Interview mit Renate Schwertel

Silvia Trinkler, 24.11.2021

Silvia Trinkler
Silvia Trinkler

Liebe Renate, mit deiner Geschichte „Mitten im Leben“ hast du den 8. Bodensee-Schreibwettbewerb gewonnen. Herzliche Gratulation! Deine Geschichte ist mir richtig „unter die Haut“ gegangen. Du hast mich mitten in das Leben einer Mutter mit einem behinderten Sohn genommen. Schonungslos und einfühlsam, respektvoll und sehr nah dran – eben mitten drin. Danke vielmals dafür.

Erzähl uns etwas über dich, wie und wo lebst du? Was machst du beruflich?

Ich lebe in der Nähe von Frankfurt am Main. Nächstes Jahr werde ich 70. Davor gruselt es mich ein bisschen und ich kann es gar nicht glauben, denn ich fühle mich gar nicht so alt. Mein gefühltes Alter liegt so bei Mitte fünfzig.

Deshalb bin ich auch noch berufstätig. Längst nicht mehr mit so vielen Stunden wie früher, eher so, wie mit einem Minijob. Da ich seit mehr als 30 Jahren selbstständig arbeite, kann ich es mir einteilen und Aufträge annehmen oder auch ablehnen. Ich bin als Dozentin für eine bestimmte Software tätig, die in der Reiseindustrie eingesetzt wird, habe aber nach meiner Ausbildung zur Mediatorin noch ein zweites Standbein im Bereich der Erwachsenenbildung rundum das Thema Kommunikation.

Mein ältester Sohn ist 37 und lebt nicht so weit von uns entfernt. Ich freue mich immer sehr, wenn ich ihn und meine Schwiegertochter sehe, wenn wir uns treffen und mit dem Hund wandern gehen und anschließend was Leckeres zusammen kochen. Wandern oder auch einfach nur Rumlaufen ist für mich in den letzten Jahren immer wichtiger geworden. Großartig finde ich es, zum Ende des Winters in den Süden zu reisen und dem Frühling mit Wanderungen am Meer entgegen zu gehen. Ich kann dann von Licht und Luft gar nicht genug bekommen.
Ich lebe zusammen mit meinem Mann und meinem jüngsten 31-jährigen Sohn, der schwerbehindert ist. Über ihn und unser gemeinsames Leben und die Gedanken, die mir im Laufe der Zeit zu dieser speziellen Situation gekommen sind, bringe ich hin und wieder etwas zu Papier.

Welche Interessen hast du neben dem Schreiben?

Singen ist für mich ein echtes Lebenselixier, ich bin in zwei Chören aktiv. In einem gemischten Chor und in einem kleinen feinen Frauenchor. Egal, was am Tag gewesen ist, aus einer Chorprobe gehe ich immer müde, aber gestärkt nach Hause. Ich liebe unsere Chorauftritte und da ich klein bin, darf ich immer in der ersten Reihe stehen.

Wie kamst du zum Schreiben? Welchen Stellenwert hat das Schreiben in deinem Leben?

Ich habe mit Schreiben angefangen, weil ich dachte, ich könnte so meine Gedanken, und Gefühle ein bisschen ordnen, also tatsächlich so eine Art „Bewältigungsstrategie“ für den Alltag. Dann habe ich gemerkt, dass mir das Formulieren ziemlich viel Spaß macht und ich war ganz verblüfft, wenn es mir gelungen war, das, was ich fühlte und ausdrücken wollte, tatsächlich in Worte zu übertragen. Diese Erfahrung war ganz neu, denn bis ich so etwa 50 war, hatte ich außer beruflichen oder behördlichen Schreiben noch nichts zu Papier gebracht.

Als Kind war das wohl anders. Meine Mutter hat mir gerade kürzlich erzählt, dass mein Deutschlehrer sie einmal angesprochen hat, sie soll auf mich einwirken, dass ich nicht immer so lange Aufsätze schreibe. Also war wohl schon als Kind die Lust an den Wörtern da, das hatte ich ganz vergessen, das war auch in meiner Vorstellung ganz vergraben. Ich habe keine Idee, warum diese Lust dann wohl einige Jahrzehnte auf Eis gelegen hat.

Ich schreibe dann, wenn mir ein Thema durch den Kopf geht, das ich gerne beleuchten und das ich formulieren möchte. Der Text fließt mir nicht so locker aus der Feder, sondern ich arbeite immer wieder so lange an einem Text, bis ich fühle, dass es nun reicht und ich es nicht besser ausdrücken kann.

Ich denke, Schreiben ist wie Malen mit Worten. Es entsteht ein „Bild“ aus Worten und dieses Bild ist für mich dann gelungen, wenn mein inneres Bild und das „Wortebild“ übereinstimmen. Manchmal stelle ich mir vor, wie ein Leser oder eine Leserin in meinem Bild etwas erkennt, was seinem oder ihrem inneren Bild ähnlich ist, etwas Neues entdeckt oder etwas Bekanntes in anderen Farben sieht.

Dass Du an deinen Texten feilst, spürt man bei „Mitten im Leben“ sehr gut. Woher hast du deine Ideen?

Tatsächlich habe ich bisher ausschließlich über das Leben mit meinem behinderten Sohn geschrieben. Mir sind im Laufe der Jahre so einige Themen dazu eingefallen, aus denen ich einzelne Artikel gemacht habe. Die würde ich wirklich sehr gerne nach und nach veröffentlichen. Ich erzähle aus einer Welt, in die die meisten Menschen wenig Einblick haben und ich möchte gerne diese Welt etwas sichtbarer machen. Es ist nicht so, dass in dieser Welt etwas grundsätzlich anderes geschieht, aber es drängen sich oft Fragen auf, die ich mir ohne diesen behinderten Sohn nie gestellt hätte.

Liebe Renate ich danke dir herzlich für deine offenen Worte und bin überzeugt, dass deine Geschichten mit deinem Sohn vielen anderen betroffenen Eltern Kraft geben und überhaupt vielen Menschen liebevoll und einfühlsam eine Welt öffnen, die sie nur aus Distanz „kennen“.


Das Interview führte Silvia Trinkler, Mitglied der Jury

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