Julia Onken, 28.11.2019
Rotz und Wasser hätte ich geheult, wäre ich nicht in einem rappelvollen Zug gewesen! Das Buch von Mathias Jung «Seelenwunden» rührte mich zu Tränen. Darin geht es um das Märchen «Hans mein Igel». Der Autor analysiert das Schicksal des kleinen Hans, der als ungeliebtes und abgelehntes Kind schweren und erniedrigenden Demütigungen ausgesetzt war. Um zu überleben, benötigte er die ihn schützenden Stacheln, die er im Erwachsenenalter beibehielt und ihm den Kontakt zu anderen Menschen erschwerten oder gar verunmöglichten. Denn wer möchte sich ständig an den Stacheln des anderen verletzen!
Ich musste sofort an einige Personen mitsamt ihrer Tragödie denken, die mit aus meinem privaten und auch beruflichen Umkreis bekannt sind, denen es nicht gelingen will, eine erfüllende Beziehung aufbauen zu können und ständig daran scheitern.
Ich kenne die gegenläufige Erfahrung und weiss, welches
Kapital sich aus der Kindheit bilden lässt, wenn wir uns aufgehoben und geliebt
fühlen. Von meiner Mutter erhielt ich diese uneingeschränkte Liebe, sie glaubte
an mich, und sie
unterstützte mich in allem, was ich machen wollte, wenn auch ihre finanziellen
Mittel äusserst beschränkt waren. Sie arbeitete als Näherin in einer Fabrik.
Abends um 18 Uhr holte ich sie am Fabriktor ab – und dann begann unser
festlicher Abend. Ich erzählte ihr alles, was ich tagsüber gedacht hatte, sie hörte mir aufmerksam zu und
begleitete mich interessiert in meiner Gedankenwelt.
Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit nachzuholen.
Mathias Jung zeigt, wie es geht: erinnern,
beweinen, bewüten, begreifen, beenden und schliesslich versöhnen. Ein winziges, nur gerade mal 97 Seiten
dünnes Buch – mit grosser, heilender Wirkung.