Zora Debrunner, 07.10.2021
Als ich 30 Jahre alt wurde, lag meine Mutter im Sterben. Sie wurde gerade mal 56 Jahre alt. Ich begleitete sie die letzten Wochen ihres Lebens. Ich hatte damals einen neuen Job mit Leitungsfunktion angetreten und wusste nicht, wie ich diese Doppelbelastung unter einen Hut bringen sollte. Ich arbeitete sehr viel und versuchte - wann immer möglich - meine Mutter im Spital und danach im Pflegeheim zu besuchen.
Es riss mich fast entzwei. Ihr Sterben machte mich sehr betroffen und ich begriff, dass ich nun nur noch wenig Zeit hatte, mich mit ihr auszusprechen und mit mir selber, was sie betraf, ins Reine zu kommen.
Ich hatte einige Jahre in Wut auf sie verbracht, sie wegen ihres Alkoholproblems gehasst und verachtet. Die letzten drei Monate ihres Lebens waren für mich wohl dazu da, alles aufzuarbeiten.
Das tat ich. Und es tat furchtbar weh.
Doch am Ende konnte ich sie loslassen und durfte dabei anwesend sein, als sie starb.
Kurze Zeit später machten sich bei meiner Omi die ersten Anzeichen einer dementiellen Erkrankung bemerkbar. Ich wollte es erst nicht wahrhaben. Omi war immer an meiner Seite gewesen, hatte mit mir am Bett ihrer sterbenden Tochter gewacht. Irgendwie hatte ich den Gedanken gehabt, nun wenigstens noch einige Jahre mit Omi zu haben.
Ich hatte nun ja Übung, einen Menschen in seinen letzten Jahren und Monaten zu begleiten. Doch auch hier überwiegte der Schmerz. Ich verlor meine Omi Stück für Stück. Sie, die mich immer so geliebt und als Kind verwöhnt hatte, vergass mich nun langsam. Den Schmerz konnte ich nur angehen, indem ich über ihn schrieb und all das Unfassbare in Worte presste.
Der letzte Weg mit Omi war meine Auseinandersetzung mit einem guten, gelebten Leben. Ich war traurig, dass sie starb. Doch ich spürte auch, es ist gut so wie es ist.
An Omis Beerdigung weinte mein Vater. Er war lange Zeit ihr Schwiegersohn gewesen, nach der Scheidung von meiner Mutter aber war er der Vater von Omis Enkeln. Wir ahnten damals nicht, dass nun Papis Sterben einen Anfang nehmen würden. Ich denke, er wusste da mehr.
Mein Vater litt plötzlich unter Gleichgewichtsstörungen, konnte kaum noch gehen. Für ihn, den Bewegungsmenschen, war das ein grosser Einschnitt in seine Lebensqualität. Er verlor sehr viel Lebensmut, gleichzeitig wollte er alles tun, was in seiner Macht stand, um nicht an Kraft zu verlieren.
Sein Leiden berührte mich sehr. Ich konnte nur schwer zusehen und wusste nichts an Trost mehr zu geben. Ein Satz von ihm änderte schliesslich mein Leben. Er hatte gesagt: "Wenn ich mit Anfang 40 gewusst hätte, wie sich mein Leben mit 70 verändert, so hätte ich noch sehr viel mehr all das getan, was ich mich bis dahin nie getraut hätte."
Ich dachte darüber nach, woran ich mich nie heran gewagt hätte, wären nicht diese Worte meines Vater gewesen. Mit einem Mal sah ich klar: Ich wollte mich mit der Natur, dem Leben und dem Tod auseinandersetzen. Ich wollte lernen.
So entschied ich mich, mich an die Jagdprüfung anzumelden.
Mein Vater reagierte erst verwundert, dann entschied er sich, mich bei meinem Vorhaben zu unterstützen. Er motivierte mich, freute sich über Erfolge und sprach mir Mut zu. Mit einem Mal sprachen wir wieder über andere Themen.
Dann kam Corona und unsere Verbindung wurde erneut auf die Probe gestellt. Ich besuchte ihn nicht mehr oft, aus Sorge, ihn oder seine Frau ungewollt mit Covid anzustecken.
Die letzten Monate seines Lebens telefonierten wir, sahen uns nicht mehr. Es war aber nicht so, dass wir uns von einander entfernten. Viel mehr spürte ich jedes Mal, wenn ich in den Wald ging und jagte, wie nahe er mir hier ist. Es fühlte sich an, als ob er immerzu an meiner Seite wäre und mich stärkte.
Im letzten November starb er. Ich war erleichtert, dass er gehen konnte und dass sein Leiden ein Ende hatte. Die Trauer begleitet mich trotzdem. Er ist viel zu früh gegangen. Ich hätte ihn gerne noch länger an meiner Seite gehabt.
Doch da ist noch mehr: Ich trete sein Erbe an, widme mich der Natur. Tue Dinge, an die ich mich nie gewagt hätte. Gehe mutig in die Zukunft mit gefülltem Rucksack.
Liebe Zora
Herzlichen Dank, dass du uns an deiner Trauer teilhaben lässt und damit vielen Mut machst. Besonders schön finde ich, wie du beschreibst, wie du dich durch die Jagd mit deinem Vater über den Tod hinaus verbunden fühlst.
Ist es nicht etwas, was sich jeder von uns wünscht? - Dass sich unsere Liebsten an uns erinnern und sich uns nahe fühlen, auch wenn wir von ihnen gegangen sind. Wir hinterlassen sichtbare und unsichtbare Spuren, die unsere Angehörigen an uns denken lassen und bleiben so nach dem Tod noch präsent.
Ich wünsche dir, dass du immer wieder Erinnerungen an deine Mutter, deine Oma und deinen Vater aufleben lassen kannst und daraus Trost und Zuversicht schöpfst.
Herzlichst
Nancy
Liebe Nancy
vielen Dank für deine lieben Worte. Ich stimme mit dir überein, dass die sichtbaren und unsichtbaren Spuren, die unsere Lieben hinterlassen, gut und wichtig sind. Gestern lief ich durch den herbstlichen Wald und dachte an meinen Vater. Dabei stiess ich auf diese Worte: "Im Leben hatte ich ihn verloren, doch im Wald finde ich ihn jeden Tag aufs Neue wieder."
Ich wünsche dir einen schönen Herbst.
Herzlich
Zora
Liebe Zora Debrunner
Mit Tränen in den Augen lese ich den Artikel. Begleite ich doch gerade meinen Ziehvater palliativ. Er hat zum dritten Mal Krebs. Diesmal unheilbar. Diesmal bin ich wütend. Nicht auf ihn, sondern auf das Schicksal dass mich nicht ruhen lässt. Letztes Jahr starb meine 99 Jahre alte Grossmutter und es zeriss mir das Herz. Einerseits sehr dankbar durfte sie einfach einschlafen und Morgens nicht mehr aufwachen, anderer Seits tue ich mich sehr schwer mit Abschieden. Mit dem Tod. Dem Entgültigen. Auch ich fühle mich mit ihr noch verbunden wie Sie mit Ihrem Vater, eine Verbindung bleibt wenn sie vor dem Tod stark war. In unseren Herzen leben sie weiter.
Von Herzen, M. van Dam
Liebe Zora, dein Text hat mich sehr berührt,vielen Dank. Ich wünsche mir, wir wären besser vorbereitet auf den Tod. Wir sprechen so wenig über den eigenen Tod, wird das sich wohl je ändern?
Ist es doch nicht irgendwie «bereichend», drei Menschen auf die letzte Reise begleiten zu dürfen.
Und ist es naiv von mir zu denken, dass du jetzt mehr weisst mehr als ich weiss? Ist es besser wenn man sie verabschieden kann, als wenn nicht? Und wie ist es mit dem verzeihen?
So viele Fragen...wünsche Dir alles beste, isabella