Immerwährende Trotzphase

Petra Sewing-Mestre , 26.03.2021

Petra Sewing-Mestre
Petra Sewing-Mestre

Ich habe zwei – inzwischen erwachsene - Kinder. Autonome Kinder.

Autonome Kinder machen, was sie wollen. Immer. Ablenken und bestechen funktioniert nicht. Sie sind völlig klar in der Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse. Und setzen diese durch. Auch immer.

Schon als sie auf die Welt kamen, sahen sie mich als Babys (!) manchmal mit einem erstaunlich klaren und wachsamen Blick an. Zuerst hielt ich das für meine ganz persönliche Einbildung, aber als ich von den «autonomen Kindern» beim dänischen Familientherapeuten Jesper Juul las, hatte ich viele Aha-Erlebnisse und fühlte mich im Nachhinein noch sehr bestätigt, dass mit meiner Wahrnehmung tatsächlich alles in Ordnung war.

«Sie machen immer, was sie wollen!» - Ja, genau so sollte es eigentlich sein, im Leben.

Immer nur das machen, was man will. Oder andersherum formuliert: Wollen, was man macht. Was bedeutet das eigentlich? Im Grunde etwas sehr Positives: Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Willen und dem Machen, ohne störendes Nachdenken und Abwägen. Warum wird es also immer nur mit kritischem Ton und hochgezogenen Augenbrauen bemerkt, wenn man macht, was man will?

In erster Linie stört es denjenigen, der diesen Ausspruch macht. Ganz besonders, wenn es um die Erziehung von Kindern geht. Das immerwährende Wollen und Machen widerspricht der eigenen Vorstellung, wie das Kind zu sein hat. Es stört die Erwartung und es führt in die Enttäuschung. Genau! Ent-täuschung! Denn die Täuschung hatte ich mir selbst auferlegt, nicht das Kind. Das Kind sagt immer genau, was es will und täuscht mich eben nicht.

Erziehungsratgeber kapitulieren vor autonomen Kindern: Ich lese Begriffe wie Grenzen testen und setzen müssen, Entwicklung des eigenen Willens brechen sollen, immerwährende Trotzphase, Regeln einhalten, anpassen. Dieses Konzept wird diesen Kindern nicht gerecht. Autonome Kinder müssen nicht angepasst, bestimmt oder manipuliert werden. Diese Kinder sind schon bei der Geburt in ihrer Entwicklung weit fortgeschritten, sowohl körperlich als auch in ihrer Persönlichkeit.

Sie sind selbstbestimmend und willensstark und möchten alles alleine und auf ihre Weise machen. Das müssen Eltern erst mal lernen, haben sie doch gelernt, dass Eltern immer alles besser wissen. Obendrein gilt man besonders in der Verwandtschaft als «Erziehungsversager» oder einfach als überfordert und inkonsequent. Als ich das verstanden hatte, konnte ich mit den Autonomiebestrebungen besser umgehen und sogar von meinen Kindern lernen: Dass sie mir durch ihre Reaktionen ermöglichten, verlorene Kompetenzen wiederzugewinnen und unfruchtbare und destruktive Handlungsmuster loszuwerden. Anstatt zu versuchen, das Gegenüber zu verändern, ist es viel lebenswerter, von diesem zu lernen und sich dabei selbst in seiner Persönlichkeit weiterzuentwickeln.

Und dabei kommt niemand zu schaden, höchstens der alte Elternkonsens «Kinder müssen sich anpassen und gehorchen»- und darum ist es nicht schade!

Und was ist aus den Kindern geworden?
Sie sind heute (meist) glückliche Erwachsene, sehr integer und bei sich selbst. Was nicht unbedingt immer der leichteste Weg ist. Anpassen ist einfacher.

Und das, was heute als «Selbstliebe» oder «Zu-sich-selbst-schauen» überall vermittelt wird, das beherrschen sie schon seit ihrer Geburt. Ohne dabei rücksichtslose Egoisten zu sein.

Sie können ihre Gefühle sehr gut wahrnehmen und noch besser ihre Bedürfnisse, die dahinterstecken. Das habe auch ich auf dem langen Weg der Begleitung meiner Kinder gelernt.

Wenn ich heute jemanden sagen höre: «Der macht, was er will!» - Dann kann ich einfach nur eine Antwort geben: «Ja, ist doch genau richtig. Sie etwa nicht?»

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7Kommentare

  • Nadja
    27.03.2021 13:51 Uhr

    Liebe Petra

    Sehr schön geschrieben und erklärt, wie Eltern auch von den Kinder lernen können.
    Diese Erfahrung mache ich auch immer wieder mit meinen drei noch nicht erwachsenen Kinder.
    Autonome Kinder haben wirklich viele Vorteile in der persönlichen Entwicklung und sind einigen einen Schritt voraus.
    Ich konnte mich dadurch in meiner Persönlichkeit weiterentwickeln, denn ein Kind was nicht immer gehorcht und sich anpasst, hat einen gesunden, stabilen Charakter, glaubt an sich und weiss was es will. Das ist durchaus positiv und hat viele Vorteile in der grossen, offenen Welt.

    Liebi Gruessli
    Nadja

  • Rahel
    27.03.2021 22:45 Uhr

    Anstatt zu versuchen, das Gegenüber zu verändern, ist es viel lebenswerter, von diesem zu lernen und sich dabei selbst in seiner Persönlichkeit weiterzuentwickeln.
    Dieses kann ich in meinem Erfahren voll und ganz bejahen. Auch ich habe es so empfunden, wenn ich die 3 " Durchreisenden" wie ich sie immer nenne, auf Augenhöhe sehe. Da ist dann auch kein Pubertäres Verhalten mehr, kein Ach und Krach... in der Luft.
    Meine Elternzeit dauert jetzt nunmehr 28 Jahre, in dieser Zeit bin ich in meiner Persönlichkeit gereift. Zu Anfang mit 21 Jahren, war es mir vor allem Wichtig, dass ich es nicht so mache wie meine Eltern. Was aber ein Trugschluss war. Ich hatte meine Oppositionen nicht reflektiert. Was will ich damit sagen? Das ich mein Denken über meine Mutter zu wenig analysiert und hinterfragt habe. So bin ich dann in den Widerstand zu Mami gegangen innerlich und die Beziehung zu ihr war zunehmend erschwert. Das Kleinkind, und Ihre Einmischung war eine Bürde in meiner jungen Mutterschaft. Ich habe es damals mit Ablehnung zu meiner Mutter geregelt, so dass ich die Besuche möglichst selten zu lies.
    Eben genau das Vermeiden von den Kontakten mit dem Auslöser "Mutter" der Zündstoff für Frustration. Die Vermeidung ist eine Strategie, die Anstrengend war, denn meine Tochter liebte ihre Grosi sehr.
    Bei den 2 jüngeren Kindern, war ich dann so weit abgegrenzt zu meiner Mutter, dass sie nur noch ca.3x im Jahr auf Besuch kam.
    Bei jedem Besuch war dann ein grosser Druck in mir. Ein Cocktail aus Schlechtem Gewissen und Perfektionsstreben, es umso schöner geben, machen zu müssen... Ein Teufelskreislauf begann.
    Der Druck war Beiderseits, wie mir meine Mutter in den späteren Jahren sagte.
    Wie komme ich da wieder raus..... Geholfen hat mir meine älteste Tochter, die mit 14 Jahren sich plötzlich aus meiner Familie verabschiedete. Innert 2 Wochen war sie ausgezogen. Sozusagen aus dem Nest geflüchtet. Dieser tiefe Einbruch hat mich total bestürzt.
    Alles war fassungslos in mir... Ich weiss noch wie ich nur noch Fernsehen gesehen habe, in der Zeit, einfach um nicht Denken zu müssen. Meine Tochter hat ihre Autonomie durch gesetzt, ohne auf meine Verfassung Rücksicht zu nehmen....
    Gott, wie bin ich Ihr heute im Nachhinein Dankbar. Meine Grosse hat die Stärke gehabt, mir meine Schatten zu wecken.
    Ich musste total in meine Selbstverantwortung reinwachsen. Sie war mein "Seismograph" der mich in die Verantwortung meines Lebens, meines Glücks brachte unabhängig von ihr oder anderen. Ihr Drang nach Autonomie, Selbstbestimmtheit, lies mich aussen Vor. Alle Versuche Sie zu beeinflussen, zu Lenken von meiner Seite, wehrte Sie vehement ab. Ich konnte Sie nicht mehr Bestimmen. Sie war ausser meiner Kontrolle.... und dass ist sie heute immer noch meine Erstgeborene, Gott sei Dank!

  • 30.03.2021 11:21 Uhr

    Liebe Nadja
    Das freut mich, dass du auch die Erfahrung gemacht hast, dass man als Eltern auch von den Kindern lernen kann.
    Ich glaube, dass diese Einstellung die herkömmliche Auffassung von Erziehung ziemlich auf den Kopf stellt.
    Aber um selbstbewusste und respektierte Erwachsene zu werden, müssen Kinder schon von kleinauf mit Respekt
    und auf gleicher Ebene betrachtet werden.
    Herzliche Grüsse Petra

  • 30.03.2021 11:26 Uhr

    Liebe Rahel
    Vielen Dank für diese ausführliche Rückmeldung. In Ihrem Brief haben Sie viele Themen angesprochen, die ich in meinem Leben genau so erfahren habe und nur bestätigen kann. Wie gehe ich mit meinen Mitmenschen um (den Kleinen und den Grossen)? Wie grenze ich mich von meiner Herkunftsfamilie ab? Habe ich bestimmte Überzeugungen und Verhaltensmuster zu überwinden? Wie kommuniziere ich respektvoll und ohne Bewertung? Und eines meiner Lieblingsthemen, mit dem ich mit vielen Klientinnen arbeite: mein Schattenkind. Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass man in der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit erst ganz komplett ist, wenn man auch dieses Schattenkind annehmen und in die Arme nehmen kann.
    Herzliche Grüsse
    Petra Sewing-Mestre

  • Tabea Bruderer
    09.04.2021 22:50 Uhr

    Was für ein wunderbarer Text, und vorallem, was für wunderbare Kinder! Kinder, die Wissen was sie wollen, und die vor allem wissen, was ihnen gut tut und was sie brauchen. Ich möchte noch den Begriff hochsenible Kinder einbringen. Hochsensible, autonome Kinder...Es gibt immer mehr von Ihnen, sie ebnen den Weg und wirbeln unser System auf. Unser Schulsystem, welches für diese Kinder ein Schrecken ist. Diese "neuen" Kinder werden vieles Revolutionieren, kämpfen und mit starken Eltern die sie so annehmen wie sie sind und diesen Weg mit ihnen gehen, kann es ihnen gelingen, grosse Veränderungen zu erreichen. Diese Kinder lassen sich nicht mehr in ein Schema zwingen sondern wollen Ernst genommen werden.
    Auch wenn es für Eltern oft streng sein kann, es sind tolle, willenstarke Persönlichkeiten voller Potential und einer Lebensgier welche umwerfend ist!

  • 12.04.2021 21:11 Uhr

    Liebe Tabea,
    vielen Dank für Ihren Kommentar, dem ich zu 100 Prozent zustimme. Aus meiner beruflichen Tätigkeit weiss ich, dass auch viele hochsensible Kinder (und Erwachsene) grosse Schwierigkeiten mit dem herkömmlichen Schulsystem haben, weil es das individuelle Lernen einfach vernachlässigt, worauf diese Kinder ganz besonders angewiesen sind. Es wird viel zu sehr vergessen, nach welchen Kriterien unser Schulsystem, das eigentlich noch aus der Zeit der frühen Industrialisierung stammt, entstanden ist. Man brauchte Arbeiter, die schreiben und rechnen konnten - sich eigene Gedanken über die Zustände zu machen, war weniger gefragt. Aber ich sehe in den letzten Jahren auch wirklich sehr engagierte Lehrpersonen, die dies erkannt haben und sich unglaublich viel Mühe mit den Kindern und einem entsprechenden Unterricht machen. Und das gibt mir viel Hoffnung.
    Herzliche Grüsse
    Petra Sewing-Mestre

  • Anja
    11.05.2022 21:16 Uhr

    Liebe Petra,
    Meine fünfjährige Tochter hat ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Autonomie, welchem ich wenn immer möglich Raum gebe. Die Kleine ist eine «Kämpfernatur» und gibt vollen Einsatz, um ihre Ziele zu erreichen. Umplanen und Extra-Meilen sind oft an der Tagesordnung. Dieses Erziehen in Autonomie, ist immer wieder recht herausfordernd für mich. Doch der starke Charakter von diesem jungen Menschen beeindruckt mich auch und macht unser Leben kunterbunt und unterhaltsam. Ganz herzlichen Dank für den anschaulichen und inspirierenden Einblick. Ich habe aufgrund dieser autonomie-orientierten Erziehungsmethode einiges an Kritik einstecken müssen, als meine Tochter noch ein Baby/Kleinkind war und habe mich mit meinen Ansichten manchmal recht einsam gefühlt und habe diese auch immer wieder hinterfragt. Doch ich bin dabei geblieben und habe das Gefühl, dass es der beste Weg ist für uns. Es ist schön zu hören, dass deine erwachsenen Kinder von der Freiheit während der Kindheit profitiert haben. Vielen Dank für diesen motivierenden Ausblick.

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