Ich bin gehörlos

Sivlia Trinkler, 28.06.2019

Silvia Trinkler
Silvia Trinkler

Jedesmal wenn ich am Treffpunkt ankomme, sehe ich ihn schon mit anderen Fahrlehrern plaudern. Seine sonnige Ausstrahlung verhilft ihm innert weniger Minuten inmitten von Menschen zu sein, zu kommunizieren, zu lachen.

Ich staune über meine Berufskollegen. Viele Fahrschüler haben hier schon auf mich gewartet. Aber dieser, der ist anders. Vielleicht macht es auch sein Hund aus, der freundliche Australische Schäfer mit dem welligen Fell strahlt die gleiche liebenswürdige Offenheit aus wie sein «Meister». Sie sind ein eingespieltes Team. Schon von weitem sieht man den Beiden die innige Verbindung an.

Angefangen hat die Geschichte mit einem SMS: «Ich bin gehörlos und möchte gerne Fahrstunden nehmen. Haben Sie noch Kapazität? Dürfte ich meinen Begleithund mitnehmen?» – Am liebsten hätte ich angerufen. «Selbstverständlich!» für spezielle Menschen schaffe ich immer Zeit. Solche Herausforderungen mag ich. Sie machen meinen Beruf speziell und mich kreativ.

Ein paar Tage später lerne ich den fast kleinwüchsigen Mann mit seinem Vierbeiner Perrito kennen. Wir befestigen den Hund auf der Rückbank und erhöhen mit Kissen den Fahrersitz. Eher knapp. Ein zusätzliches Aufsteck-Pedal hilft dem stämmigen jungen Mann die Kupplung ganz zu drücken.

Seine Hautfarbe verrät mir, dass er irgendwo auf der Welt seine Wurzeln hat. Sein Familienname zeichnet ihn aber als typischen Schweizer aus. Irgendwann erfahre ich, dass er im Alter von fünf Jahren aus einem südamerikanischen Kinderheim in die Schweiz verfrachtet wurde.  Ein Schweizer Paar adoptierte ihn und er wuchs als Einzelkind auf. Im Verlauf der Jahre wurde er zum Scheidungskind. Seine Adoptiv-Mutter war ihm die grosse Stütze. Die richtigen Eltern kennt er nicht.

Wir haben es immer lustig im Fahrschulauto. Trotz seiner Gehörlosigkeit. Wir fahren an einer psychiatrischen Klinik vorbei. «Da war ich schon oft.» Seine knappe Aussage verrät mir, dass er da oft jemanden besucht hat… «Wen hast du denn besucht?» «Niemanden. Ich war schon Monate lang in der Klinik…» «Wieso? ...» «Das erste Mal war ich mit fünfzehn dort. Ich war so aggressiv oder depressiv oder einfach «neben den Schuhen». Ich fühlte mich mit mir und meiner Umwelt so schlecht. Alles fühlte sich so falsch an, ich konnte mit nichts und niemandem etwas anfangen, vor allem nicht mit mir.» ……...»Ich brauchte oft Eins-zu-Eins Betreuung. Mehrere Aufpasser weigerten sich, mich zu übernehmen. Wenn sie mich ansprachen, bedrohte ich sie. Ich habe einige von ihnen verdroschen und unzählige Beruhigungsspritzen bekommen. Viele Nächte im «Gurtenbett» verbracht und viele Suizidversuche hinter mir».

Gut ist es gerade nicht zu hektisch auf der Strasse, ich hätte wahrscheinlich nicht rechtzeitig reagiert.

«Irgendwann habe ich mich entschieden. Jetzt wird alles anders. Ich akzeptiere mein Leben auch wenn es sich falsch anfühlt. Damals war ich 24 Jahre alt und begann mit einer Schreinerlehre. Mit Holz arbeiten, das gefiel mir. Im dritten Lehrjahr hatte ich dann einen Gehörsturz auf dem einen Ohr und bekam ein Implantat. Kaum war es etwas besser folgte der nächste Gehörsturz auf dem anderen Ohr. Trotzdem schloss ich die Lehre ab.»

Wir fahren durch die Quartiere der Stadt, parkieren und wenden. Aurel erzählt aus seinem bewegten Leben, ganz nebenbei.

«Die grosse Wende kam gegen Ende der Lehre. Ich schrieb im Google wie ich mich fühlte und viele Internetseiten öffneten mir die Augen. Mein Ausbildner fand: «geh da hin, lass dich beraten.» Er machte umgehend den ersten Termin für mich ab.

Die Fahrstunde war wie im Flug vorbei. Der nächste Schüler wartete. Am liebsten hätte ich ihm abgesagt.

«Am nächsten Tag hatte ich wieder ein Problem. Ich kann es meiner Mutter nicht sagen. Die kann das nicht verstehen. Die hat mit mir schon so viel durchgemacht. Der Chef sagte: Mach Feierabend – klärs! Heute noch. Die Reaktion meiner Mutter war: bist du lesbisch? Es brauchte etwas Zeit bis sie mit mir zu den Fachleuten kam und mich in meinem Werdegang unterstützte.»

Und wir fahren und fahren und Aurel lernt in schwierigen Situationen auf der Strasse richtig zu reagieren… wie alle anderen Fahrschüler auch. Die Lektionen mit ihm verfliegen nur so.

«Und dann endlich bekam ich meine erste Hormonspritze, ja das war das Ende von Sybille.»

Ich will gerade erklären worauf man achten muss beim Rückwärtsfahren, aber bei mir ist der Faden gerissen. «Warum brauchtest du Hormonspritzen? Wer ist Sybille?» Mit seinen grossen dunklen Augen schaut er mich erstaunt an. «Die Hormone brauchte ich, dass ich endlich ein Mann wurde. Sybille war ich.» 

Gut stehen wir mit unserem Gefährt am Strassenrand.

«Ich war eine todunglückliche Frau. Seit ich ein Mann bin geht es mir gut. Ich war nie mehr in der Klinik, nie mehr depressiv oder aggressiv. Jetzt bin ich einfach ich.» Und vom Fahrersitz aus grinst mich der fröhliche junge Mann an.

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