Ich kann an nichts anderes mehr denken

Monika Marti, 27.08.2019

Monika Marti
Monika Marti

Sebastians Stimme klingt leidend am Telefon. Deshalb sage ich umgehend zu, mich anderntags mit ihm in der Stadt zum Essen zu treffen. Vor einigen Monaten hat ihn seine Frau verlassen. In der Ehe kriselte es seit Jahren. Erst hatte Rebekka ein Burnout. Dann war Sebastian ausgebrannt. So ging das eine Weile hin und her. Der oder die Eine versuchte den andern aus dem Sumpf zu ziehen um anschliessend vor Übermüdung durch die Rettungsversuche erneut im eigenen Elend zu versinken. Die endgültige Trennung stand bevor. In drei Wochen würde das Aus ihrer Ehe amtlich besiegelt werden.

Die gebeugte Haltung des am Tisch 27 sitzenden Mannes lässt mich bereits beim Eintritt ins Restaurant vermuten, dass der nächste Erschöpfungszustand im Anmarsch ist. Als Sebastian mich erblickt, erhellt sich sein Gesicht. Er steht auf, begrüsst mich mit einem freundschaftlichen Kuss und erkundigt sich eingehend nach meinem Befinden. Gemeinsam setzen wir uns und ich erzähle ihm, was sich in meinem Leben gerade ereignet. Er hört meinen Ausführungen interessiert zu und stellt Fragen. Ich beobachte ihn dabei und unsere Blicke kreuzen sich. Er scheint sehr müde zu sein. Nach meinem Einwand, ich hätte nun genug geredet, erkundige ich mich nach seinem Wohlbefinden. Ohne Umschweife teilt er mir mit, dass er Stimmungsaufheller eingenommen hat. Eigentlich hätte er das nicht gewollt. Aber heute Morgen habe er sich dermassen antriebslos und traurig gefühlt – er musste es einfach tun. Sonst hätte er die Kraft nicht aufgebracht, den Tag anzupacken. Den Schlussstrich unter seine langjährige Beziehung zu Rebekka zu ziehen, setzt ihm gefühlsmässig mehr zu als erwartet.

Nachdem der Kellner zweimal vergeblich nachgefragt hat ob wir uns für ein Menu entschieden haben, werfen wir beim dritten Versuch einen flüchtigen Blick in die Speisekarte und wählen ein Saisongericht aus. Essen ist heute Nebensache. Sebastian sitzt zusammengekauert auf seinem Stuhl. Dann rutscht er auf dem Sitz hin und her, nimmt eine aufrechte Haltung ein und beginnt zu reden. «Weisst du, ich versuche mich langsam aus den Schlingen meiner langjährigen Ehe zu winden. Rebekka ist ausgezogen. Die Möbel sind aufgeteilt. Finanziell ist die Trennung geregelt. Was fehlt, ist lediglich die Unterschrift auf der Scheidungsurkunde. Ich versuche, das klare Nein von Rebekka zu mir zu verstehen. Das ist nicht ganz einfach für mich, deshalb habe ich in den letzten Monaten nach Zerstreuung gesucht. Die neuen Online-Partnervermittlungsplattformen waren mir bis anhin unbekannt. Jetzt bringen sie Abwechslung und Spannung in mein Leben. Stell dir vor, ich habe meine Traumfrau kennengelernt.» Sebastian kommt ins Schwärmen. Er doppelt nach: «Sie ist ganz einfach wunderbar. Mit Alessia kann ich Pferde stehlen. Sie gibt mir Energie. Du kannst dir nicht vorstellen, welch grosser Freundeskreis sie umgibt. Sie macht in vielen Vereinen mit. Ist immer auf Achse. Wir können wunderbar miteinander reden und zärtlich sein. Mit ihr möchte ich mein Leben verbringen.» Ich registriere, wie das Leuchten in den Augen meines Gegenübers langsam an Glanz verliert. Ein unsichtbarer Schleier legt sich über die erwachte Begeisterung. Er nimmt meinen fragenden Blick zur Kenntnis und beantwortet was unausgesprochen im Raum steht. «Sie ist verheiratet», sagt er. «Aber die Beziehung zu ihrem Mann besteht lediglich noch auf dem Papier.» Das Leuchten in seinen Augen nimmt wieder zu. Das Paar habe sich schon lange nichts mehr zu sagen, weiss er. Die Kommunikation zwischen ihnen funktioniere nicht. Alessia möchte sich schon länger trennen. «Das passt ja wunderbar», werfe ich ein, «wo liegt das Problem?» Die beiden hätten zwei gemeinsame Kinder im Vorschulalter. Alessia würde es schwer fallen, die Familie zu verlassen und Tochter und Sohn die Geborgenheit des Daheims zu zerstören. Das Paar habe kürzlich mit viel Begeisterung und Eigenleistung auf dem Grundstück der Schwiegereltern ein Haus gebaut. Die Grosseltern wohnten gleich nebenan und es sei des Kinderhütens wegen sehr praktisch, Tür an Tür zu wohnen.

«Langsam halte ich das Versteckspiel nicht mehr aus», räumt Sebastian leicht aufgebracht ein. «Die zeitliche Begrenzung. Die unvorhersehbaren Zwischenfälle, die ein vereinbartes Treffen verhindern. Ich komme mir vor wie ein Lückenbüsser. Mein Sehnen nach Zweisamkeit wird immer grösser. Die tägliche Unterhaltung per Handy lässt mich zwar erahnen, was sie gerade tut und wie es ihr geht. Aber ich möchte Alessia sehen. Spüren! Ich möchte, dass sie nach beglückendem Liebesspiel eng an mich gekuschelt neben mir in einen friedlichen Traumschlaf versinkt. Stattdessen steht sie hastig auf, zieht ihre Kleider an und verwischt vor dem Spiegel die Spuren unserer Zärtlichkeit. Die Frisur wird in Ordnung gebracht. Der Lippenstift aufgetragen. Nach einem flüchtigen Abschiedskuss liege ich allein in meinem Bett und kann den Schlaf nicht finden. Es tut mir einfach nicht gut,» sagt er. «Es tut mir nicht gut. Ich kann an nichts mehr denken, als dass ich mit Alessia das Leben verbringen möchte. Alles andere scheint mir unwichtig. Ich hab auch keinen Appetit mehr». Davon kann ich mich an diesem Abend persönlich überzeugen. Der bestellte Poulet-Eintopf mit Erbsen ruht kaum angetastet in seinem Teller. Sein Gesicht leuchtete wieder als hätte er die aufgehende Morgensonne verschluckt. «Sie macht mich glücklich. Ihre Anwesenheit beschwingt mich und lässt mich träumen. Mit ihr vergesse ich meinen Kummer über meine zerbrochene Beziehung und meine ungewisse Zukunft. Sie versprüht Lebenskraft und Lebensfreude.» Ich suche Sebastians Blick und halte ihm ohne ein Wort zu sagen stand. «So kann ich nicht weiterfahren», sagt er. «Dieser Zustand macht mich fertig. Meine Gedanken sind unstet und wirr. Ich kann nicht mehr schlafen. Ein weiteres Burnout kann ich mir nicht leisten. Trotzdem, ich werde für Alessia kämpfen!»

Sebastian langt in seine Jackentasche und nimmt sein Handy hervor. Ich ahne was kommt und möchte aufstehen und gehen. Die Traumfrau erscheint gross und unübersehbar auf dem Handy-Display. «Schau, das ist sie, meine Prinzessin», sagt er. «Meine Alessia zum Pferde stehlen.

Mal ganz ehrlich, wie findest du sie?» Mein Blick bleibt etwas länger als nötig auf dem Bild der Prinzessin ruhen und ich frage mich, wie es möglich ist, derart deutliche Zeichen der eigenen Körpersprache im Hinblick auf die Situation zu übersehen und nicht als Wegweisung für Entscheidungen zu betrachten. Ich ringe nach Worten und reihe einige bedeutungslose Sätze aneinander. Dabei ärgere ich mich, dass ich nicht Tacheles rede.

Eine Woche später treffe ich Sebastian in aufgeräumter Stimmung. Er lässt mich wissen, dass er sich für seine Gesundheit entschieden hat und der Beziehung zu Alessia ein Ende setzen will.  Die stille Botschaft im Hintergrund meines Gemurmels hat ihren eigenen Weg gefunden, sich durchzusetzen.

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