Elisabeth Neuhold Büchel, 26.02.2019
Heute
Morgen liegt ein Brief auf meinem Pult. Ein selbstgebasteltes und aufwendig
verklebtes Kuvert. FÜR DICH steht drauf, jeder Buchstabe in einer anderen
Farbe. Ich freue mich aufrichtig über das kleine Geschenk und möchte von den
Kindern wissen, wer das hingelegt hat. Nach einer längeren Pause streckt ein
kleines, molliges Mädchen nur ganz kurz auf und verschränkt ganz schnell wieder
seine Arme.
Aljetes Nachnamen kann ich nicht aussprechen. Eine Aneinanderreihung von
Konsonanten, die für mich zu erlesen sind wie für meine Erstklässler das Wort
Auto. Das Mädchen sitzt in der ersten Reihe und hat meine volle Aufmerksamkeit
gerade darum, weil es sich absolut unauffällig verhält. Es gehört zu den
Kindern die lieber beobachten, als selbst etwas beizutragen und vielleicht
davon ausgehen, gar nicht gesehen zu werden. Im Gegensatz zu den anderen
Kindern hat Aljete noch nie das Wort an mich gerichtet und wenn ich sie
anspreche, schaut sie mich mit ihren grossen dunklen Augen an und lächelt. Sie
sind mir sehr vertraut, diese stillen Mädchen, die alles richtig machen und
brav sind, alles Laute, Freche und Aufdringliche meiden, aber ganz zufrieden
sind in ihrer eigenen Welt. Also habe ich beschlossen, sie nicht zu bedrängen,
nicke ihr ab und an zu, wenn sie mich fragend anschaut, ermuntere sie indem ich
den Daumen hochstrecke oder male ihr ein Smiley ins Heft.
Bis gestern habe ich mich manchmal gefragt, wie ich sie unterstützen könnte.
Ich dachte, Aljete gehört zu den Kindern die von Anfang an schlechtere Karten
haben, um in unserer Gesellschaft zu bestehen. Zu den Kindern, die in der
zweiten Reihe stehen. Ihre Mutter hat noch nie den Unterricht besucht, hat sich
noch nie über zuviel oder zuwenig Hausaufgaben beschwert, sich über den
Lernstand ihres Kindes erkundigt oder einen anderen Banknachbarn für ihr Kind
gefordert.
Aber dann habe ich sie kennengelernt – die Mutter mit dem unaussprechlichen
Namen. Sie hat uns zum Skitag begleitet und mit mir zusammen die
Schlittelkinder betreut. Eine kleine, rundliche Frau mit einem offenen,
fröhlichen Gesicht.
„Ich kann nix schifahren, weisst du. Aber Aljete habe ich Schigurs geschiggt.
Jetzt sie macht gut, gell!“
Wir sind zusammen am Rand des Übungshanges gestanden und haben die Kinder
beobachtet. Als ich ihr angeboten habe, einen Kaffee im Restaurant trinken zu
gehen – es war bitter kalt und sie hatte keine Mütze dabei – hat sie vehement
abgelehnt.
„Ich bin nicht gekommen, Kafi tringgen. Sitzen kann ich zuhause, weisst du.“
Die Aufmerksamkeit und Fürsorge die sie allen Kindern entgegengebracht hat,
haben mich sehr beeindruckt. Sie hat Skischuhe zugeschnallt, Rucksäcke
zugeschnürt, kalte Hände warm massiert, Tränen abgetrocknet, Deckel von
Trinkflaschen auf-und wieder gut zugedreht, Sandwiches aus Folien befreit,
Handschuhe über Ärmel gestülpt, Schlitten hochgezogen, applaudiert, gelobt,
gelacht und dabei fotografiert. Sehr sehr viel fotografiert. Und so ganz
nebenbei hat sie mir ihre Geschichte erzählt. Sie sei jetzt gerade zehn Jahre
hier in der Schweiz. Am Anfang habe sie bei uns im Dorf im Restaurant Sternen
serviert.
„Und dann nach Ferien wegen Baby, wie sagst du…?“
„Mutterschaftsurlaub.“
„Ja nach Mutterschafturlaub, am ersten Tag, Chef hat gesagt, er hat geine
Arbeit für mich. Gegündigt. Hat Bessere gefunden, ohne Ginder! Habe ich Schürze
abgezogen, bin gegangen. Vor Mittagmenue.“
So fies, denke ich. Es trifft immer die Schwächsten!! Sauerei, im Sternen war
ich das letztemal – auch wenn das letztemal schon ein paar Jahre her ist.
„Dann ich bin zu RAV gegangen, war nicht lustig. Dann ich habe Arbeit in
Pflegheim gefunden, mit Putzen weisst du.“
Aha, Reinigungskraft im Pflegeheim. Bestimmt schlecht bezahlt. Und was macht
wohl der Papa?
„Dann mein Mann ist grangg geworden. Heimweh, weisst du. Im Rüggen immer Schmerzen.
Also ich habe Ggurs gemacht vom Rote Kreuz und dann ich bin Pflege.“
Hilfspflegerin, harter Job. Unregelmässige Arbeitszeiten, Stress.
„Ich war nicht zufrieden, weisst du, ich immer rennen für andere. Also ich habe
meine Mama angerufen, sie muss ggommen und schauen auf meine Ggind und auf
meine Mann. Ich habe Lähre gemacht, weisst du FaGe. Oioioi, ich habe viiiiel
gelernt am Abend, wenn Baby hat geschlafen. Jetzt ich bin Stellvertretung von Leiterin
von Abteilung. Jetzt ich bin zufrieden. Mein Mann geht auch besser.“
Wow, dachte ich und spürte ganz vage ein Gefühl der Beschämung. Bevor ich mir
aber Gedanken darüber machen musste, hat mich ein Kind am Ärmel gezupft, das
dringend aufs Klo musste.
Heute Morgen liegt also dieser Brief auf meinem Pult. Erst in der Pause komme ich dazu; die vielen Klebstreifen zu entfernen, ohne das Papier zu zerreissen. Ich falte es auseinander und sehe eine kleine, zarte Feder, mit Bastelleim fixiert. Es ist eine weisse Kunstfeder wie ich sie auf meiner Mütze habe. Zart und flauschig. Darunter steht mit rosaroten Grossbuchstaben: DAS HASTU GESCHTERN VERLOREN IM GONDLBAN ALJETE