In jedem Augenblick

Simone Buser, 25.04.2019

Simone Buser
Simone Buser

Mutter, im Spiegel sehe ich immer auch dich. Dein Gesicht schiebt sich in meine kantigen Züge, zaubert Weichheit in mein Lächeln. Deine ebenmässigen Konturen scheinen auf wundersame Weise mit meinem Geflecht verwoben und lassen mich von innen erstrahlen. „Sonne“, hast du mich oft gerufen und dich über mich gefreut.

Ich recke den Kopf auf Fensterhöhe und blicke hinaus auf die leuchtend gelben Felder und weiter in der Ferne auf zwei Punkte, die sich durch ein tanzendes Auf und Ab aus dem dunstigen Hintergrund schälen. Einer bewegt sich weiter oben als der andere und der untere ist stets ein Stück voraus. Ich kneife die Augen zusammen und öffne sie weit. Es sind wohl zwei Menschen, einer klein, der andere gross. Sie hüpfen vorwärts und himmelwärts. Die Sprünge sind es, die meine Seele berühren und mein inneres Ohr öffnen und plötzlich ist es ganz nah, das fröhliche Geschnatter, die Stimmen, die sich im übermütigen Lachen vereinen. Einen Atemzug lang bleibt die Luft zwischen meinen Rippen hängen, der Bauch zieht sich wohlig zusammen. Ich schlüpfe in den unteren Punkt und lege meine Hand in deine.

In der Leichtigkeit dieser Kindertage hat sich der Strang zwischen uns vervielfacht und ein starkes Band geknüpft. All die späteren Wunden, ohne Absicht, oft gedankenlos zugefügt, haben Narben hinterlassen und jede einzelne hat unsichtbar noch eine Faser dazu geflochten.

„Weisst du noch Mutter, als an regnerischen Sonntagen unsere Umrisse in den bläulichen Rauchschwaden mit den Möbeln verschmolzen? Vater, Tanten und Onkel gierig an ihren Glimmstängeln hingen?“ Wir mittendrin. „Wie konnten wir nur“, hast du später oft den Kopf geschüttelt. „Das waren doch die Siebziger Jahre, Mutter, bei meinen Freundinnen war es auch nicht anders. Und wie du damals angezogen warst! Alle deine Sachen waren breit, der Gürtel, die Hosenbeine, unter denen die Schuhe fast verschwanden und die Ärmel, die beim Einschenken über Gläser und Tassen wehten. Ich liebte dein Stirnband, orange Kreise, an deren Rändern braune, weniger grosse und darin noch ein schwarzer Halbmond klebten. Deine Stiefel hatten Fransen und eine dicke Sohle. Du hast ausgesehen wie ein langer Pinsel, der lebensfroh Farbe in die Welt tupfte.“

Es gibt sie auch heute noch, die Stunden zum Ausruhen und Auftanken, wo aussen und innen für dich im Einklang schwingen. Oft aber legt sich ein grauer Schleier über dein Bewusstsein und du fühlst dich so verloren, wenn meine Stimme sich mit jener in deinem Kopf verfängt und du uns beide verzweifelt in meinen Augen suchst. Wenn die Wörter zu Buchstaben verfallen und die Bedeutung verkehren, Bilderfetzen sich mit Worthülsen im Durcheinander der Hirnleitungen verheddern, Gesichter plötzlich namenlos im Raum herumwandeln und in der Verwirrung ihre wilden Fratzen aufsetzen.

Grossmutters Küchenschemel ist dein liebster Platz und ich sitze neben dir. Deine Knie sind aufgeschlagen, das Haar riecht nach Heublumen und Wiesenklee. Die Jahreszahlen sind im Nebel des Vergessens entschwunden. Still und leise haben wir die Rollen getauscht. Wir singen und summen deine alten Lieder. Es scheint, als würden diese Melodien, gleich einer Spinne, ein Netz um dein Innerstes spinnen und dich sanft einbetten. Der Kuchen schmeckt herrlich nach Schokolade. Ich erzähle von uns, entdecke mit dir das Mysterium in jedem Augenblick.

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