Unternehmer erzählte, er besitze mindestens achtzig bis hundert Handbücher für Computerprogramme. Die meisten ruhen noch in der verschweissten Plastikverpackung. Diese Tatsache hält ihn nicht davon ab, sich ständig über Neuerscheinungen zu informieren und möglichst viele zu kaufen. Die meisten Frauen besitzen viel zu viele Kleider. (Ich weiss, wovon ich spreche!) Kommen noch Gewichtsprobleme dazu, platzen die Kleiderschränke aus allen Fugen, schliesslich passt oft mehr als die Hälfte nicht mehr. Der finanzielle Aufwand und die Scham in Anbetracht einer übermässigen Materialansammlung scheinen dennoch das kleinere Übel zu sein im Vergleich zu dem schrecklichen Gefühl, im Leben grundsätzlich benachteiligt zu sein und mit leeren Händen dazustehen.

Raina und Hubertus verfügten auch als Paar über genügend selbstregulierende Ressourcen. Mit ihrem grossen Engagement gelang es ihnen, das Tagungshaus zum Erfolg zu führen, was ihnen von allen Seiten viel Anerkennung einbrachte und sie für ihre Beziehungsdefizite entschädigte. Wenigstens vorübergehend.

Wer einen Fremdgänger/eine Fremdgängerin als Lebensgefährtin hat, wird irgendwann resigniert feststellen müssen, dass in dieses selbstregulierende System des Partners/der Partnerin nicht einzugreifen ist. Es läuft wie von selbst. Eine Einflussnahme durch aussenstehende Personen ist absolut nicht möglich. Und jeder Versuch, dem Beenden ein wenig nachzuhelfen, wie etwa mit neuer Reizwäsche aufzukreuzen und sich verführerisch hinzudrapieren, um den Abtrünnigen wieder zurückzugewinnen, kann nur peinlich wirken. Diese Tatsache ist vor allem für jene Menschen beinahe unerträglich, deren Wunsch es ist, stets möglichst nahe und symbiotisch mit dem Partner/der Partnerin verbunden zu sein und dem anderen/der anderen wenig eigene Impulse für seine Lebensgestaltung zuzugestehen. Obwohl diese Anspruchshaltung oft von einem sehr bescheidenen Auftreten überdeckt ist, wird das Leibeigenensyndrom durch den kommunikativen Umgang schnell hörbar. Solche Menschen äussern sich erstaunlich oft über das, was für den/die Partnerin wichtig, richtig und gesund ist, was er/sie zu tun und vor allem zu lassen hat. Sie machen vor nichts Halt. Sie verfügen über ihren Besitz und fällen Entscheidungen über ihn/sie wie über ein Grundstück.

Wer alle Seiten, alle Stadien eines Seitensprungs kennengelernt hat, weiss, dass es ein steiniger Weg mit Fallen und Abgründen, Sackgassen und manchmal kaum zu bezwingen­ den Hürden ist. An der Seite eines/einer Seitenspringerin einigermassen unbeschadet zu überleben, erfordert ein hohes Mass an Bereitschaft, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Die verschiedenen Stationen führen durch die gesamte Gefühlspalette menschlichen Leides. Der Versuch, davon möglichst verschont zu bleiben, muss scheitern. Statt einen immensen Kraftaufwand zu betreiben und dagegen anzukämpfen, könnten wir uns auf die Schwierigkeiten einlassen und mit jeder Lektion, die wir begriffen haben, uns selbst näherkommen.

Überlebenskompass für „Betrogene“

Den Partner loslassen und sich selbst finden

Bei den verschiedenen Stationen der Bewältigung einer Liebesaffäre des Lebensgefährten/der Lebensgefährtin lernen wir die extremsten Gefühlsbereiche in uns kennen. Wir durchleben die unterschiedlichsten seelenlandschaftlichen Verhältnisse, wie öde Wüsten, sumpfige Moorgebiete, auftauende Gletscher und eventuell gelegentlich gar ein sekundenschnelles Aufblinken frühlingssatter Wiesen. Es ist eine einzigartige Möglichkeit, umfassend Einblick in die Vielfalt menschlichen Fühlens und Erlebens zu gewinnen und die Situation der menschlichen Seele zu begreifen und zu lernen, nämlich, dass es nichts gibt, was es nicht gibt.

Stecken wir mitten in diesem Prozess, werden wir von derartigen Überlegungen wohl nicht sehr begeistert sein, fordert doch das nackte Überleben unsere ganze Kraft.

Auch in Phasen, in denen es wieder etwas ruhiger wird, können viele kaum zur Ruhe kommen. Wir kauen pausenlos an unverdauten Fragen herum, wie zum Beispiel, weshalb ausgerechnet wir das schwere Los eines/einer fremdspringen­ den Partners/Partnerin zu tragen haben. Wer sich in dieser Gedankenspirale verfängt, findet schlecht wieder heraus. Es gibt darauf keine Antwort. Auch mit psychologischen Erklärungen einer Ursache nachzuforschen, zeigt zwar Zusammenhänge auf, bringt aber meist für das direkte Erleben keinerlei Erleichterung. Im Gegenteil, wir verfangen uns in tausenderlei Begründungen, psychologischen Deutungen und Analysen, angefangen bei der lückenlosen Anamnese bis zur gezielten Traumaforschung des/der fremdspringenden Part­ ners/Partnerin. Enttäuscht stellen wir fest, dass all dieses Wissen nicht dazu beiträgt, den unerträglichen Schmerz über die Untreue des Lebensgefährten/der Lebensgefährtin zu verringern. Die Be5chäftigung mit der Psychologie des Partners/ der Partnerin ist eine Sackgasse. Sie führt uns weit von uns weg. Es gibt nur eines, um da wieder herauszukommen: umkehren.

Es ist zu vergleichen mit dieser kleinen buddhistischen Geschichte: Ein Mann wurde von einem giftigen Pfeil getroffen. Er rennt sofort in die Richtung, woher der Pfeil kam, um herauszufinden, wer es auf sein Leben abgesehen hatte. Ein buddhistischer Mönch rät ihm, als allererstes den Pfeil schnell herauszuziehen und nicht noch lange erforschen zu wollen, woher das Geschoss abgefeuert wurde und wer dafür verantwortlich ist.

Wenn der/cli1;,> Partnerin fremdgeht, sind wir zutiefst verletzt. Der erlebte Verrat breitet sich wie ein schleichendes Gift in uns aus. Wenn wir zu viel Zeit verlieren und uns mit Fragen und Begründungen herumschlagen, wird das Gift den ganzen Organismus schädigen. Wir dürfen uns deshalb nur eine einzige Frage stellen: Was kann ich anstellen, damit die giftige Substanz erst gar nicht in den Kreislauf eindringt? Deshalb müssen wir den Pfeil sofort herausziehen.

Dies erfordert den klaren Entschluss, für sich und das eigene Wohlbefinden Verantwortung zu übernehmen. Viele wollen genau diesen Schritt in die Selbstverantwortung nicht tun. Sie weigern sich strikt, für das eigene Wohlbefinden selbst zu sorgen. Sie binden sich freiwillig wie ein Automaskottchen am Rückspiegel des Partners/ der Partnerin an. Sie pochen darauf, dass die Partnerschaft ein einziger, zusammengehörender Organismus sei, den die Lebensgefährten in der Rolle des Kapitäns verpflichten und somit für alles verantwortlich machen. Dadurch bleiben sie auf Gedeih und Verderb vom anderen abhängig.

Wenn es uns gelingt, mit dem Partner gemeinsam in Ehetherapie zu gehen, ist das wunderbar, und wir können uns über diese Chance freuen. Die Ehetherapie hilft, die ineinander verwobenen Welten wieder auseinanderzutrennen und die dafür Zuständigen ausfindig zu machen. Zugleich ist es eine grosse Hilfe, die gemeinsamen Bereiche ebenfalls so auf­ zuteilen, dass beide für ihren Teil Verantwortung übernehmen. Was dabei herauskommt, ob das Paar sich endgültig trennt oder zusammenbleibt, werden die erarbeiteten Fakten zeigen. Jedenfalls ist es eine ehrliche Bilanz. Und die Zukunftsperspektiven, die sich daraus ergeben, sind realistisch. Oftmals ist es aber so, dass nur einer der beiden eine Ehetherapie wünscht. Diese Einseitigkeit erleben viele als ein Gefühl, dem Unglück tatenlos ausgeliefert zu sein, wie in einer Falle festzusitzen, warten und hoffen zu müssen, dass der andere Teil sich doch noch zu einer Zusammenarbeit bewegen lässt. Sie fühlen sich dazu verdammt, in einer Beziehung gestrandet zu sein wie ein Schiff und absolut nichts dagegen unternehmen zu können. Das ist ein grosser Irrtum. Auch wenn Menschen in einer festen Beziehung leben, bleiben sie zwei absolut getrennte Wesen. Jeder/jede ist ein Individuum, ist eine eigene Person, mit eigenen Wünschen, Lebenszielen, Wertvorstellungen und Lebensprinzipien. Wir leben zwar in einem partnerschaftlichen und familiären System und nehmen darin eine bestimmte Rolle als Ehemann, Ehefrau, als Vater oder Mutter ein, die Teil eines Ganzen ist. Die Rolle verlangt bestimmte Funktionen und Verhaltensweisen, die nahtlos in das System integrierbar sind, damit es funktionieren kann. Aber hinter der Rolle bleiben wir Einzelwesen, die letztlich für ihr persönliches Glück absolut selbst verantwortlich sind.

Dazu gehört auch, dass wir lernen, den/die Partnerin aus der Fixierung auf seine Rolle zu entlassen, die ihm die gesamte Verantwortung zuschob. Das heisst, den/die Partnerin loszulassen, damit wir die Hände freibekommen, um endlich die Zügel für unser eigenes Leben selbst in die Hand zu nehmen. Die folgenden Impulse sollen dazu anregen, die eigenen Hoheitsgebiete wieder selbst zu besiedeln, darüber zu bestimmen und wieder voll die Verantwortung zu übernehmen. Wir müssen also nicht warten, bis wir gemeinsam mit dem/der Partnerin beginnen können, unsere schwierige Situation zu klären, sondern wir können uns sofort selbst helfen. Die verschiedenen Stationen werfen uns alle auf uns selbst zurück.

Das ist eigentlich das Beste, was uns zustossen kann.

Falls dennoch die Möglichkeit einer Paartherapie besteht, kann bereits durch die Auseinandersetzung mit sich selbst und das Zurückholen der eigenen Belange und Bedürfnisse in die Selbstverantwortung sehr viel Vorarbeit geleistet werden, die sich zweifellos sehr günstig auswirken wird.

Notausgänge

Das Schlimmste, das einem Menschen zustossen kann, ist, sich einer Situation ausgeliefert zu fühlen, die nicht zu beeinflussen ist. Menschen, deren Partnerinnen fremdgehen, beschreiben dieses Gefühl als ein absolut schreckliches Erleben von Hilflosigkeit, die ihnen keinerlei Möglichkeit gibt, irgendetwas gegen die Unbill zu unternehmen: „Nachdem ich er­ fuhr, dass meine Frau einen Geliebten hat, war es wie eine Kriegserklärung. Ich fühlte mich von allen Seiten eingekesselt. Jederzeit konnte die Bombe hochgehen“, berichtete ein 33jähriger Lehrer.

Und eine gleichaltrige Schauspielerin: „Ich versuchte mich mit der Tatsache, dass mein Partner immer wieder fremdging, zu arrangieren. Jedes Mal aber, wenn ich direkt mit diesem Tatbestand konfrontiert wurde, brach mein mühsam zusammengebasteltes Selbstwertgefühl unverzüglich zusammen. Es konnte jederzeit geschehen. Ich hatte keinerlei Einfluss.“

Wer in partnerschaftliche Fremdgeh-Verhältnisse hineingerät, sollte sich als erstes sagen: Es gibt nichts, was mich dazu zwingen könnte, alles zu ertragen und auszuhalten. Ich kann auch gehen. Wenn ich bleibe, dann bleibe ich, weil ich es ertragen kann. Auch Kinder sind kein Grund, in einer unzumutbaren Situation auszuharren. Haben wir Kinder, können wir wahrscheinlich nicht einfach ausziehen und gehen. Aber wir können unserem Partner/unserer Partnerin sagen, dass er/sie die Koffer vorübergehend packen soll, bis wir etwas klarer sehen. Das heii5t, wir sollten mit einem strengen Auge über unser Wohlbefinden wachen und uns nicht darin überschätzen, wieviel zu ertragen wir in der Lage sind. Grosse Herausforderungen stärken, Überforderungen hin­ gegen schwächen.

Einen fremdspringenden Partner, eine fremdspringende Partnerin zu verkraften heisst zunächst, aufs tiefste verletzt zu sein. Im Umgang mit körperlichen Verletzungen zeigen wir sehr viel mehr Verständnis und bringen alles nur erdenklich Mögliche an Sorgfalt auf, um unseren angeschlagenen Gesundheitszustand zu pflegen. Wir kämen wohl kaum auf die Idee, nach einem Beinbruch das Bein sofort wieder zu belasten, bevor der Bruch verheilt ist. Nach einer Operation wer­ den die Fäden nicht gezogen, bevor die Wunde verheilt ist. Ganz anders bei seelischen Verletzungen. In diesen Belangen muten wir uns eine ganze Menge zu. Wir meinen, mit einem frischen Bruch eine Bergbesteigung machen zu können. Brechen wir zusammen, versuchen wir es am nächsten Tag gleich noch mal. Wir wundern uns und beklagen uns über unsere Unfähigkeit, das gesteckte Ziel zu erreichen. Nach schweren seelischen Operationen warten wir nicht ab, bis die Wunde verheilt ist, sondern reissen sie immer wieder erneut auf. Manchmal gehen wir gar so weit, in noch offenen Wunden herumzustochern. Und dann beklagen wir uns, dass es immer noch verdammt schmerzt. Manchmal genügt allein die Begegnung mit den fremdspringenden Partnerinnen, auch ohne dass etwas Konkretes vorgefallen wäre, dass Verletzungen heftig zu bluten beginnen. Und wenn wir mit unserem Lebensgefährten/unserer Lebensgefährtin noch unter einem Dach wohnen und jedes Mal den erwartungsfreudigen Schritt mit ansehen müssen, wenn er/sie sich für ein Stelldichein mit der/dem anderen von uns verabschiedet, hat die Wunde wenig Chance, zur Ruhe zu kommen und allmählich zu verheilen. Es bilden sich Verkrustungen, die das Ganze notdürftig zusammenhalten. Deshalb ist es nicht erstaunlich, wenn es Jahre später nochmals aufbricht und blutet und schmerzt wie am ersten Tag. Solche Rückfälle ereignen sich meist nicht in ohnehin unglücklichen Situationen, sondern eher in ausgesprochen entspannten, vielleicht sogar glücklichen Lebensphasen. So brechen wir vielleicht unerwartet in Tränen aus, wenn wir gerade ein neues Glück mit einem anderen Partner erleben. „Ich war bereits wieder verheiratet und fühlte mich mit meinem neuen Mann rundum glücklich. Er gab mir das Gefühl von Geborgenheit, und ich konnte ihm wirklich vertrauen. Da kam plötzlich die alte Geschichte mit meinem Exmann in meine Erinnerung, der mich über Jahre betrogen und mir immer eingeredet hatte, ich bilde mir das alles nur ein. Ich heulte nächtelang in den Annen meines zweiten Ehemanns. Und so konnte die grosse Wunde allmählich verheilen.“ Wundern wir uns nicht, wenn sich alte Erlebnisse erneut melden. Es gibt nichts, was exakter und gründlicher arbeitet als die Seele. Wir werden immer wieder neu aufgefordert, uns unerledigter Aufgaben anzunehmen, unerlöste Schmerzen zu stillen. Die Aufforderung kommt oft dann, wenn wir uns in einer Situation befinden, die uns Sicherheit gibt und erlaubt, uns auf schwierige Verhältnisse einzulassen und sie auszuheilen. Unsere Seele ist nicht nur das Kostbarste, was wir haben, sondern – im Falle eines Weiterlebens – das einzige, was unsterblich ist. Es lohnt sich unter allen Umständen, auf ihre Impulse zu achten, sie ernst zu nehmen, mit grösster Aufmerksamkeit für sie zu sorgen und ihr die beste und sorgfältigste Pflege angedeihen zu lassen. Muten wir ihr eine Erschütterung nach der anderen zu, reissen wir Wunden immer wieder auf. Anstelle von blühenden Wiesen wird eine schreckliche Kraterlandschaft entstehen. Achten wir hingegen darauf, dass sie gerade in schwierigen Situationen alle seelenlandschaftlichen Möglichkeiten ausschöpft, wird sie im Lauf des Lebens weite Gebiete aller Art eingemeinden, reifen und ihre ganze Schönheit zur Entfaltung bringen. Es gibt tatsächlich Menschen, die das Gefühl von Warmherzigkeit, tiefem Verständnis für die Probleme anderer wie eine nie versiegende Quelle in sich tragen. Güte und Liebe blühen aus einer unendlichen seelischen Weite, grenzenlos, umfassend. Wir fühlen uns auf eine ganz besondere Weise wohl mit ihnen. Bei anderen hin­ gegen kann es einem schon einmal eng ums Herz werden oder, fast noch schlimmer, fahl und lau: Da baumelt die Seele überstrapaziert oder sinnentleert wie eine Wursthaut über einer Wäscheleine.

Nun gibt es wichtige Hinweise, die uns anzeigen, ob wir unserer Seele zu viel zumuten oder ob sie sich durch die Herausforderung dehnt und dabei wächst und reicher wird: wenn wir etwa in besonders schwierigen Lebenssituationen die Fähigkeit, Freude zu empfinden, nicht verlieren, sondern immer wieder kleine Momentnischen erleben, in denen uns ganz leicht, wohlig und weit ums Herz wird, und sei es nur für einen kurzen Augenblick. Dann wird uns die zu meisternde Schwierigkeit mit Sicherheit stärken. Wenn wir aber feststellen, dass wir am Morgen den Gesang der Vögel nicht mehr hören, die aufgehende Sonne nicht mehr sehen, den Duft der nassen Bäume nach einem Regenguss nicht mehr riechen – dann ist es höchste Zeit, die Koffer zu packen und zu gehen. Die Freude ist die Trägerin, die uns Kraft verleiht, sie ist der Garant dafür, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Schwindet sie, müssen wir sofort handeln.

Somit bleibt immer ein Notausgang offen – gehen! Gehen heisst nicht, den einfacheren Weg zu nehmen, zu kapitulieren oder dergleichen. Gehen heisst, mir einen anderen Ort suchen, wo es mir wieder möglich wird, Freude in mich einströmen zu lassen, mich meiner Aufgabe zu stellen und sie zu bewältigen.

Achtung Falle: Verdacht und Spionage

In der Regel beginnt der Stress, bevor wir realisieren, was eigentlich vor sich geht. Nur wenigen Fremdspringerinnen gelingt es, die Affäre am Partner/an der Partnerin völlig unbemerkt vorbeizuschleusen.

Einige wiederum denken auch gar nicht daran, aus ihrer Neigung ein Geheimnis zu machen, Partnerln hin oder her. Der Jäger hechelt im Beisein der Angetrauten hinter jedem verlockenden Braten her, der Platzhirsch geniesst unbekümmert seinen Status, und die Prinzessin sonnt und badet sich unverhohlen an der Seite ihres ehelichen Gemahls in den begehrlichen Blicken anderer Männer. Szenen der Eifersucht folgen, was ihrem Treiben keinerlei Abbruch tun wird. Das Argument heisst: Ich bin nun mal so.

Der Vorteil dieser Variante besteht darin, dass die Partner­ Innen bereits von Anfang an wissen, mit wem sie es zu tun haben. Sie wurden gewarnt und hätten die Chance gehabt, gar nicht erst über die ewige Treue und dergleichen ins Träumen zu geraten. Der Traum ist aus, bevor er begann. Dennoch schaffen es nicht wenige, sich immer wieder selbst zu besänftigen und sich zu sagen, dass sich diese Untugend mit der Zeit zweifellos auswachsen werde. Wenn wir erst einmal verheiratet sind ... Wenn wir erst einmal ein Kind haben, zwei Kinder haben . . . Wenn wir erst im neuen Haus sind . . . Sie trösten sich von Irrtum zu Irrtum und hoffen immer weiter. Eigentlich haben sie sich alles selbst eingebrockt, trotzdem machen sie dem Partner/der Partnerin bittere Vorwürfe: „Du hast mich getäuscht. Du tust mir Schlimmes an!“ grollte aus tiefster Überzeugung Sandy, eine hübsche 28jährige Verkäuferin. Sie hatte sich mit grösster Anstrengung den Dorf-Playboy, Besitzer des Damenfrisiersalons, geangelt. Obwohl er sich nicht in eine fest installierte Beziehung einlassen wollte, schaffte sie es, sich von ihm schwängern zu lassen. Er fand weiter nichts dabei, hatte er doch bereits zwei Frauen mit seiner Saat beglückt, die eine arbeitete bei ihm, die andere war die Frau des Dorfkneipenbesitzers. Sandy drohte mit Selbstmord. Da gab er ihr das Jawort. Sie war sicher, dass ein Baby ihn dazu veranlassen würde, abends zu Hause zu bleiben und von seinen Abenteuern Abstand zu nehmen. Er führte freilich unbeirrt das Leben weiter, das er schon immer geführt hatte.

Selbstverständlich gibt es auch Partnerschaften, die zu­ nächst in ruhigen Bahnen verlaufen, geregelt und ohne Abstecher. Die JägerInnen-Natur meldet sich erst später, kommt mit aufbäumender Energie oft in der zweiten Lebenshälfte zur Blüte. Wechseljahre nennen wir es bei Frauen, Midlife-crisis bei Männern. Die Frage steht im Raum. Berufliche Bilanz: Was habe ich geleistet, was will ich noch leisten? Und im persönlichen Bereich: Wer bin ich eigentlich? Wenn einem dazu nichts einfällt, gerät man leicht in eine Krise. Das Nächstliegende ist, sich daran zu erinnern, wie man früher lebte. Man/frau schaut zurück und sieht sich nochmals als jung. Gut, resümiert das Unbewusste. Drehen wir das Rad der Zeit zurück und fangen noch mal von vorne an. Frauen rivalisieren mit der Tochter im Turnschuh-Leggins-Rucksäckchen-Look, noch einmal sich ganz jung fühlen und mit den Freunden und Kollegen des Sohnes flirten. Der Mann greift ebenfalls zurück auf den alten Film. Und weil da gerade eine zwanzigjährige Sekretärin den Kaffee serviert, versucht Mann mal sein Glück. Oft klappt es. Die Jüngere fühlt sich geschmeichelt. Der ältere Herr fühlt sich verjüngt. Dann muss nur noch die Ehefrau/der Ehemann ausgebremst werden. So einfach ist das.

Die Partnerinnen der Spätjägerinnen kommen im besten Fall aus dem Staunen und im schlimmsten aus dem Schrecken nicht mehr heraus. Was da einst traulich an ihrer Seite vor sich hinlebte und am Wochenende im Garten werkelte, entpuppt sich als heisshungriger, nimmermüder Abenteurer. Und die Frau, deren grösstes Glück es war, abends vor dem Fernseher an ihrer Häkelarbeit herumzunesteln, bekundet lauthals, dass sie endlich auch leben wolle, und richtet sich, jugendlich geschmückt, allabendlich zum Ausgang her.

Die schlimmsten Fehler, die den Partnerlnnen von Jäger­ Innen unterlaufen können, sind folgende: zum einen Festhalten an der Illusion, den/die Partnerln zu einer Veränderung der Lebensführung zu veranlassen. Zum anderen, ihm/ihr das Ultimatum zu stellen, sich entweder für die Partnerschaft oder die aushäusige Liebschaft zu entscheiden. Hier findet eine interessante Verlagerung der Verantwortungsbereiche statt, indem nun die Fremdgängerinnen dazu aufgefordert werden, eine Entscheidung zu treffen. Nicht aber die Fremdgängerlnnen müssen sich entscheiden, sondern ihre Partner­ innen, ob sie mit ihnen eine solche Partnerschaft weiterführen wollen. Sie müssen sich selbst die Frage stellen, ob sie mit einem Menschen, der ihnen untreu ist und mit grösster Wahrscheinlichkeit auch untreu bleiben wird, zukünftig zusammenbleiben wollen oder nicht. Mischrechnung anstellen: Wiegen die schönen Seiten die leidvollen auf? Dies ist eine sehr individuelle Angelegenheit und kann nur von jenen, die von der Untreue des Partners selbst betroffen sind, beantwortet werden.

Das Gute in diesem Fall ist, dass Offenheit herrscht. Hier wird nicht im Verborgenen geschummelt. Die Karten liegen offen auf dem Tisch.

Im Gegensatz dazu steht die Affäre, die sich heimlich anbahnt. Zunächst sind da lediglich Vermutungen, Verdächtigungen oder aber ungute, quälende Vorahnungen, die nicht konkret in Worte gefasst werden können. Irgendetwas ist anders geworden. Der Partner/die Partnerin benimmt sich seltsam, unternimmt plötzlich allein etwas, kommt später als angekündigt nach Hause. Es wird möglichst vermieden, Urlaube, Feiertage und Wochenenden oder überhaupt längere Zeit zu zweit zu verbringen. Im Bett herrscht meist reduzierter Winterdienst, obwohl immer wieder Versuche erfolgen, künstliche Nähe zu erzeugen: kameradschaftliches Händchenhalten, beim Abschied ein Küsschen auf Wange und Stirn, Rituale, die Nähe und Verbundenheit suggerieren, wie sich gegenseitig ins Bett zu bringen und oft stundenlange Gespräche über andere zu führen. Beliebte Gesprächsthemen sind eigene und fremde Kinder, Mitarbeiter, Hunde und Chefs sowie die Beziehungen von Freunden und Bekannten, die unter die Lupe genommen werden, um nach verdächtigen Beziehungslecks zu suchen. Diese Gesprächsthemen helfen, von sich abzulenken.

Oft reagieren die nichtwissenden Partnerinnen auch mit körperlichen Beschwerden wie Migräne, häufiger Grippe oder sonstigen Unpässlichkeiten. Raina hatte, längst bevor sie vom Verhältnis Wanda/Hubertus wusste, regelmässig ihr „Krankenloch“, wie sie es nannte. Sie legte sich zwei Tage ins Bett, heulte ein wenig, fühlte sich seelisch durchgemangelt und körperlich vergrippt. Als die Affäre aufflog, drehte sie zwar total durch, war aber ab sofort von derartigen gesundheitlichen Irritationen befreit. Wandas Ehemann Ernst, der während der ersten Jahre ebenfalls keine Ahnung von der Affäre seiner Frau hatte, suchte mehrere Male einen Arzt wegen quälender Magenbeschwerden auf.

Eine 44jährige Bildhauerin, deren Ehemann über Jahre ein Verhältnis mit ihrer Haushälterin unterhielt, berichtete, wie sie stets ein Drücken in der, Kehle verspürte und zunächst dachte, es handle sich um Halsweh. Irgendwann habe sie sich an den leisen Schmerz gewöhnt, und er gehörte fortan zu ihr. Dann ging es mit heftigen Unterleibskrämpfen los. Blutungen, die sich nicht stillen liessen. Am Mutternmund herum­ schnipseln. Veröden. Verätzen. Und das Blut strömte wie aus hundert Leibern. Die Haushälterin pflegte und umsorgte sie. Und wenn sie einschlief, hatte das Liebespaar freie Fahrt.

„Schluss jetzt“, sagte die Bildhauerin nach über sechs Monaten, „die Gebärmutter muss raus.“ Nach der Operation wurde es immer noch nicht besser, und sie begann sich zu fragen, was sie sich wohl noch alles wegoperieren lassen sollte. Dann flog das Verhältnis auf. Ihr Mann verliess sie. Obwohl sie dachte, über den Schmerz nicht hinwegzukommen, waren ihre körperlichen Beschwerden wie weggeblasen.

Tauchen erste konkrete Vermutungen und Verdächtigungen auf, wird die Sache zunächst nicht besser. Viele Frauen reagieren mit schleichendem Selbstwertverlust. Sie fühlen sich plötzlich potthässlich, zu dünn oder zu dick, zu flach­ oder zu vollbusig, dumm und überhaupt minderwertig. Männer hingegen fragen sich eher, ob sie der Ehefrau eventuell finanziell zu wenig bieten. Frauen gehen zum Friseur, zur Kosmetikerin, ins Fitnesstraining; Männer belegen Kaderseminare, kämpfen um einen höheren Posten und wollen beruflich erfolgreicher werden.

Zudem entsteht bei vielen ein kaum auszuhaltender Kreuz­ stich im Hirn. Sie gehen zwar ihrem Verdacht nach, wollen endlich die Wahrheit in Erfahrung bringen und spionieren hinter den Lebensgefährten nach, um ihre Befürchtung zu bestätigen, was allein schon eine Unmöglichkeit darstellt. Denn einerseits wollen sie doch, dass sich der Verdacht nicht bestätigt. Dennoch entwickeln sie einen derart detektivischen und auf Erfolg ausgerichteten Eifer, gekoppelt mit einem süssen, wohlwehen Schmerz, dass sie beinahe enttäuscht sind, wenn sie nicht fündig werden. Tritt eine solche, ihren Verdacht entlastende Situation ein, spornt die Enttäuschung weitere spekulative Überlegungen an, die Observation des Partners/der Partnerin mit noch mehr Raffinesse weiterzuführen.

Es folgen die allseits bekannten Testanrufe. Durchsuchung der Brief- oder Handtasche. Riechtest an Unterhosen. Raina operierte eines Nachts die schwere Tischplatte vom Schreib­ tisch ihres Ehemanns weg, um so wenigstens die oberste Schublade zu inspizieren. Und da lag die ersehnt-befürchtete Überraschung. Etwa fünfzig winzige, mit Bleistift bekritzelte Zettelchen „mit entsetzlichem Liebesgeflüster“ von Wanda. Zudem ein kleines, in Geschenkpapier verpacktes Schächtelchen, das sie ebenfalls öffnete. Sie wurde beinahe vom Schlag getroffen. Vor wenigen Wochen hatte sie zum Geburtstag von Hubertus eine Kette mit einem Perlenanhänger geschenkt bekommen. In der Geschenkschachtel lag aber eine ganze Perlenkette. Sie musste ein kleines Vermögen gekostet haben. Sie rechnete sich aus, Wanda bekomme dieses grosszügige Geschenk wohl zur Geburt, was dann auch prompt eintraf. Als Sonderüberraschung fand sie noch zwei Sexheftchen.

Das ist eigentlich die grösste Falle, in die wir hineingeraten können: Spionage, Observation, Kontrolle. Diese Massnahmen sind Mittel, um einen verräterischen Staatsfeind zu über­ wachen, nicht aber, um sich mit einem Menschen auseinanderzusetzen, den zu lieben wir vorgeben. Sobald wir dem/der Partnerln nachschnüffeln, befinden wir uns auf der Gegnerseite, und er/sie wird zum Feind, den wir endlich erwischen und des Hochverrats überführen wollen. Letztlich aber wer­ den wir beide durch ein solches Eingreifen zutiefst gedemütigt, wir dringen unerlaubt in die intimsten Bereiche des Partners ein, die er ganz bewusst vor uns geheim hielt, und verletzen somit sein Hoheitsterritorium. Wer hinter dem/der Partnerin her spioniert, wird sich nicht sonderlich gut dabei fühlen. Wir brechen in für uns unbefugte Räume ein, und in diesem Tun entwürdigen wir uns selbst. Es ist kaum möglich, neben der Spionagetätigkeit dem/der Partnerin offen und wohlwollend begegnen zu können. So sind wir stets mit dem Hintergedanken ausgerüstet, ihn/sie zu ertappen, und zwar möglichst auf frischer Tat.

Ebenso ungünstig werden sich Selbstvorwürfe auswirken.

„Was habe ich nur falsch gemacht?“ ist deshalb eine verhängnisvolle Frage, weil sie impliziert, dass lediglich herauszufinden ist, wie es „richtig“ zu machen wäre, damit der/die Partnerin nicht fremdgeht. Diese Einstellung führt erstens zu einer völlig falschen Einschätzung der eigenen Position, die jegliche Erkenntnismöglichkeit verbaut, sich auf sich selbst zurückzubesinnen. Zudem zeigt es eine ziemlich grosse Naivität, was die menschliche Psyche und ihre selbstregulierenden Massnahmen betrifft. Diese arbeitet absolut autonom und lässt sich von niemandem ins Handwerk pfuschen.

Schweigen, alles in sich hineinfressen, ist ebenfalls falsch. Diesen Fehler hatte Raina gemacht. Sie sprach zunächst mit niemandem. Sich abkapseln bringt die Gefahr mit sich, dass wir uns in völlig realitätsfernen Vermutungen und Phantasien verrennen. Und genau dies ist Raina passiert. Sie jagte der Vorstellung nach, Wanda und Hubertus in flagranti ertappen zu müssen. Sie war besessen von dem Gedanken, durch die Steigerung ihres Schmerzes, die eine direkte Konfrontation zweifellos mit sich gebracht hätte, endlich von der unerträglichen Spannung erlöst zu werden. Zudem wollte sie sich rächen und die beiden der Scham des Ertapptwerdens aussetzen. Als es ihr nicht gelang, verstieg sie sich in immer gefährlichere Überlegungen, bis sie das Feuer legte. „Ich war von diesem Gedanken wie besessen: Der Rauch wird sie aus der Kapelle heraustreiben, und sie werden wie Ratten das sinkende Schiff verlassen.“

Wenn Raina jemanden ins Vertrauen gezogen hätte, wäre allein durch das Aussprechen dieser Phantasie eine Korrektur erfolgt. Es gibt Dinge, die, einmal beim Namen genannt, nicht mehr in die Tat umgesetzt werden müssen.

Was aber hilft?

Die erste Adresse ist immer der/die Partnerin. Mit ihm/ihr sollten wir zuerst sprechen. Offen zu unseren Vermutungen und Befürchtungen stehen und darum bitten, die Wahrheit zu erfahren. Wenn es uns gelingt, in einem solchen Gespräch auf Anschuldigungen und Vorwürfe zu verzichten, ist die Chance um einiges grösser, der Wahrheit näher zu kommen. Der/die Partnerin ist kein Unmensch, auch wenn es uns in einer solchen Situation ziemlich schwerfällt, dies nicht zu glauben. Je ehrlicher wir ihm/ihr gegenüber sind, um so eher wird es möglich sein, dass auch er/sie den Schritt in die Wahrheit wagt. Wir sollten offen von unserem Verdacht sprechen, der Ungewissheit, die so schwer auszuhalten ist. Wir sollten uns im Klaren darüber sein, dass die Wahrheit, vor allem wenn die Vermutungen zutreffen sollten, sehr schmerzlich sein wird, dass aber das Sich-stets-im-Kreis-Drehen ein viel grösserer Schmerz ist.

Will jedoch der/die Partnerin nicht darüber reden, was trotz unserer Offenheit durchaus möglich ist, vor allem, wenn er/sie gerade ein heisses Eisen im Feuer am Schmelzen hat und durch die neue Liebschaft fiebrig glüht, wird wohl wenig Motivation für eine ehrliche Auseinandersetzung vorhanden sein. Statt den/die Partnerin zu bedrängen, der/die überhaupt keine Lust dazu hat, sondern nur eines im Kopf, schnell zum/zur aushäusigen Geliebten zu eilen, sollten wir sofort kehrtmachen und uns auf direktem Weg einen Menschen suchen, mit dem wir offen über unseren tiefen Kummer reden können. Doch aufgepasst! Es eignen sich nicht alle für ein solches Gespräch. Wir sollten unsere Gesprächspartnerlnnen sorgfältig auswählen. Sie müssen vor allem über die Eigenschaft verfügen, wertfrei zuhören zu können, das heisst, keinerlei negative Gefühle dem/der Partnerin gegenüber hegen und keine Schuldzuweisungen vornehmen. Alle chronischen Öl-ins-Feuer-Giesserinnen, die grundsätzlich über alle und auch über unsere Partner schlecht reden, kommen unter keinen Umständen in Frage. Ebenso Besserwisserinnen, Ratschlägerlnnen, Moralistinnen, Nörglerlnnen und Schwarzmalerinnen vom Dienst.

Nur das Beste ist gut genug. Die Situation ist schwierig genug, deshalb müssen wir unser eigenes Wohlbefinden stets im Auge behalten, gut für uns sorgen und alles daran setzen, dass es uns bessergeht. Wir sollten uns täglich die Frage neu stellen, was uns jetzt besonders wohl tun könnte. Damit ist nicht nur gemeint, sich in ein wohliges Bad zu legen, sondern sich auch mit Aktivitäten zu beschäftigen, die besonders viel Freude machen. Vielleicht graben wir alte Hobbys aus, die uns früher mit Begeisterung erfüllten. Ebenso sollten wir tunlichst darauf achten, dass wir uns in dieser Zeit unter keinen Umständen mit Menschen treffen, die uns bisher auch sonst nicht erfreuten. Es gibt eben Menschen, da fühlen wir uns nach einem Treffen mit ihnen schlechter als vorher. Sie entleeren unsere Energiebatterie. Andere hingegen bewirken das Gegenteil, wir fühlen uns besser. Sie laden die Batterie auf. Und es gibt nun weiss Gott keinen Grund, weshalb wir uns ausgerechnet in einer Situation, die ohnehin sehr schwierig ist, auch noch mit Energiekillern umgeben, die uns den letzten Rest Lebenskraft aus den Adern saugen. Vorsicht vor Familien- und Verwandtentreffen!

Die Stunde der Wahrheit

Während sich die Verdachtsphase wie ein Endlosmarathon hinzieht, in dem das Ziel ständig nach hinten verschoben wird und wir mit hängender Zunge durch den Alltag hecheln, ist die Stunde, in der sich die Wahrheit enthüllt, mit einem heftigen Schlag vergleichbar, der sekundenschnell die ganze Welt zum Stillstand bringt. Nun liegen eindeutige Beweise vor. Der Verdacht bestätigt sich: Er/sie geht tatsächlich fremd. Entweder haben wir ihn/sie in flagranti ertappt, eventuell gar im eigenen Ehebett, einen heissen Liebesbrief, ein entlarvendes Foto gefunden oder einem telefonischen Liebesgesäusel beigewohnt. Raina: „Mir war, wie wenn mir eine schwere Eisenplatte das Gehirn zerschmetterte.“ Als Ernst von der Affäre Hubertus/Wanda erfuhr: „ ... traf mich der Blitz aus heiterem Himmel.“

Eine 24jährige Verkäuferin schildert ihre erste Reaktion:

„Der Boden unter meinen Füssen klaffte auf, und ich drohte hinunterzustürzen.“ „Mein Herz drohte aus dem Leib zu springen, und ich bekam keine Luft mehr zum Atmen. Hinterher habe ich das ganze Porzellan aus dem Fenster geschmissen“, erzählte eine 48jährige Ehefrau von dem Moment, als sie erfuhr, dass ihr Mann eine 18jährige geschwängert hatte.

Ein 32jähriger Krankenpfleger: „Ich erstarrte, alles rückte weit von mir weg, und erst nach einigen Tagen begann ich allmählich zu begreifen, was wirklich geschehen war.“

Laura versuchte, auf ihre Art damit fertig zu werden: „Ich wurde in der ersten Sekunde zwar beinahe ohnmächtig. Dann handelte ich und schickte ihn zum Teufel.“

Wenn die Wahrheit zu bedrohlich ist, nehmen wir sie aus Selbstschutz einfach nicht zur Kenntnis. Ein 36jähriger Versicherungskaufmann: „Ich wollte von allem nichts wissen und ignorierte den eindeutigen Tatbestand. Ich arbeitete wie ein Wahnsinniger – nebenbei war ich in dieser Zeit sehr produktiv und erfolgreich.“

Und eine 56jährige Schriftstellerin erzählte: „Ich habe es verdrängt. Aber ich habe Bücher geschrieben, eines nach dem anderen, und mich intensiv in das Leben meiner Figuren hineingedacht.“

Den einen zieht es den Boden unter den Füssen weg, andere schlagen alles kurz und klein. Auch bei jenen, die stets wohlüberlegt handeln, kann es zu Verhaltensweisen kommen, die sie selbst überraschen. Den meisten brennen sämtliche Sicherungen durch, nur ein Notstromaggregat bleibt intakt, das die wichtigsten Funktionen in Gang hält.

Unbekannte, gegensätzliche Gefühle brechen aus, ein Gefühlschaos tobt wie ein rasender Sturm und fegt moralische und ethische Grundprinzipien kurzerhand weg. Alles wird möglich! Obwohl wir keiner Fliege etwas zuleide tun könnten und uns seit Jahren in der Friedensbewegung engagieren, ertappen wir uns plötzlich bei der Überlegung, auf welche Weise die Nebenbuhlerin, diese elende Schlampe, aus der Welt zu schaffen sei. Wirwünschen uns nichts sehnlicher als die Geliebte auf den Mond, ins Pfefferland, oder phantasieren ihr leiddurchtränktes Ableben. Tod als gerechte Strafe Gottes. Für sie. Bestrafung auch für ihn. Und für alle gemeinen und hinterhältigen Mitwisserinnen, die mithalfen, das Liebesverhältnis zu verheimlichen. Mordgedanken sind in dieser Phase an der Tagesordnung, darüber sollten wir nicht allzu sehr erschrecken.

Oder aber wir brechen in einen nie erlebten Schmerz ein, der uns beinahe den Verstand raubt. Wir wissen nicht, ob wir je wieder zu weinen aufhören können, oder wir liegen apathisch, tränenlos im Bett und wollen nur noch eines: sterben.

Solche Reaktionen, die wir vielleicht von uns nicht kennen, machen Angst. Sind wir noch normal? Die Sorge um unsere geistige Gesundheit addiert sich zum anderen Gram dazu oder multipliziert ihn sogar und macht alles noch schlimmer und verworrener. Um es gleich vorwegzunehmen: Alle Gefühle, seien sie auch noch so fremd, sind in dieser Phase möglich. Sie sind weder abnorm noch Vorboten einer sich anbahnenden Geisteskrankheit. Hier gibt es keine Norm, an der wir uns messen könnten. Alle nur erdenklichen menschlichen Abgründe können aufklaffen.

Gut, es gibt immer wieder Personen, die auch in dieser Zeit raten, sich möglichst unter Kontrolle zu halten, sich wie ein anständiger Mensch aufzuführen und gefälligst zusammen­ zunehmen. Solche Ratgeber sollten wir jetzt meiden wie die Pest. Sie haben vom Leben keine Ahnung!

Wer begriffen hat, dass die Lebensgefährten eine statthalterische Funktion haben, nämlich wie eine Brücke die Verbindung zum Herkunftsland zu sichern, dem muss doch eine solche Reaktion bei einem drohenden Verlust einleuchten. Wir erleben das Gefühl, die Garantie zu verlieren, jemals wieder in unser Heimatland zurückzukehren. Es ist das Schlimmste, das uns zustossen kann!' Schlimmer als der Tod. Dass wir in diesem absoluten Aufbruch der Gefühle kaum in der Lage sind, die Statthalterschaft des Partners als eine vorübergehende und ohnehin befristete Regentschaft zu er­ kennen, ist verständlich. Der Partner/die Partnerin steht für Heimat. Mit seinem/ihrem Verlust scheint auch die Heimat verloren.

In dieser Phase über die Einsicht rational Einfluss auf die eigene Befindlichkeit zu nehmen, ist für die meisten Menschen nicht möglich und nicht ratsam und stellt eine Überforderung ersten Ranges dar. Das einzige, was wirklich hilft und uns weiterbringt, ist, wenn wir unsere Gefühle zulassen und uns dadurch näherkommen. Schmerz, Trauer, Wut sind Gefühle, die uns wieder in Kontakt mit uns, mit unserer innersten Wahrheit bringen. Wut ist eine wichtige und tragende Energie. Sie lädt uns auf, reisst uns empor in eine aufrechte Haltung, in der wir wieder aktiv werden. Es ist kaum möglich, Empörung zu fühlen und gleichzeitig wie ein geknickter Gartenschlauch durchzuhängen. Trauer und Schmerz bringen uns zu uns selbst zurück, zum Ursprung. Und dabei bekommen wir vielleicht eine Ahnung davon, wie es sich anfühlt, zu sich selbst zurückzukehren und in sich selbst etwas Heimat zu finden. Alles, was uns in dieser Phase mit uns selbst wieder in Kontakt bringt, hilft uns, Orientierung in unserem Leben zu finden.

Hingegen wird es uns nicht helfen, mit unserer Aufmerksamkeit die Figur des Geliebten/der Geliebten stundenlang zu umkreisen, um uns zu überlegen, wie wir uns an dieser Unperson rächen und ihr eins auswischen könnten. „Ich habe die Geliebte meines Mannes zur Schnecke gemacht, sie öffentlich beschimpft und im Geschäft dafür gesorgt, dass sie bei allen abgeschrieben war“, erzählt eine Frau, deren Ehemann mit seiner Sekretärin ein Verhältnis hatte, „und ich werde nicht eher ruhen, bis sie mit Schimpf und Schande aus dem Geschäft gejagt wird.“

Frauen reden oft über ihren Mann, als ob es sich um ihren Leibeigenen, einen geistig Behinderten oder sonst einen nicht ganz Zurechnungsfähigen handelte. Sie überlegen sich, wie sie die Geliebte davon abhalten könnten, sich an ihrem Eigentum Ehemann zu vergreifen. „Die soll endlich die Finger von meinem Mann lassen.“ „Sie hat die Initiative ergriffen und stieg meinem Mann hinterher“, argumentierte auch Raina. Damit machte sie Wanda zur Schuldigen, die den armen und absolut wehrlosen Hubertus verführte. Diese Verfälschung ist als Versuch zu verstehen, den eigenen Lebensgefährten zu entlasten. Daraus spricht aber auch eine grosse Respektlosigkeit. Wir degradieren den Partner, wenn wir ihm die Fähigkeit absprechen, eigene Entscheidungen zu fällen. Diese Haltung entlarvt die Beziehungsstruktur in peinlicher Deutlichkeit.

Da in der Phase, in der die Wahrheit ans Licht kommt, tiefe Ängste aufbrechen und die Wahrscheinlichkeit, mit dem/der Partnerin darüber sprechen zu können, eher klein ist, sollten wir uns gerade in dieser gefährlichen Situation eine Vertrauensperson suchen, die uns durch die verschiedenen Stadien aussergewöhnlicher Gefühle begleitet. Es gelten die gleichen Regeln wie in der Verdachts- und Spionagephase: Es kommen nur Menschen in Frage, die weder bewerten und verurteilen noch Ratschläge erteilen. Menschen also, die auch in heftigsten Wutgewittern nicht den moralischen Zeigefinger zücken und versuchen, Einhalt zu gebieten. Falls wir keine Vertrauensperson haben, sollten wir unbedingt fachliche Hilfe in Anspruch nehmen.

Raina hätte dringend psychotherapeutischer Hilfe bedurft. Hätte ihr jemand dabei helfen können, ihren inneren Brand zu löschen, wäre sie nicht zur Brandstifterin geworden.

Damit die Welt nicht aus den Fugen kracht

Nachdem wir von dem schwersten emotionalen Erdbeben heimgesucht wurden, stellen wir fest, dass der Hurrikan eine grosse Verwüstung angerichtet hat. Was gestern noch Gültigkeit hatte, stimmt heute nicht mehr. Sämtliche Vorstellungen von Ehe, Treue und Familie sind zerstört. Wir wissen nicht, wie wir uns im Alltag wieder zurechtfinden sollen, da nun alles anders geworden ist. Wenn wir mit dem/der Partnerin zusammen sind, wird es plötzlich in den Herzkammern zum Bersten eng, und wir müssen uns zusammenreissen, um nicht einfach loszuschreien. Wenn wir Verwandte und Freunde treffen, die uns nach unserem Befinden fragen, würden wir am liebsten im Erdboden versinken. Wenn wir abends die ahnungslosen Kinder ins Bett bringen, könnten wir losheulen. In der Stunde der Wahrheit stimmt die Welt nicht mehr.

Wir wissen nicht, wo mit Aufräumen beginnen, vielleicht sind wir derart entmutigt, dass wir es uns nicht vorstellen können, jemals wieder einigermassen Ordnung in unsere Lebensverhältnisse zu bringen. Tatsächlich haben wir alle Hände voll zu tun, sind wir doch an mehreren Fronten gleichzeitig gefordert. Einmal müssen wir irgendwie im Alltag über die Runden kommen und eine provisorische Ordnung einrichten. Wir sind mit einem Schlag nicht mehr in unserer Hauptrolle als Partnerln, sondern in der verhassten Rolle des/der Hintergangenen/und Betrogenen. Abends, wenn wir mit dem/der Partnerin vor dem Fernseher sitzen, sitzt in der Vorstellung der „Betrogenen“ jetzt auch noch die Geliebte mit dabei. „Seit ich weiss, dass meine Frau einen Liebhaber hat, habe ich nie mehr das Gefühl, mit ihr allein zu sein. Im Bett höre ich manchmal, wie es aus den Wänden lacht. Es ist zum Verrücktwerden“, so ein 44jähriger Ingenieur.

Es gibt aber auch auf einer anderen Ebene viel zu tun, die auf den ersten Blick nicht sofort erkennbar ist und dennoch sehr viel Kraft erfordert. Die meisten hatten eine Vorstellung ihrer Zukunft, in der sie glücklich und zufrieden ihr Leben gestalten können. Die einen setzten Akzente auf berufliche Erfolge, andere richteten ihre Ziele auch auf privates Wohl­ ergehen aus und die meisten auf beide Bereiche zugleich. Zukunftsvisionen, in denen wir uns mit einem/einer Lebensgefährtin durchs Leben gehen sehen, implizieren meist gegenseitige Treue. Wir phantasierten in jungen Jahren nicht etwa: „Wenn ich erwachsen bin, werde ich eine liebe Frau/ einen lieben Mann heiraten, und er/sie wird mich möglichst oft mit einem/einer anderen betrügen.“ Auch spätere Fremdspringerinnen träumen nicht bereits in der Kindheit vom fremdspringenden Erwachsenenleben.

In der Phase, da kein Stein mehr auf dem anderen bleibt, ist vor allem eine Anpassung an die neue Realität zu leisten. Wir müssen Korrekturen in unserem Weltbild vornehmen. Und das können wir nur, wenn wir uns von den Kinderträumen verabschieden, Phantasien loslassen und Platz schaffen für Neues. Eine grosse Hilfe ist es, wenn wir mit einer Vertrauensperson so lange über alles, was wir aufgeben müssen, sprechen können, bis der Schmerz über das Verlorene allmählich etwas kleiner wird. Diese Auseinandersetzung gelingt nicht von heute auf morgen. Auch Menschen, deren Haus nieder­ brannte und die ihr Hab und Gut von einer Stunde auf die andere verloren, brauchen viel Zeit, um sich an die neuen Gegebenheiten zu gewöhnen. Ziehen. sie in eine neue Wohnung ein, tragen sie wahrscheinlich noch für geraume Zeit die Dimensionen des Verlorenen in sich. Auch in solchen Situationen hilft es, ganz bewusst von einem Gegenstand, den wir einst besassen, Abschied zu nehmen und den Verlust zu betrauern, indem wir darüber sprechen. Wir müssen unsere Visionen, Wünsche und Vorstellungen begraben, damit neue entstehen können und eine Chance erhalten, Wirklichkeit zu werden.

Ernst berichtete: „Ich habe während meiner ganzen, nicht sehr freudigen Kindheit nur einen einzigen Wunschtraum vor Augen gehabt, zu heiraten, Kinder zu haben, die sich abends mit den Eltern um den Tisch versammeln. Nachdem ich von der Liebschaft Wanda/Hubertus erfuhr, dazu auch noch, dass Wanda von Hubertus schwanger war, zerbrach dieser Kindheitstraum. Ich wollte überhaupt nichts mehr. Heute beginne ich allmählich zu verstehen, dass mir mein Kindheitstraum die Kraft gab und es mir ermöglichte zu überleben. Der Traum hat seinen Zweck erfüllt und ist hinfällig. Ich habe überlebt. Und jetzt bin ich bereit für den nächsten Schritt.“ Ernsts Vision ging zunächst nur so weit, dass er unbedingt mit Wanda zusammenbleiben wollte. Dann veränderte sich sein Vorstellungsbild allmählich. Und nun sieht er nicht mehr nur seine eigene Familie am Tisch sitzen, sondern stellt sich vor, wie sie alle zusammen Blumen auf das Grab des verstorbenen Kindes bringen.

Die gröbsten Fehler, die uns in dieser Phase unterlaufen können, sind vorschnelle Entscheidungen, wie etwa, unverzüglich den/die Partnerin zu verlassen oder ihm/ihr das Messer auf die Brust zu setzen: der/die andere oder ich. Ebenso ungünstig wirkt sich das Festhalten an alten Visionen aus. Hatten wir einst eine romantische Vision von Liebe und Treue und sind nun nicht bereit, die notwendigen Korrekturen vor­ zunehmen, wird dies unweigerlich dazu führen, dass wir bereits nach dem/der nächsten Kandidatin Ausschau halten, um mit dem oder der unsere Zukunftsvision zu erfüllen. Dies ist eine ziemlich gefährliche Sturheit. Sie macht uns unweigerlich für die nächste Misere anfällig, projizieren wir doch unsere Wünsche auf die nächstbeste geeignet erscheinende Figur.

Esgibttatsächlich Menschen, dielebenslanganderartigen Zukunftsvisionen festhalten und von einer Beziehungskatastrophe in die nächste geraten. Sie wundem sich über die Summe von Schicksalsschlägen, sind aber nicht bereit, ihre Visionallmählichder Realitätanzupassen.

Weder Flüchten noch Standhalten

Durch die verschiedenen Stationen einer Auseinandersetzung mit dem/der fremdgehenden Lebensgefährtin geschleust zu werden ist eine sehr anstrengende und strapaziöse Angelegen­ heit. Einerseits zielt die Arbeit nach innen, wo sie in aller Stille und Behutsamkeit vor sich geht, andererseits geraten wir immer wieder von neuem in seelischen Aufruhr, vor allem, wenn die Affäre beharrlich weitergeführt wird. Da schleudert es uns von einer Ecke in die andere, da gibt es Momente, in denen wir entschlossen sind, einfach alles hinzuschmeissen:

„Soll er/sie nur schauen, wie lange er/sie ohne mich zurecht­ kommt!“ Zugleich aber wollen wir die Beziehung, die Familie auf alle Fälle erhalten, koste es, was es wolle, und zudem wollen wir auch nicht kampflos das Feld dem/der Nebenbuhlerln überlassen, ausgerechnet jetzt, da wir eine geradezu unbeschreibliche Sehnsucht nach unserem/unserer Partnerin verspüren. Haben wir uns einmal zu einem Entschluss durch­ gerungen, ihn/sie zu verlassen, und ihn überzeugt verkündet, kann es sein, dass uns jäh die Reue packt und wir alles wieder rückgängig machen, noch bevor wir den Satz ganz zu Ende gesprochen haben. Eine Situation zum Verzweifeln. Und wer es nicht selbst einmal erlebt hat, kann sich diese Hölle nur schwer vorstellen.

Diese Phase ist gekennzeichnet durch ein ständiges Auf und Ab, ein Hin und Her. Es ist, als ob wir uns auf einer Reise befänden, bei der sich das Ziel ständig verändert. Und weil wir uns ohnehin in einem Wechselbad der Gefühle befinden, ist es nicht verwunderlich, wenn wir heute den einen Standort für den richtigen halten und morgen möglicherweise bereits den anderen. Wer nun aber versucht, eine Entscheidung zu fällen und an ihr festzuhalten, gerät unweigerlich in Teufels Küche. Dies ist denn auch einer der Kardinalfehler, die uns unterlaufen können: Wir setzen uns selbst unter Druck und zwingen uns zu einem Entschluss. Sind wir darüber hinaus auch noch von Menschen umgeben, die ins gleiche Horn stossen und uns zu einer klaren Entscheidung drängen, wird es noch schlimmer. Zudem spielt auch eine Rolle, ob wir in dem Begriff des Flüchtens etwas Negatives, in dem des Standhaltens etwas Positives sehen, wie das in unserer Gesellschaft üblich ist. Dann wird uns diese Bewertung noch zusätzlich unter Druck setzen: „Die hat es sich leicht gemacht und hat sich getrennt.“ Als ob eine Trennung etwas Leichtes wäre! Sind wir von solchen Ratgeberinnen umgeben, sollten wir sie tunlichst meiden. Es gibt Menschen, mit denen lässt sich wunderbar Tennis spielen, aber über Lebensprobleme sollten wir nicht mit ihnen sprechen. Sie sind absolut ungeeignet.

Die gegensätzlichen Stossrichtungen von Flüchten und Standhalten auszukundschaften, könnte aber auch dazu bei­ tragen, neue Perspektiven zu öffnen. Es ist ja grundsätzlich alles .im Umbruch, und da sollte es möglich sein, auch die extremsten voneinander abweichenden P0sitionen auszuloten. Manchmal müssen wir in unserer Vorstellung gegensätzliche Standpunkte mehrere Male aufsuchen, um sie möglichst gründlich kennen und besser einschätzen zu lernen, was für uns richtig ist. Beim Kauf eines Autos, wenn wir zwischen zwei total verschiedenen Modellen zu wählen haben, gestatten wir uns auch mehrere Probefahrten, um uns mit den jeweiligen Unterschieden vertraut zu machen und eine wohlüberlegte Entscheidung zu treffen. Hier geht es aber nicht um ein Auto, sondern immerhin um Lebensplanung. Da dürfen wir uns ruhig Zeit lassen und gedanklich in verschiedenen Möglichkeiten herumspazieren. Es geht grundsätzlich nicht etwa darum, sich zwischen Flüchten oder Standhalten zu entscheiden, die ja die extremsten Positionen bezeichnen, sondern herauszufinden, welche massgeschneiderte Lösung sich als die für uns richtige erweist, mit sämtlichen Abstufungen und eventuellen vorübergehenden Zwischenlösungen. Da braucht es Zeit, die wir uns zugestehen sollten. Da kann es durchaus mal sinnvoll sein, sich einfach aus dem ganzen Beziehungsstress abzusetzen, zu verreisen, um einmal tief durchzuatmen und wieder etwas zur Ruhe zu kommen.

Wir sollten uns in dieser Zeit vor allem mit Menschen umgeben, die bereit sind, uns auf diesen inneren Pendelbewegungen zu begleiten, ohne uns in eine Richtung zu stossen oder uns indirekt zu beeinflussen und ohne uns zur Eile anzutreiben. Menschen, die selbst ähnliche Durststrecken in ihrem Leben durchgestanden haben, sind oft sehr gute und kompetente Begleiterinnen. Sie wissen genau, dass die Betroffenen nur selbst das für sie Richtige herausfinden können und dass jede vorgefasste und konkrete Vorstellung, die von aussen vorgebracht wird, sich nur störend auswirkt.

Wenn es uns gelingt, gerade in dieser turbulenten Phase mit unseren wechselhaften Stimmungen einen freundschaftlichen Umgang zu pflegen, haben wir eine wichtige Lektion für die Gestaltung unseres künftigen Lebens gelernt.

Wie der Teufelskreis von Hoffnung–Enttäuschung–Misstrauen aufgebrochen wird

Für die einen hat sich die ganze unselige Angelegenheit insofern geklärt, als sie bewusst einen Schlussstrich unter die Beziehungsrechnung gezogen haben, bevor sie in diese Phase hineingerieten. Sie haben die Trennung vom Partner, der Partnerin vollzogen. Damit hört aber die Auseinandersetzung keineswegs auf. Es wird auch nicht etwa einfacher. Wer sich zu diesem Entschluss durchgerungen hat, weil sich diese Entscheidung als die richtige herausgestellt hat, wird innerlich einen anderen Weg einschlagen und andere Hürden zu bewältigen haben als jene, die sich entschieden haben, trotz der Affäre die Beziehung weiterführen zu wollen.

Der Antrieb, die Partnerschaft dennoch aufrechtzuerhalten, ist die Hoffnung. Wir hoffen, dass wir es doch noch hinkriegen. Wir hoffen, dass wir beide aus dem Vorfall etwas gelernt haben. Meist verspricht der/die Fremdgängerin, künftig auf die aushäusige Liebschaft zu verzichten, bis auf eher seltenere Ausnahmen, bei denen er/sie auf die ungehinderte Weiterführung als klar gestellte Bedingung mit der Begründung besteht: „Ich liebe beide.“ Wer sich darauf einlässt, weiss, was ihn/sie erwartet.

Wird aber ein Abbruch der Affäre in Aussicht gestellt oder gar versprochen, so halten sich Partner von Fremdspringerinnen daran wie an einem Strohhalm fest. Die Hoffnung trägt einen zunächst in die neue Vision einer neu erblühten Liebe. Bei den einen hält sie über Wochen an, bei anderen Tage, und bei einigen fällt sie bereits nach Stunden in sich zusammen. Anstelle von Hoffnung nagt Misstrauen.

Spätestens aber, wenn der/die Partnerin einmal telefonisch nicht erreichbar ist, zwanzig Minuten später als vereinbart nach Hause kommt oder für mehrere Tage verreist. Hat das Misstrauen einmal Platz genommen, werden wir es so schnell nicht wieder los. Wir versuchen uns zwar auf die hoffnungsvollen Perspektiven zu konzentrieren, bauen auf das Versprechen des Lebensgefährten/der Lebensgefährtin, aber der kleinste Windhauch bläst uns um, und wir landen im eigenen Misstrauen.

Und plötzlich finden wir uns in einer Situation wieder, die derjenigen, die wir in der Phase des Verdachts bereits kennen­ gelernt hatten, auffallend ähnelt. Das Verhalten des Partners/ der Partnerin wird unter die Lupe genommen und einer gezielten Kontrolle unterzogen, um möglichst handfeste Beweise von der versprochenen oder in Aussicht gestellten Treue zu erhalten. Der/die observierte Partnerin, inzwischen auch nicht mehr ganz so naiv wie einst, wird mit grösster Wahrscheinlichkeit die Überwachung bemerken und genervt und sauer darauf reagieren.

Dies wertet der/die Gefährtln unverzüglich als Beweis für erneute Untreue, macht grösste Vorhaltungen und stellt wiederum ein Ultimatum. Der/die Fremdspringerin fühlt sich einerseits derart unter Druck und empfindet die Verdächtigungen, besonders wenn sie unberechtigt sind, als schweren Vertrauensbruch und ist zutiefst gekränkt: „Wenn ich schon verdächtigt werde, dann kann ich ja zu Recht fremdgehen.“ So oder so: Das Misstrauen wird immer bestätigt, gefolgt vom Trauermarsch der Enttäuschung, der ebenso sicher folgt wie das Amen in der Kirche.

Das Schwierige daran ist, dass Verunsicherungen, Gefühle des Misstrauens vom Fremdspringenden/von der Fremd­ springenden nicht durch lückenlose Beweisführung für Treue aufgelöst werden können. Es wird nie genug Beweise geben! Misstrauen ist wie ein gigantischer Moloch, der alles verschlingt und immer noch mehr will. Misstrauen kann nie durch Gewissheit beseitigt werden. Es kann nur am Entstehungsort, also in einem selbst, individuell aufgelöst werden, indem wir es nicht mehr mit negativen Gedanken füttern. Auf jede Verdächtigung des Partners/der Partnerin, jede unlautere Absicht, die wir ihm/ihr unterstellen, stürzt sich das Misstrauen freudig. So sind wir letztlich selbst dafür verantwortlich, wenn wir unter Misstrauen zu leiden haben, denn schliesslich erzeugen wir unsere Gedanken selbst. Die Konsequenzen müssen nur wir tragen.

Wenn wir die Entstehungsgeschichte des Misstrauens noch weiter zurückverfolgen, so stossen wir auf einen zusätzlichen sehr interessanten Hinweis. Misstrauen ist das Gegenteil von Vertrauen. Auch Vertrauen sprudelt wie ein Urquell in einem selbst und kann ebenfalls nicht von aussen erzeugt werden. Zweifellos spielt es eine Rolle, ob wir uns als Kind vertrauensvoll auf unsere Bezugsperson, in der Regel die Mutter, verlassen konnten. War dies nicht der Fall, so werden wir wahrscheinlich im Erwachsenenleben damit mehr Mühe haben. Auf alle Fälle sollten wir vermeiden, uns lebenslang auf Schuldige, auf ungünstige Verhältnisse zu beziehen und selbst nichts dagegen zu unternehmen, um etwaige Störungen, die uns daraus entstanden sind, zu beheben. Schliesslich ist die Sorge um sich selbst der Grundstein für das Gelingen der Beziehung zu einem anderen Menschen. Wenn ich mir selbst nicht vertrauen kann, wem soll ich denn sonst vertrauen können! So ist Misstrauen gegenüber anderen eine Spiegelung meiner eigenen inneren Situation und zeigt er­ schreckend deutlich die Geringschätzung, die ich mir selbst entgegenbringe.

Der wichtigste Schritt in dieser Phase ist. demnach, Vertrauen in uns selbst zu gewinnen. Wenn uns das schwerfällt, können uns Menschen helfen, die an uns glauben, die uns etwas zutrauen und wertschätzend mit uns umgehen. In sehr hartnäckigen Fällen müssen wir unbedingt therapeutische Hilfe suchen.

Vergeben und vergessen

Wer die Partnerschaft trotz einem ein- oder mehrmaligen Fremdsprung des Partners/der Partnerin weiterführen will, muss die Bereitschaft aufbringen, die Gegenwart als einzig verbindlichen Ort der partnerschaftlichen Beziehung .zu akzeptieren. Wer stets zurückschaut, dem/der Partnerln die in der Vergangenheit erlittenen Verletzungen unter die Nase reibt und auflistet, sollte sich lieber trennen. „Was?“ fauchte eine 54jährige Juristin, „zuerst macht er mich fix und fertig, betrügt mich nach Strich und Faden, und jetzt soll ich auch noch so tun, als ob alles nicht stattgefunden hätte. Nicht mit mir!“ Und ein 37jähriger Mann klagte: „Ich werde ihr nie wieder vertrauen können, es sei denn, sie überzeugt mich davon, dass sie mich nicht mehr betrügt.“ Schade. Auf diesem Boden wächst kein Grashalm mehr.

Es nochmals miteinander versuchen heisst, das Wagnis ein­ zugehen zu leben – und zwar mit allem, was dazugehört. Wer sich absichern n:öchte, sollte sich besser für den Rest seines Lebens ins Bett legen und eine Lebensversicherung abschliessen, als sich nochmals auf eine Beziehung einzulassen. Mit angezogenen Bremsen kommt .man nicht vorwärts.

Nun sind aber die seelischen Unwetter der Vergangenheit nicht spurlos an uns vorübergegangen, und es bedarf jetzt einer speziellen Aufräumarbeit und darüber hinaus auch einer besonderen Pflege. Dabei ist darauf zu achten, dass wir die Arbeit selbst übernehmen und nicht davon ausgehen, der/ die Partnerin sei dafür zuständig. Das ist wahrscheinlich nicht einfach, empfinden wir doch gerade den/die Partnerin als Verursacherin des Schadens. Dies könnte dazu verführen, dem/der Partnerin das Büsserhemd überzuwerfen und ihn/sie die Schuld abtragen zu lassen, was sich wahrscheinlich nur wenige gefallen lassen würden. Für das Gelingen eines Neu­ anfangs in der Partnerschaft ist es absolut zwingend, nicht mehr in Schuldkategorien zu denken. Wer immer wieder andere für das eigene Unglück, gleich welcher Art, verantwortlich macht, kann niemals vergeben. Und wenn wir nicht vergeben, schleppen wir stets ein altes Sündenregister des/der anderen mit uns herum und platzieren es als richterliche Instanz zwischen uns. Und es wird mit Sicherheit dafür sorgen, dass wir einander nie mehr näherkommen.

Die Fähigkeit, vergeben zu können, fällt uns nicht in den Schoss. Es ist vielmehr ein langwieriger Prozess, da sich möglicherweise alles in uns dagegen sträubt. Schliesslich fühlen wir uns doch im Recht – und meinen, der/die andere trage ja alle Schuld. Es ist eine grosse innere Steinhauerarbeit, bei der wir uns Millimeter für Millimeter mit jedem Schlag der ursprünglichen Form nähern, in der jeder und jede ein Einzelwesen ist und bleibt und deshalb die Verantwortung für sich und das eigene Glück selbst zu tragen hat. Die Schuldzuweisungs-muster im eigenen Hirn zu löschen gelingt am besten, wenn wir in uns neue Denkwege anlegen und sie ganz bewusst so oft wie möglich abschreiten, bis wir sie in- und auswendig kennen und gar nicht mehr anders gehen können. Die einzelnen Stationen beim Bearbeiten der Schwierigkeiten, beim

Überwinden des Schmerzes, wenn der Partner fremdgeht, kommen manchen wie ein Kreuzweg vor, sind aber eine geradezu ideale Schulung. Sie werfen uns immer wieder auf uns selbst zurück, fordern uns auf, jenen Ort in uns ausfindig zu machen, der letztlich als einzige Instanz zur Verbesserung der eigenen Situation beitragen kann.

Die Schuldfrage in partnerschaftlichen Belangen als etwas völlig Überflüssiges zu betrachten, öffnet Tür und Tor: Alles wird möglich. Ist das Wort Schuld bedeutungslos geworden, erinnern wir uns nicht mehr daran, was wir vergeben sollten.

„Ich habe mich zweimal scheiden lassen“, berichtete eine geistig überaus aktive 63jährige. „Aber ich kann mich nicht mehr an den Scheidungsgrund erinnern.“ Sie hatte ihn vergessen. Und zweifellos grollte sie keinem der verflossenen Ehemänner.

Irgendwann haben wir vergessen. Und dann ist es auch vergeben.

Ehrenkodex für FremdspringerInnen

Die Illusion vom perfekten Seitensprung

Obwohl sich wohl alle Fremdspringerlnnen den perfekten Seitensprung wünschen und sehr viel an Phantasie und aus­ geklügeltem Einfallsreichtum aufbringen, um ihn zu vertuschen, gibt es ihn ebenso wenig wie den perfekten Mord. Letzt­ endlich liegt immer eine Leiche im Keller, im günstigsten Fall mumifiziert, im ungünstigsten dringt der Verwesungsgeruch in die Beziehungsräume ein.

Aber auch durch Affären gebeutelte Lebensgefährtinnen von Fremdspringerinnen philosophieren darüber (falls sie dazu überhaupt noch in der Lage sind), wie die Fremdgeh-Angelegenheit einzurichten sei, um die Schmerzfrequenz möglichst niedrig zu halten. In solchen Diskussionen zeichnen sich gegensätzliche Richtungen ab: der Wunsch nach absoluter Diskretion, denn „was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss“, versus die Forderung nach totaler Offenheit. Dazwischen tummeln sich mannigfaltige Differenzierungen; da ist vom Einmalausrutscher, dem One-Night-Stand die Rede, der möglichst geheim gehalten werden solle, auch im Wiederholungsfall mit verschiedenen Partnerlnnen; handle es sich hin­ gegen mehrmals um die gleiche Person, sollte unbedingt dar­ über gesprochen werden, ganz besonders aber dann, wenn nicht nur der Geschlechtsapparat, sondern auch die Seele am Geschehnis beteiligt sei. In der akuten Phase dürfte es freilich ziemlich schwierig sein, das eine gegen das andere exakt abzugrenzen.

Auch die Fremdspringerinnen selbst halten am Detail fest, krümeln Fakten auseinander und wollen darin plausible Begründungen für ihre Verheimlichungstaktik finden, die sie entlasten.

Die absolute Diskretion bringt zunächst für alle Beteiligten grosse Vorteile: Alles bleibt beim Alten. Die eheliche Infrastruktur bleibt unangetastet, der Alltag läuft vordergründig störungsfrei weiter, die partnerschaftliche Kommunikation folgt weiterhin ungeschriebenen Gesetzen, gegenseitige Ansprüche, Forderungen und Wünsche sind in Spielregeln ein­ gebunden und funktionieren mehr oder weniger reibungslos. Die Eheleute halten sich an ihre Textpassagen, die sie bereits auswendig hersagen können.

Die Fremdspringerinnen achten in dieser Inszenierung besonders auf Präzision, sie scheuen keine Mühe, schliesslich hängt das Gelingen der Geheimhaltung davon ab. Es wird grössten Wert darauf gelegt, Absenzen glaubwürdig zu begründen. Die ausgeklügelten Geschichten sind gut durch­ dacht und mehrschichtig angelegt, so dass sie nicht gleich bei der erstbesten Panne auffliegen. Die Zeiteinheit, die der Af­ färe gewidmet wird, ist so kurz wie nötig und so lang wie möglich bemessen. Damit wird der Ehe- und Partnerbeziehung absolute Priorität eingeräumt: Sie ist vorrangig und steht unantastbar an erster Stelle, wie es etwa in Kulturen der Fall ist, in denen es Männern erlaubt ist, mehrere Frauen zu heiraten, wo eine Hauptfrau im Vordergrund steht und Nebenfrauen im Hinterzimmer sitzen oder liegen. Den schwierigsten Part müssen in dieser Konstellation die aushäusigen Geliebten übernehmen und sich mit knappen Zeitlöchern fürs Liebesleben begnügen. Handelt es sich für sie um mehr als nur um ein kurzes sexuelles Abenteuer, reduziert sich ihr Leben auf die wenigen Stunden des Zusammenseins mit dem bereits gebundenen Geliebten. Vor allem an Wochenenden und Feiertagen ist dies sehr unangenehm, ebenso in schwierigen Lebenssituationen, in denen das verständliche Bedürfnis entsteht, sich mit dem Menschen, der einem am nächsten steht, auszutauschen, die geliebte Stimme zu hören oder sich ohne Vorabmachung spontan zu treffen. Frauen eignen sich besonders gut als Geliebte. Sie verzichten weitgehend auf ein eigenes Leben, um sich voll und ganz auf die wenigen Momente zu konzentrieren, in denen sich der Geliebte aus seinem Alltag wegstehlen kann. Sind noch zusätzlich unerwartete Zeitzwischenräume in Aussicht, die sich durch günstige Termine ergeben, wie etwa 20 Minuten vor einer Sitzung oder 35 Minuten zwischen zwei Verpflichtungen, werden sie auf alle Aktivitäten verzichten, um allzeit für ihn bereit zu sein. Sie zentrieren ihr Leben auf die rationierte Zeit mit ihm, um den grösstmöglichen Nutzen daraus zu ziehen. Andere freundschaftliche Kontakte werden eingeschränkt, es wird auf stundenlange Telefongespräche mit der besten Freundin verzichtet, um die Leitung für alle Fälle freizuhalten. Befindet sich die Waschmaschine ausserhalb der Wohnung, verzichten sie selbst auf den Gang zur Waschküche, um keinen Anruf von ihm zu verpassen, und ziehen es vor, die Wäsche von Hand zu waschen.

Diese Frauen stellen sich total auf die telefonische Einwegkommunikation ein, um immer für ihn erreichbar zu sein, unterlassen eigene Aktivitäten einer telefonischen Kontaktaufnahme und halten sich strikt an die Weisung, ausschliesslich dienstags und donnerstags zwischen 7 Uhr 35 und 7 Uhr 55 über Natel eine Verbindung zu suchen. Ausser jenem Teil, der sich in der Position der/des Geliebten befindet, ist mit einem solchen Diskretionsarrangement zunächst allen gedient.

Und eigentlich könnten solche Beziehungen über Jahre und Jahrzehnte erfolgreich weitergeführt werden, solange die Geliebten mitspielen und nicht irgendwann mehr fordern. Antonia hätte wahrscheinlich ihre heimliche Liebesbeziehung mit ihrem Pfarrer bis an ihr Lebensende weiterführen können, hätte sie ihm nicht das Messer auf die Brust gesetzt und eine Entscheidung von ihm gefordert.

Aber auch auf der Seite der Fremdgeherlnnen hat die ganze Sache einen Haken. Auch bei ihnen scheint irgendwo in der hintersten Ecke ihres Unterbewusstseins ein stecknadelgrosses Bedürfnis zu existieren, lieber in der Wahrheit als in der Lüge zu leben. Obwohl fremdgehende Menschen oft durchaus überzeugend verkünden: „Ich habe damit überhaupt keine Probleme!“, dringen über ihre Verhaltensweisen verschlüsselte Botschaften ans Licht, die von etwas anderem berichten. Hubertus hielt die Affäre mit Wanda strengstens geheim.

Er belegte mit ihr einen Meditationskurs, um ihrem Zusammensein einen offiziellen Anstrich zu verleihen. Ebenso war das wöchentliche Stelldichein in der Kapelle gut getarnt. Den­ noch unterliefen ihm einige Fehler, die nicht geschehen wären, wenn auch sein Unterbewusstsein an der Geheimhaltung interessiert gewesen wäre. Wie kommt ein intelligenter1 erwachsener Mann dazu, während der Abwesenheit seiner Ehe­ frau, deren Rückkehr nur vage bekannt und die zudem mit dem Auto unterwegs war, also jederzeit zurückkehren konnte, sich mit der Geliebten im eigenen Ehebett zu tummeln? Als Raina später nach Beweisen suchte, fand sie sie auch relativ problemlos, weil Hubertus die „Liebeszettelchen“ in seiner Schreibtischschublade aufbewahrt hatte. Auch hier zeugte sein Verhalten nicht gerade von grosser Vorsicht. Im Gegenteil. Irgendetwas anderes a1s sein Verstand schien gelegentlich die Führung zu übernehmen und ihn diese Patzer machen zu lassen, die dann auch prompt Wirkung zeigten und die Sache zum Auffliegen brachten.

Auch bei Raina muss etwas mit am Werk gewesen sein, dass sie es immerhin schaffte, über Jahre sämtliche Zeichen zu übersehen und unbeachtet links liegenzulassen, so dass, sie sich nicht bemüssigt fühlte, sie zu dechiffrieren. Heute erinnert sie sich, dass sie mehrere Male Dinge gefunden hatte, die sie leicht auf die Spur hätten führen können. So fand sie in einer seiner Jackentaschen einen Ohrklipp, der Wanda gehörte, im Auto eine Haarspange von Wanda und in der Kapelle ein Frotteehandtuch aus ihrem eigenen Haushalt. Sie ignorierte den Fund und warf alles bis auf ihr Handtuch in den Müll.

Es scheint, dass sich bei einigen Paaren der Wunsch nach Diskretion zu einem Geheimbündnis verdichtet: „Ich weiss nichts, ich will nichts wissen, und ich tue so, als ob ich nichts wüsste“, lautet die Devise der einen Seite, während die Gegenseite ebenfalls mitspielt: „Ich tue so, als ob ich nicht wüsste, dass, er/sie alles weiss.“

Sofern die Leiche perfekt mumifiziert wurde, funktioniert dieses stille Abkommen. Geschah es jedoch mangelhaft, kommt es irgendwann dennoch zu einer bakteriellen Verseuchung, und die „Betrogenen“ reagieren mit gesundheitlicher Beeinträchtigung.

Spätestens jetzt sollten Fremdgängerinnen die Verantwortung voll und ganz übernehmen und dafür sorgen, dass unverzüglich die Wahrheit, und zwar die ganze Wahrheit, ans Tageslicht kommt. Schliesslich weiss nur er/sie über die Hintergründe Bescheid, die eventuell zu einer gesundheitlichen Irritation des Partners/der Partnerin führten, und es sollte alles unternommen werden, damit die stinkende Leiche ab­ transportiert werden kann. Dazu bedarf es wahrscheinlich der Hilfe anderer, die sich beruflich mit der Entsorgung psychischer Alt- und Neulasten befassen.

Der unschädlichste und auch perfekteste Seitensprung ist wahrscheinlich jener, der gar nie stattgefunden hat. Für diesen Fall sollte allerdings gewährleistet sein, dass die durch den Verzicht – ob freiwillig oder nicht – bedingten Entzugserscheinungen in Grenzen gehalten oder auf andere Weise kompensiert werden können. Über die Selbstregulation müssen überdies andere Möglichkeiten eines Ausgleichs etwaiger Beziehungsdefizite gefunden werden.

Ein unlösbares Problem lösen

Auch wenn Lebensgefährtlnnen nicht mit Krankheit auf das reagieren, was sie offiziell nicht wissen, bleibt die Frage, ob die Lebenspartnerinnen über die Liebschaft aufgeklärt wer­ den sollten, ein Dauerbrenner. Man schiebt sie gleich einem Schneepflug vor sich her, angetrieben von der Hoffnung, sie werde sich wie Schnee an der Sonne von allein auflösen und beantworten.

Die Fremdgehpartnerlnnen unterliegen nicht selten den gleichen Fehlern wie die „Betrogenen“: Sie richten den Scheinwerfer auf den anderen. So argumentieren FremdgeherInnen häufig, sie könnten ihren Partnerinnen unmöglich die volle Wahrheit zumuten, da diese sie unter keinen Um­ ständen ertrügen. Diese Begründung ist immer falsch. Die Verheimlichung findet deshalb statt, weil zutiefst befürchtet wird, dass die Partnerbeziehung in die Luft flöge. Na und? Es ist in den meisten Fällen ohnehin eine Frage der Zeit. Die Bombe tickt. Irgendwann geht sie los. Die Zeit der Verheimlichung verleiht ihr zusätzliche Sprengkraft. Und nicht selten ist es gerade die Verheimlichung, die hinterher vom anderen Partner schlecht akzeptiert werden kann. Sie wird von den „Betrogenen“ als doppelter Betrug erlebt, und nicht selten werden im Rückblick sämtliche Zeitstationen endlos durch­ gekaut und auf Lügengeschichten untersucht. Fremdgänger­ Innen sollten wissen, dass es oft nicht das Fremdgehen an sich ist, sondern die aufgetischten Lügen, die hinterher genau zu dem führen, was befürchtet wurde: zum Abbruch der Beziehung.

Ein junger Mediziner stand vor dem für ihn unüberwindlichen Hindernis, sich vorstellen zu müssen, dass seine Freundin ihn betrog und belog, während er mitten im Staatsexamensstress hing: „Dass sie mich betrog, damit werde ich fertig. Dass sie mich aber über die ganze Zeit meines Examens belogen hat, mir dennoch vordergründig schön ins Gesicht tat, das kann ich nicht verdauen.“ Er trennte sich von ihr. Und eine 28jährige: „Während der ganzen Schwangerschaft hat er mich nicht nur betrogen, sondern auch täglich angelogen. Wenn ich zurückschaue, kann ich es drehen und wenden, wie ich will, ich fühle mich jämmerlich hintergangen.“

Wer fremdgeht, spielt mit hohem Einsatz.

Der Kunstgriff, die Partnerlnnen zu Patientlnnen zu machen, um derentwillen man sich grosse Sorgen macht und gar bereit ist, ihm/ihr zuliebe auf die Wahrheit zu verzichten, ist völlig überflüssig. Die wenigsten Menschen brechen zusammen und bringen sich um, weil sie von ihren Lebensgefährtinnen erfahren, dass eine aushäusige Liebschaft besteht. Aber nicht wenige haben irgendwelche Krankheiten produziert, sich Operationen unterzogen oder können sich in der Ungewissheit nicht mehr zurechtfinden und drehen beinahe durch.

Den Partner/die Partnerin als schwach, labil und wenig in sich gefestigt hinzustellen, dient in den meisten Fällen viel­ mehr dazu, die eigene Schwäche zu verschleiern. Wer heimlich unter dem Hag durchfrisst, hat eindeutig zu wenig Mut, zu sich und zu seinen Schwierigkeiten und Bedürfnissen zu stehen.

Da liegt es um einiges näher, sich vor sich selbst und anderen als die grossen Rücksichtsvollen hinzustellen, für die das Wohlergehen der Lebensgefährten an erster Stelle steht. Wäre dies aber tatsächlich der Fall, hätten sie sich schon viel früher Gedanken darüber gemacht und eventuell auf die aushäusige Liebschaft verzichtet und nach anderen Varianten selbstregulierender Massnahmen gegriffen.

Aber wenn es darum geht, sich selbst in die Tasche zu lügen, ist uns nichts zu kompliziert. Auch scheint es viel einfacher zu sein, gedankliche Klimmzüge zu vollziehen und die absurdesten theoretischen Konzepte auszuhecken. In den 68ern gehörte die Philosophie des totalen ehelichen und partnerschaftlichen Freigangs zur alltäglichen Hirnakrobatik der Intellektuellen. In den 80ern folgten viele dem sexuellen Befreiungsruf eines Guru, der ihnen die Absolution für die multiplen Sexualvarianten erteilte. Sie eilten in Scharen herbei, vor allem die durch Erziehung Verklemmten und Gehemmten mit tausend Verbotstafeln im Kopf. Gelegentlich sind auch heute noch Menschen anzutreffen, die unbeholfen in ihrem veralteten Oldtimer-Vokabular eine Gesinnung vertreten, die nicht mehr so richtig in die Zeit passen will: „Ich geniesse meine ganzheitliche sexuelle Freiheit (endlich!) in vollen Zügen und habe gleichzeitig mehrere Beziehungen. Bei den einen ist das erotische Moment mehr im Vordergrund, bei den anderen das rein sexuelle. Ich erlebe viele sehr tiefe, spirituelle, sexuelle Begegnungen, die auch für meine jeweiligen Beziehungsgefährtinnen wunderbar bereichernd und extrem erfüllend sind. Ich lasse mir keine Gelegenheit entgehen, vollsinnlich das ganze ganzheitliche Spektrum der Sexualität im Hier und Jetzt auszuleben.“ Für diese Menschen wäre es zweifellos praktischer, die körperliche Geographie wäre umgekehrt angeordnet, das Geschlecht würde auf der Schulter sitzen und der Kopf hinge zwischen den Beinen. So könnten sie zum Beispiel unnötig vertane Zeit in Warteschlangen vor Kassen im Supermarkt dazu nutzen, frei von umständlichem Hantieren an Slips und anderen hinderlichen Wäscheteilen, sexuelle Schnellkontakte zu pflegen.

Die gleichzeitig auf mehrere Personen ausgedehnte Beziehung galt damals als die Erlösung aus dem Fremdgeh-Dilemma. Viele atmeten auf. Das Problem schien mit einem einzigen Schlag gelöst. Doch bei den ausübenden PraktikerInnen schlichen sich rasch erste Betriebsstörungen ein. Da verspürten zwei das drängende Begehren, nicht zu dritt, sondern nur zu zweit den Beischlaf zu vollziehen. Archaische Bilder vermasselten ihnen jäh den Traum von der friedlichen Dreierkonstellation, die sie sich als Vermehrung und Steigerung der Lust phantasiert hatten. Da sich aber die menschliche Beziehungssituation nach der einfachen mathematischen Formel geschlechtlicher Hälftigkeit abspielt, die dahin zielt, sich mit einer anderen, gegen- oder gleichgeschlechtlichen Hälfte zu einem Ganzen zusammenzufinden, ging die Rechnung nicht auf. Es ist bedeutend schwieriger, aus drei Hälften ein Ganzes zu bilden. Eine der Hälften wird stets störend und überflüssig sein und letztlich ausgeschlossen werden auch wenn der Ausschluss alternierend geschieht.

Die totale Offenheitsdevise „Hauptsache: Die Wahrheit sagen, dann darf ich alles“ scheint ebenfalls nicht reibungslos zu funktionieren. Die Chance ist gross, wieder sich selbst etwas vorzumachen und die Offenheit damit zu begründen, den Lebensgefährten/die Lebensgefährtin nicht dem Ungewissen auszusetzen. Es gibt Menschen, die darauf bestehen, jede kurze Zwischenverpflegung getreulich zu melden, dafür aber auch den Segen für den Freigang zu erhalten. So soll die Offenheit lediglich dazu dienen, dass die aushäusige Lust nicht durch etwaige störende Gewissensbisse beeinträchtigt wird. Als Gegenleistung wird den Gewährenden eine detaillierte Schilderung des Abenteuers in Aussicht gestellt mit gleichzeitiger Beteuerung, dass im Grunde genommen der Herzkern nur ihnen allein gehöre.

Die einzige Möglichkeit, sich beim Fremdgehen nicht in zusätzliche Probleme hineinzuwirtschaften, besteht darin, eine ehrliche Konfrontation mit sich und seiner eigenen Wahrheit zu suchen. Damit wir eine Ahnung bekommen, wer wir eigentlich sind. Damit wir uns und unseren Bedürfnissen und Verhaltensweisen nicht wie seelische Analphabeten gegenüberstehen. Und vor allem, damit wir unsere Partnerinnen nicht als Mülldeponie missbrauchen, in die wir alle unsere Schwierigkeiten und ungelösten Probleme hineinkippen.

Ich heisse Hans und gehe fremd

Eine grosse Gefahr beim Fremdgehen ist langfristig die oft virtuose Verdrängungsarbeit, die geleistet werden muss, um der eigenen Wahrheit nicht begegnen zu müssen. Allein ein mehrstöckiges Argumentationsgebäude zu unterhalten, in dem sich die einzelnen Fremdgeh-Begründungen nicht wider­ sprechen, kostet eine immense Energie. Über Jahrzehnte eine solch perfekte akrobatische Verrenkungsleistung zu vollbringen, festigt zusehends Vermeidungsstrategien, die helfen, den Blick nicht gezielt auf sich selbst richten zu müssen. Im fortgeschrittenen Alter bleiben noch ein paar abgegriffene Phrasen und Floskeln übrig, die sowohl für andere als auch für einen selbst eine gespenstische Leere erzeugen.

Wer hingegen den Mut hat, sich selbst einmal ins Zentrum zu rücken, um etwas Ahnung von den eigenen Verhaltensweisen zu erhalten, wird unter keinen Umständen als Grund für die Verheimlichung der Affäre eine übergrosse Verletzlichkeit des Partners/der Partnerin angeben, sondern sich mit den eigenen Problemen konfrontiert sehen. Fremdgängerlnnen, welche die Affäre verheimlichen, haben Angst. Angst, den/die Partnerin, der/die noch immer stellvertretend für Heimat steht, aufgeben zu müssen und zu verlieren. Sie haben Angst, aus der Familie, in der sie sich heimatlich eingebettet fühlen, verstossen zu werden. Zudem haben sie Angst, aus dem Verwandten-, Bekannten- und Freundeskreis ausgeschlossen zu werden. Sie haben Angst, den Hund, die Katze, den Kanarienvogel aufgeben zu müssen. Sie haben Angst vor dem Ungewissen mit einem/einer neuen Partnerin. Sie haben tausend Ängste, die sie alle nicht wahrhaben wollen, auf die Kurzformel reduziert: Es ist besser, die Affäre aus Rücksicht auf den/die Partnerin zu verheimlichen.

Und damit nehmen sie einen absolut unzulässigen Übergriff auf die individuelle Welt der Partnerinnen vor, machen sie zu Patientinnen, zu psychotherapeutischen Sonderfällen oder gar zu psychiatrischen Notfällen. Das, was von den Fremdgängerinnen zu leisten wäre, nämlich sich mit der eigenen Situation auseinanderzusetzen, wird auf die „Betrogenen“ übertragen. Als ob sie das Problem stellvertretend lösen müssten!

So wie die „Betrogenen“ durch die Affäre auf sich selbst zurückgeworfen werden und die daraus entstandenen Probleme nur für sich persönlich lösen können, so werden auch die Fremdspringerinnen die Problemlösungsarbeit für sich allein bewältigen und sich zu ihrer eigenen Wahrhaftigkeit durcharbeiten müssen. Letztlich ermöglichen es beide Positionen, den Zugang zu sich selbst besser zu erschliessen, mehr über sich in Erfahrung zu bringen und eine grössere Seelenspannweite zu gewinnen. Probleme sind nur dann lösbar, we1m wir genau wissen, wo wir ansetzen müssen, und wenn sie am Konfliktort bearbeitet und nicht an den/die Partnerin delegiert werden.

Der erste Schritt ist derjenige, der mich meiner eigenen Wahrheit näher bringt. Nur in der Wahrheit ist es möglich, mit einer Fremdgeh-Geschichte verantwortungsbewusst umzugehen und das Wohl des Partners/der Partnerin zu berücksichtigen.

Es gibt keine Patentrezepte. Wer sich selbst gegenüber nicht ehrlich sein kann, wird keinen Weg finden, der günstige Folgen nach sich zieht. Erst wenn es gelingt, sich ein möglichst klares Bild von der eigenen seelischen Situation zu machen, werden wir eine Entscheidung treffen können, ob der/die Partnerin über die Affäre aufgeklärt werden sollte oder lieber nicht.

In diesem Zusammenhang ist für Fremdspringerinnen folgendes zu bedenken:

Nicht der/die Partnerin ist das Problem. Sondern ich habe eines oder mehrere, die ich versuche, mit einer Affäre selbst zu regulieren.

1. Ich verheimliche die Affäre nicht vor meinem/meiner Partnerin, weil er oder sie die Wahrheit nicht ertragen würde, sondern weil ich Angst vor den Konsequenzen habe.

2. Wenn der/die Partnerin nach der Wahrheit verlangt, gehört es zur Grundhaltung von Wertschätzung dem/der an­ deren gegenüber, ihn/sie nicht zu belügen.

3. Wenn der/die Partnerin mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, ob körperlicher oder psychischer Art, zu kämpfen hat, muss die Wahrheit unverzüglich auf den Tisch.

4. Wenn ich feststelle, dass ich das Interesse an meinem/meiner Partnerin verliere, sollte ich ihm/ihr nicht zumuten, noch länger mit mir zusammenzuleben.

Grundschritte im Pas de deux

Vom Denken gehen die Dinge aus

Felix kann nicht tanzen. Ich hingegen tanze leidenschaftlich gern. Felix möchte schon seit Jahren eine Disko besuchen. Mir graut davor.

Er liebt Aktion, Lärm und Unterhaltung, während ich mir nichts Schöneres vorstellen kann, als wenn alles um mich herum schweigt.

Er liebt Filme, in denen es möglichst wild und heftig knallt und inhaltliche Verflechtungen kaum zu entwirren sind. Dazu quietscht er wie ein Kind vor Vergnügen und blättert gleichzeitig in einer Zeitung. Ich kann einem Inhalt nur folgen, wenn nicht geschossen wird, alles verständlich und möglichst didaktisch aufgebaut ist, vor allem aber keine Nebengeräusche meine Konzentration stören.

Er ist elf Jahre jünger und eher zu dünn. Ich bin eindeutig zu dick. Vieles können wir nicht gemeinsam unternehmen. Wir sind zu unterschiedlich.

Eigentlich passen wir nicht zusammen. Trotzdem leben wir seit 15 Jahren miteinander. Am Anfang mehr schlecht als recht, wir hatten häufig Meinungsverschiedenheiten, kleinere und grössere Streitereien. Zweimal trennten wir uns. Das erste Mal nach drei Jahren für eine Woche, da ging ich fremd. Das zweite Mal nach neun Jahren für fünf Wochen, da ging er fremd – und ich auch.

Die Trennung ging immer von mir aus. Ich hatte das Gefühl, grundsätzlich auf der Schattenseite des Lebens zu stehen und stets die schrecklichsten Männer an Land zu ziehen. Ich fühlte mich zu wenig liebevoll behandelt. Ich hatte den Ein­ druck, immer die Gebende zu sein und dafür nie etwas zu bekommen. Bis ich ihm eines Tages einen Brief schrieb und ihm den Laufpass gab. Mit der Begründung: „Meine Vorräte sind alle aufgefressen: Die paar Brotkrumen, die noch übrig­ geblieben sind, behalte ich nun für mich.“ Felix reagierte ziemlich betroffen und fand es vor allem jammerschade, dass ich mich künftig lediglich von vertrockneten Krümeln ernähren wollte. Er schlug vor, einige Kilo Vollkornmehl, Zucker, Butter sowie mehrere Dutzend Eier zu kaufen, um die leeren Küchenschränke wieder aufzufüllen. Beim Gedanken an eine derartige Überfülle machte ich die Trennung sofort rückgängig. Und alles ging im alten Trott weiter.

Später fiel mir auf, dass ich die Begründung, stets in der Rolle der Gebenden gewesen zu sein und dafür nichts zurück­ bekommen zu haben, bereits mehrmals auch in früheren Beziehungen als Trennungsgrund aufgeführt hatte.

Raina jammerte mir ebenfalls die Ohren voll, sie sei immer diejenige gewesen, die alles gegeben habe. Aber auch Hubertus wurde das Gefühl nicht los, dass die Rechnung von Soll und Haben zu seinen Ungunsten ausfiel, sowohl in der Beziehung mit Raina als auch mit Wanda.

Das machte mich stutzig.

Wenn beide alles, was sie an Zuneigung, Zärtlichkeit und Achtsamkeit aufbringen, dem anderen schenken, müsste doch dieser zumindest das Gefühl haben, verwöhnt zu werden. Wohin aber floss das Kapital, wenn doch beide sich fühlen wie ausgenommene Weihnachtsgänse?

Menschen, die sich grundsätzlich als Zukurzgekommene fühlen, haben eine genaue Buchführung über Heller und Pfennig. Dem buchhalterischen Auge entgeht nichts. Und weil bereits ein riesiges Soll mit in die Beziehung eingebracht wurde, kann der andere Teil liefern, so viel er will, die Zuschüsse sind immer zu gering. Nimmersatt verschlingt das grosse Defizit sämtliche Zuwendungen. Zusätzlich werden die Forderungen, vom Partner/von der Partnerin glücklich gemacht zu werden, mit mannigfachen Mitteln wie Erpressung, Trotz, Vorwürfen, Verweigerung und Wut ständig erhöht. Diese fordernde Haltung, über die Konten zu wachen und alles sofort zu verbuchen, macht uns beziehungsunfähig, da wir die Lebensgefährtlnnen als Mensch, der auch eigene Wünsche und Bedürfnisse hegt, völlig aus den Augen verlieren. Der Partner/die Partnerin wird zur spendenden Milchkuh degradiert, zum emotionalen Goldesel, zum sprühenden Zärtlichkeitsdispenser.

Felix widersetzte sich sämtlichen Forderungen, mir mein Glück bescheren zu wollen. Er fühlte sich dazu nicht in der Lage. „Was soll ich mit einem Mann anfangen, der mich nicht glücklich machen kann?“ fragte ich im Chor mit anderen Frauen. Wir einigten uns in Frauengruppen auf die Formel:

„Ich hab' ein Recht darauf, dass er mich glücklich macht.“ Unter dieser Fahne rannte ich einige Jahre lang in die verkehrte Richtung. Die Forderung ist mindestens so falsch wie der Ruf nach der sogenannten sozialen Gerechtigkeit: weniger Arbeit, höhere Renten, bei Arbeitslosigkeit und Krankheit eingebettet im grossen, staatlichen Kinderwagen. Woher die Mittel nehmen, wenn · die Kassen leer sind? Der Staat soll bezahlen. Wir leben in einer Zeit, in der viele nicht erwachsen werden wollen. Vater Staat soll für uns aufkommen. Wer aber ist der Vater? Und wer das Kind?

Wer sein Glück vom Partner/von der Partnerin fordert, begibt sich freiwillig in die Position eines hilflosen Kindes. Dabei haben viele Glück im Unglück: Die meisten Partnerinnen weigern sich strikt und widersetzen sich beharrlich sämtlicher Forderungen. Das ist die beste Lektion. Dadurch wird jeder auf sich selbst zurückgeworfen und landet bei jener Instanz, die einzig für das Glück verantwortlich ist: bei sich selbst.

Der erste Grundschritt im Pas de deux lautet daher: Wir können nur für uns allein den Tanz und die Schrittfolge lernen und nicht erwarten, dass der/die Partnerin für uns die Figuren auswendig lernt und die Schritte mitzählt. Dann geht es darum, die Choreographie einzuhalten. Schuldzuweisungen für selber verpatzte Figuren sind unzulässig. Zudem sollten wir darauf achten, dem anderen nicht auf die Füsse zu treten, und, falls es doch einmal passiert, uns dafür zu entschuldigen und nicht den/die Partnerin für das eigene Missgeschick verantwortlich zu machen. Falls der Partner lieber Walzer tanzt, wir aber einen anderen Tanz bevorzugen, sollten wir ihn nicht des schlechten Geschmacks bezichtigen oder versuchen, ihn umzuerziehen. Freuen wir uns darüber, wenn er gelegentlich jemanden findet, der mit ihm seinen Lieblingstanz tanzt. Das Gelingen einer Partnerschaft hängt nicht davon ab, wie oft wir auf dem Parkett das Tanzbein gemeinsam schwingen, sondern wie viel Toleranz wir für die Vorlieben des anderen/der anderen aufbringen.

Jeder/jede ist für sein Glück selbst verantwortlich. Schwierige Situationen fordern uns heraus, alles, was an verborgenen Fähigkeiten in uns steckt, zu mobilisieren, um die Hürden zu überspringen. Falls mir etwas nicht gefällt, liegt es an mir, mich so lange mit dem Hindernis zu beschäftigen, bis ich die Fähigkeit entwickelt habe, es zu überwinden. Ist die Latte zu hoch gesteckt, und ich kann das Hindernis trotz Mobilisierung all meiner Kräfte nicht überwinden, ist es besser, die ganze Übung abzubrechen und sich anderen, neuen Aufgaben zuzuwenden. Jedenfalls ist es absolute Energieverschwendung, den Partner/die Partnerin zu Veränderungen zu veranlassen, damit meine Herausforderung geringer wird und besser zu bewältigen ist.

Fremdgehen ist ein mit besonderen Schwierigkeiten verbundenes Problem in der Partnerschaft. Deshalb fordert es uns bis an die Grenzen heraus, alles, was an Möglichkeiten in uns steckt, zu entfalten, um grössere seelische Gebiete in uns zu erschliessen. Diese Auseinandersetzung ist ein Schulungsweg. Sie ist ein lange dauernder Prozess, der wohl nie ganz beendet ist. Wahrscheinlich wird die Erkenntnis der Möglichkeit einer Umsetzung im Alltag vorauseilen, und vielleicht sind wir enttäuscht, wenn wir zwar Zusammenhänge durch­ aus erkennen, aber nicht danach zu handeln vermögen. Diese Spannung auszuhalten ist nicht einfach. Vielleicht würden wir gelegentlich am liebsten das Handtuch werfen und sämtliche Bemühungen unverzüglich einstellen. Solche Verunsicherungen gehören dazu. Wir sind Bürger zweier Welten, und von jeder Seite geht ein starker Sog aus. Es geht aber nicht darum, uns für die eine oder andere Richtung zu entscheiden, sondern der inneren Spannung standzuhalten und uns möglichst weit auszudehnen. Damit wir unserer zweifachen Herkunft gerecht werden und die Treue halten.

Diese Standfestigkeit ist nicht auf Anhieb zu erreichen. Wir benötigen zuerst Baupläne. Mit diesen Plänen entscheiden wir uns bewusst für die Forderung, uns zu entwickeln und uns auf eine Bewährungsprobe einzulassen.

Bereits Buddha lehrte 500 v.Chr., dass alle Dinge vom Denken ausgehen. Und in der christlichen Kultur bestätigt das Johannes-Evangelium: „Im Anfang war das Wort ..."

Bewährung

Raina hat gestern Nacht noch einmal angerufen. Ab jetzt will sie bis zur Gerichtsverhandlung nichts mehr von sich hören lassen. Auf ihren Wunsch hin führten wir unsere nächtlichen Telefongespräche unter Ausschluss sämtlicher äusserer Fak­ ten. Sie wollte sich im Rückblick auf das Geschehene nicht durch sachliche Dinge stören lassen. So hatte ich bislang weder eine Ahnung, wann die Verhandlung stattfinden soll, noch wusste ich, ob sie noch mit Hubertus zusammenlebte. Ich respektierte ihren Wunsch. „Ich habe so viel über mein Leben begriffen, dass ich beinahe ein wenig froh bin, dass alles so gekommen ist“, sagt sie. „Ich bin mir heute nicht mehr so fremd wie vorher.“

Sie wirkt beinahe abgeklärt. Ich aber kann die ganze Nacht kein Auge zu tun. Was wird geschehen, wenn sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird? Hat sie wohl einen guten Verteidiger? Sind alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die sie entlasten könnten, wie beispielsweise ein psychiatrisches Gut­ achten? Gegen drei Uhr halte ich es nicht mehr aus und wecke Felix. Er geht in die Küche, macht Kaffee und bringt ihn ans Bett. Wie sonst morgens. Einmal er, einmal ich. „Was ist los?“ will er wissen.

Ich kann es ihm auch nicht genau erklären, jedenfalls nur so viel, dass ich in grosser Aufregung wegen Rainas Gerichtsverhandlung bin. Dass mir Raina den genauen Termin nicht nennen wollte, heizt meine Aufregung noch zusätzlich an. Wir beraten, ob ich wohl nochmals zu ihr fahren soll. Aber alles in mir sträubt sich. Ich befürchte, wieder in Situationen hinein­ zugeraten, in denen ich wie ein störendes Möbelstück herum­ stehe. Hierbleiben kann ich auch nicht. Ich halte die Warterei nicht aus.

Felix schlägt vor, in die entgegengesetzte Richtung an die Nordküste zu fahren und Antonia zu besuchen, die dort mit einer Freundin in einem Ferienhaus Urlaub macht. Eventuell können wir noch einige Tage auf meiner Lieblingsinsel verbringen, die dort in der Nähe windumweht im Atlantik ruht. Und auf dem Heimweg könnten wir zum Flughafen Rouen fahren, um endlich umfassend abzuklären, ob ich noch eine Chance habe, zu einem Flugschein zu kommen.

Ich bin sofort einverstanden. Ich will aus der Zeit herausfallen, ich will nicht in die Ungewissheit hinein warten müssen. Sondern einfach das Hirn mit anderen Daten füttern, ihm andere Knochen hinwerfen und hoffen, dass es darauf anspringt.

„Die Hunde gehen nicht ins Hundeheim, sondern bleiben hier“, entscheidet Felix. Seit wir in der letzten Zeit zweimal Einbrecher zu Besuch hatten, die von den Hunden aber zuverlässig vertrieben wurden, will er kein Risiko mehr eingehen. Nach diesen Vorfällen schaffte er sich zusätzlich noch Schusswaffen an. Für alle Fälle. Mich wollte er mit einer kleinen Damenpistole beruhigen, die mir aber derart Angst einjagte, dass ich sie hinter meinen viel zu engen Tennisröckchen und T-Shirts verstaute, damit ich sie nie zu Gesicht bekomme. Ich wollte Felix die Waffen ausreden. Er denkt nicht daran, sie wieder abzuschaffen. Jetzt liegt immer mindestens eine aus seiner Sammlung schussbereit neben seinem Bett. Das erste Mal nach seiner Bewaffnung, es war November, als die Hunde nachts zu bellen begannen, sprang er unverzüglich aus den Federn, riss das Fenster sperrangelweit auf und stand da, splitterfasernackt, und inspizierte mit dem Infrarotsichtgerät am Gewehrlauf die ganze Umgebung, während ich schlotternd und frierend im Bett ausharrte. Felix schien den Feind ausfindig gemacht zu haben und freute sich bereits darauf, ein paar Warnschüsse in die Luft abzugeben, was aber aus technischen Gründen nicht funktionieren wollte. Da warf er sich, noch immer nackt, vor dem weit geöffneten Fenster zu Boden, hantierte an seinem Schiessgerät herum, während ich schrie, er solle das Fenster schliessen, was er aber nicht hörte. Da ich befürchtete, ein Schuss könnte sich ungewollt lösen und mich treffen, lag ich, vor Angst und Kälte zu Eis erstarrt, im Bett. Er hantierte noch lange. Ohne Erfolg. Da warf er das Schiesseisen wütend gegen das Bett, schlüpfte eilig in einen Trainingsanzug und eilte in den Park, um zusammen mit den Hunden nach den Einbrechern zu suchen. Ich lag noch lange bei offenem Fenster wach. Erwischt hat er keinen. Aber gesehen hat er einen. „Die kommen bestimmt wieder“, meinte er zuversichtlich. „Und dann werde ich ihnen eins überbraten.“ Ich würde die Hunde lieber ins Hundeheim bringen, um sie vor etwaigen Gefahren zu schützen.

Nachdem wir mehrere Male umsonst versucht haben, Antonia telefonisch zu erreichen und unseren Besuch anzukündigen, fahren wir dennoch los. Falls wir sie nicht dort antreffen, werden wir unseren Aufenthalt auf der Insel etwas ausdehnen und auf der Durchreise nochmals bei ihr vorbeischauen, obwohl es nicht unser Stil ist, irgendwo unangemeldet hereinzuschneien.

Wir fahren gemächlich durch die Lande. Ich rufe jeden Tag unsere Haushälterin an und erkundige mich, wie es den Hunden geht. Das Korn steht in voller Reife, die Felder sind ockergelb, weit und grenzenlos.

Schon von weitem sehen wir das kleine Bretonenhäuschen mit dem Schieferdach. Es kauert verloren auf einer kleinen Anhöhe, die halb Felsenklippe, halb von spröden Wiesenbüscheln bewachsen ist. Es stinkt entsetzlich. Das ist die Ebbe, meint Felix, was ich ihm aber nicht glauben will. Es ist niemand da, obwohl alle Türen offenstehen. Weit draussen auf der Klippe entdeckt Felix zwei. Gestalten, die näher kommen. Allmählich erkenne ich Antonia, sie ist nicht mit einer Freundin hier, sondern mit einem männlichen Begleiter. Sie schlendert barfuss, die Schuhe in der einen Hand, in der anderen die Hand des Pfarrers. Sie sind also wieder ein Paar, denke ich. ,,Jawohl“, sagt Antonia, als ob sie meine Gedanken lesen könnte, „so ist das eben.“ Es folgt eine herzliche Begrüssung und ein schöner Abend, den wir auf der Terrasse verbringen. Antonias Pfarrer gibt sich eher zugeknöpft, was mich nicht stört und Felix dazu veranlasst, eher mehr zu erzählen, als er eigentlich will. Später treffe ich Antonia allein im Badezimmer. Ich setze mich auf den Wannenrand, während sie mir kurz erzählt, was inzwischen vorgefallen ist. Nachdem sie ihren ehemaligen Geliebten auf der Beerdigung des Kindes von Hubertus und Wanda wieder getroffen hatte, flackerte die alte Liebesglut ungebremst wieder neu auf. Noch am selben Abend eilte er zu ihr. Und blieb. Bis in den frühen Morgen. Dann ging er nach Hause und erzählte alles seiner Frau. Es folgten einige Wochen der Hölle. Er will nun die Scheidung einreichen. Und sich einen anderen Job suchen.

Als ich ins Schlafzimmer zurückkomme, ist Felix schon eingeschlafen. Am nächsten Tag brechen wir auf. Antonia möchte, dass wir bleiben. Der Pfarrer scheint erleichtert zu sein, dass wir weiterreisen wollen.

Wirsetzen gleich am Morgen mit der Fähre auf die Insel über. Die Fahrt dauert eineinhalb Stunden. Es ist beinahe zu kalt, um auf Deck zu bleiben. Vögel begleiten uns noch eine Weile. Dann ist nur noch der Himmel da. Die Wellen und der regelmässig stampfende Motor. Etwas fröstelnd kommen wir an. Die Insel ist dreissig Kilometer lang und fünf breit und hat zwei grosse Hotels. Felix hat ein Appartement mit Blick aufs Meer reservieren lassen, wo ich sofort einschlafe und erst wieder gegen Abend aufwache. Zum Diner gibt es fünf Gänge Fisch. Erste Vorspeise: Fischterrine, zweite Vorspeise: geräucherter Fisch, Hauptgericht: Fisch gegrillt, erstes Dessert: Fischmousse (anstelle von Käse), zweites Dessert: Fischpudding.

Anderntags stöbern wir auf der Insel herum, suchen altbekannte Orte auf, wie den Pinienhain der Sarah Bernhard. Wir erschauern vor der über 50 Meter hohen, in einen Felsen geschlagenen Rutschbahn, auf der sie 70jährig, beinamputiert in die Tiefe glitt. Der Wind peitscht die Gedanken aus dem Kopf. Salzig sei alles hier, heisst es, auch das Weideland, weshalb die geschlachteten Schafe beim Zubereiten nicht gesalzen werden müssen. Wir besuchen eine holprige Flugzeugpiste für kleine Maschinen, die Touristen die Insel aus der Vogelperspektive zeigen. Dicht neben der Piste steht eine kleine Bretterbude als Restaurant, davor zwei runde rote Blechtische mit braunen Holzstühlen. Hinter der Theke ein Paar, mit dem wir sofort ins Gespräch kommen. Felix bestellt Kaffee. Der Mann, dunkelhaarig mit gemütlichem Schnauzbartgesicht, klein, etwas untersetzt, will wissen, ob wir einen Rundflugwünschen, während die Frau, etwa in meinem Alter und ebenfalls eher zu dick, uns den Kaffee serviert. Der Mann offeriert Felix einen Cognac und genehmigt sich selbst auch einen. Die Flugsaison sei schlecht in diesem Jahr, die Leute hätten kein Geld. Er fliegt seit vielen Jahren in den Sommermonaten Touristen herum. Daneben betreibt er das Restaurant und repariert die ziemlich herunter­ gekommenen Maschinen selbst. "Und im Winter?“ will ich wissen. „Da haben wir noch die Schafe und unsere kleinen Geschäfte über die Grenze“, schmunzelt er.

Wir bleiben fast zwei Wochen. Dann haben wir von den fünfgängigen Fischsoirées die Nase voll.

Ob wir auf der Rückreise nochmals bei Antonia vorbei­ schauen? Wir ziehen es vor, keinen Halt einzulegen.

In Rouen gehen wir zur Flugschule. Sonntagsbetrieb. Viele sehr attraktive junge Männer, angehende Piloten, Fluglehrer und vorwiegend männliche Zuschauer. Felix wird gleich von einem freundlichen Lehrer zu einer Maschine geführt. Er klettert gelenkig und geschickt die wenigen Stufen hoch. Ich verzichte darauf, ihnen zu folgen, ich hätte nicht gewusst, wie ich hinauf- und vor allem wieder herunterkäme. Ich stehe unten und warte. Und es dauert lange, bis die beiden wieder heruntersteigen, die letzten zwei Meter überwinden sie mit einem grossen Sprung und landen direkt vor meinen Füssen. Ich versuche richtigzustellen, dass eigentlich ich diejenige bin, welche ... Aber der Fluglehrer unterbricht mich höflich und meint in sehr beruhigendem Ton, das sei meist so, dass die Mütter sich sorgen, wenn ihre Söhne fliegen lernen wollen. Im Auto sehe ich unauffällig in den Spiegel.

Zu Hause ist alles in Ordnung. Die Hunde sind wohlauf. Auf meinem Schreibtisch häuft sich ein Stapel Post, den ich sogleich durchsehe.

Und dann, ganz zufällig, entdecke ich eine kleine Zeitungsnotiz:

Gestern fand die Gerichtsverhandlung gegen eine 42jährige Frau wegen Brandstiftung statt. Sie legte ein umfassen­ des Geständnis ab, in Schloss Ripsen Feuer gelegt zu haben. Sie hatte in einem Zustand totaler Unzurechnungsfähigkeit gehandelt. Tatmotiv Eifersucht. Sie wurde zu 18 Monaten auf Bewährung verurteilt.

Und jetzt will ich zum Hundespaziergang. Sofort! Felix ist gerade dabei, den ganzen Dreck, den es in unserer Abwesenheit durch heftige Regengüsse in seinen freigeschaufelten Keller gespült hatte, wieder herauszubaggern. Er wirft die Schaufel weit von sich. Die Hoffnung, unterirdische Gänge ausfindig zu machen, hatte er ohnehin längst aufgegeben.

Diesmal schlendern wir nicht gemächlich nebeneinander auf unserem altbewährten Pfad. Wir laufen mit den Hunden querfeldein. Neugierig. Keuchend. Atemlos.

Und mit einer unbändigen Lust auf Leben.

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