Eveline Keller, 04.11.2020
Ist es der mangelnden Surf-Erfahrung zuzuschreiben oder dem Umstand, dass wir keinen Meeranstoss haben? Die Corona-Welle bricht gerade über uns herein. Um sich auf einer Welle obenauf zu schwingen, muss der geübte Surfer vorzeitig starten, um sie zu erkennen, wenn sie noch unscheinbar ist. Doch nun fliegt uns täglich, nein stündlich ein Stakkato von Fallzahlen, Studien, Entwicklungen und Massnahmen um die Ohren. Rund um die Uhr laufen Analysen in allen Medien, um dem Phänomen auf die Spur zu kommen. Erstaunt reiben wir uns die Augen. Woher stammen plötzlich all die Infizierten? Als wir das letzte Mal hingeschaut haben, dümpelte die Ansteckungsrate auf tiefem Niveau, alles schien unter Kontrolle.
Zugegeben, wir haben die Sicherheits-Regeln ein wenig ausgereizt. Es
muss ein kleines Teufelchen gewesen sein, das uns ins Ohr flüsterte: Es reicht!
Genug! Will nicht mehr artig sein! Das ist doch alles Schwachsinn, was uns
erzählt wird! Im Hinblick darauf, dass uns die heikle Phase der Pandemie im Winterhalbjahr
noch bevorsteht, weil sich das soziale Treiben in die Innenräume verschieben
würde, nutzten wir aus, was möglich war. Wir holten uns ein Stück der normalen
Lebensart zurück, wenigsten den Teil, der mit der Binde im Gesicht erlaubt ist.
Wir genossen Ferien, gingen Shoppen, besuchten Kinos, waren im Ausgang und pflegten
das Zusammensein. Wunderbar.
Die Zeit verrinnt. Die Tage werden
kürzer, die Blätter der Bäume färben sich golden und rostrot. Von Berggipfeln aus
geschaut, erstrecken sich unter uns wallende Nebelmeere und sind wunderschön anzusehen.
Die Weinlese war üppig, die Obstbäume waren prall voll mit Früchten. Das
Getreide wurde weder verhagelt noch ersäuft, auch der Mais stand hoch. Alles
gut? Weit gefehlt. Vergleicht man unsere Fallzahlen mit denjenigen, anderer
Länder in Europa, so sticht die Schweiz unangenehm als Spitzenreiter und nicht
als Wellenreiter hervor. Die zweite Welle schwappt uns über den Köpfen
zusammen, sich obenauf zu schwingen, keine Chance.
Hypnotisch starren wir auf die Woge, die da vorweihnachtlich auf uns zu rollt. Es sieht nicht gut aus. Alle unsere kleinen Freiheiten drohen zurückbuchstabiert zu werden. Es stehen Schliessungen von Freizeitanlagen, Hallenbäder und Fitnessclubs, Escape Room Spiele und Kletterhallen zur Diskussion. Und dazu werden die offiziellen Weihnachtsessen abgesagt. Klar, jetzt müssen wir untendurch. Doch nun setzt der grosse Katzenjammer ein. Verschwunden sind Zuversicht und Zweckoptimismus, auch die aufmunternden Mutverbreiter sind abgetaucht. Diese Herbsttage erfüllen uns mit besonderer Wehmut. Trübe sind die Aussichten auf die kalte Jahreszeit, die vor uns liegt. Das Prinzip Hoffnung in Erklärungsnot, suchen wir verzweifelt Trost bei Katzenvideos. Nein, bitte keine weiteren Corona-Massnahmen. Wir sehnen uns nach Normalität. Einem Normalzustand, wie er vor einem Jahr herrschte, als wir über Weihnachts-Stress, den Sexismus am Arbeitsplatz und die Klimaveränderung klagten.
Diese Normalität ist immer mehr in die Ferne gerückt. Vielleicht gibt es in einem Jahr einen Impfstoff. Vielleicht? Doch uns ist klar, die Zeit bis dahin wird kein Zuckerschlecken. Wir wissen inzwischen, um durchzuhalten braucht es Einfallsreichtum, Humor und Gemeinschaftssinn. Dann lässt sich auch diese Phase meistern. Und vielleicht schaffen wir es ja, die nächste Welle zu surfen.