Innerer Klimawechsel

Dora Kostyàl, 26.03.2021

Dora Kostyàl
Dora Kostyàl

Als unberechenbar, launisch und unbeständig wird der April bezeichnet. Eigenschaften, die nur als Wetteradjektive normal oder akzeptabel scheinen – für Menschen sieht die Sache anders aus.

Die gleichen Merkmale können auch als spielerisch - improvisierend, erfrischend und reinigend empfunden werden, die eher positiv besetzten wie Verlässlichkeit, Beständigkeit und Vorhersehbarkeit durch ihre Kehrseiten ebenso als monoton, stur und langweilig.

Wie steht es aber um unsere „inneren Jahreszeiten“? Findet dort mit dem Älterwerden auch eine Art Klimawechsel statt? Eine Verschiebung in Richtung November, inklusive Kehrseiten? In deren Folge die Aprilfelder seltener grünen, die launische Sonne nur gelegentlich wärmt und der unberechenbare Frühlingswind unsere Seelen kaum noch beflügelt?

Wie überraschend kann doch in grauen Zeiten ein Hauch April wirken! Einer Blume zur falschen Zeit ähnlich: verspätet oder als Vorbote des nächsten Frühlings, eines noch verborgenen, kommenden Wandels.

Aus der kleinen Bergkirche lockt Klaviermusik.

Die Kirche ist leer, der Pianist übt für das angekündigte Konzert. Ein offenes Buch mit leeren Seiten liegt als Einladung zum Innehalten auf und inspiriert mich zu einem Satz, der bisher unausgesprochen blieb. Während ich schreibe, gesellt sich die Sängerin zum jungen Mann. Wir sind weiterhin allein, das Duo vorne, ich auf Abstand und halb verdeckt hinter den Säulen.

Umhüllt von der Melodie kommt mir plötzlich der Impuls, mitzusingen - gefolgt vom sofortigem Abblocken im Kopf, wie: „Ich darf doch die Probe nicht stören, kann nicht so schön singen“, oder einfach als wortlose Scham. Scham ohne Herkunft, ohne Gesicht, kaum fassbar. Mit gleichzeitigem Herzklopfen, das den paar Sekunden lang andauernden inneren Kampf begleitet, der mich fast zerreisst. Dann sage ich schliesslich „Ja“ zum Impuls.

Auf Distanz bleibend stimme ich leise ein, schiele aber zur jungen Frau hinüber. Sie hat die Augen geschlossen, ihre Handflächen sind zum Himmel geöffnet. Sie scheint vollkommen im Singen aufzugehen.

Meine schüchterne Stimme gewinnt an Tiefe und Kraft, nun singen wir zweistimmig.

Wie zwei verschieden gefärbte Ströme fliessen die Töne zu einem Fluss zusammen: hell und frisch, warm und dunkel, in vollkommener Einheit von den Klängen des Flügels getragen.

Das Herzklopfen bleibt, diesmal aber als Ausdruck vom pulsierenden Leben.

Es ist wie ein Singgebet, ein Seelenlied. Voller Respekt, verbindend und geradezu heilig.

Nach dem letzten Akkord horchen wir mit geschlossenen Augen den Klängen nach.

Die Kirche, die verhallenden Töne, die - auch auf Distanz - spürbare Verbundenheit und der draussen unerwartet und kurz erklingende Vogelgesang bilden eine meditative Einheit, einen sakralen Raum.

Ich drehe mich lautlos um und verlasse die Kirche, deren Tor mit einem metallenen Geräusch die Stille durchschneidet. Das vielfarbige Herbstlicht überströmt mich.

In meinem Herzen trage ich den Frühling hinaus.

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