Interview mit Prof. Dr. med. Vera Regitz-Zagrosek

Hier den Autorennamen eingeben, 26.02.2021

Prof. Dr. med. Vera Regitz-Zagrosek
Prof. Dr. med. Vera Regitz-Zagrosek

Unter Gendermedizin bezeichnet man eine Form der Humanmedizin unter besonderer Beachtung der biologischen Unterschiede von Männern und Frauen. Die Gendermedizin konzentriert sich auf die geschlechtsspezifische Erbforschung und Behandlung von Krankheiten. Das war jetzt die Wikipedia-Erklärung, jetzt interessiert uns die Meinung einer Pionierin auf diesem Gebiet, Frau Prof. Dr. med. Vera Regitz-Zagrosek

Sie erklären in Ihrem Buch «Gendermedizin» warum Frauen eine andere Medizin brauchen als Männer. Warum brauchen Frauen eine andere Medizin?
Weil sie einfach einen anderen Körper haben, Frauen unterscheiden sich in jeder einzelnen Zelle von dem Körper des Mannes. Frauen haben andere Geschlechtschromosomen als Männer, Ihre beiden X-Chromosomen verfügen über mehr Gene als die X und Y-Chromosomen der Männer und die beeinflussen Gesundheit und Krankheit. Die Sexhormone unterscheiden sich. Das heisst Frauen und Männer erkranken und genesen anders.

In Ihrem Buch beschreiben Sie die einzelnen Erkrankungen bei Männern und bei Frauen. Ich stelle fest, dass wir Frauen da die schlechteren Karten gezogen haben. Bei fast allen Erkrankungen sind Frauen viel häufiger betroffen als Männer? Warum ist das so?
Es ist nicht bei allen Krankheiten so. Herzerkrankungen sind bei beiden Geschlechtern etwa gleich häufig, die Frauen bekommen ihre Herzerkrankungen nur meist etwas später als Männer. Rheuma, Autoimmunerkrankungen und Depressionen betreffen hingegen Frauen häufiger als Männer. Dafür sind Männer eher von Krebs betroffen und aktuell auch von Corona. Es gibt ja bereits Stimmen, die fordern, dass Männer vor den Frauen gegen Covid-19 geimpft werden sollen.

Können Sie ein Beispiel nennen, wo es bei der Symptomatik von Krankheiten zwischen Frauen und Männern signifikante Unterschiede gibt?
beim Herzinfarkt sind allgemein bekannt Symptome starke Schmerzen im Brustraum mit Ausstrahlung in den linken Oberarm. Diese treffen vorwiegend auf Männer zu, bei Frauen können die Symptome so sein, sind hingegen sehr oft anders, oft stehen Übelkeit oder Erbrechen, Schwitzen, Schwindel, Erschöpfung. Da besteht die Gefahr, dass die wirkliche Ursache gar nicht oder zu spät erkannt wird.

Ein Wort zu den Medikamenten. Sie schreiben, Medikamente werden unterschiedlich von Frauen und Männer aufgenommen und abgebaut. Warum ist das so?
Wie gesagt, jede einzelne Zelle unterscheidet sich zwischen Mann und Frau, also reagieren sie folglich auch unterschiedlich beim Aktivieren beziehungsweise Deaktivieren von Arzneimitteln. Die Leber, die zentrale Verarbeitungsstation für Medikamente verarbeitet diese ebenfalls sehr geschlechtsabhängig. Aber auch die Nieren spielen bei der Ausscheidung der Arzneimittel eine wichtige Rolle. Dann verfügen Frauen über einen höheren Fettanteil als Männer, und eine andere Fettverteilung. Dies beeinflusst die Verteilung der Arzneimittel im Körper ebenfalls. Dies nur ein paar Gründe, warum Frauen und Männer unterschiedlich auf Arzneimittel reagieren.

Was muss geändert werden?
Zuallererst muss die Tatsache anerkannt werden, dass Männer und Frauen von ihrer Biologie her verschieden sind. Also muss viel mehr geforscht werden, gesucht nach den optimalen Dosierungen und zwar getrennt für Frauen und für Männer. Wirkungen und Nebenwirklungen müssen endlich geschlechtsspezifisch untersucht werden. Da sind jetzt vor allem Forschung und Pharma am Zug, aber auch Bereiche wie Ärztegesellschaften, Ethikkommission, Gesundheitsämter und Leiter der einzelnen Verbände sind ebenfalls in der Pflicht. Da bräuchte es mehr Frauen in Führungspositionen, das sind heute immer noch Männerdomänen.

Braucht es neue Medikamente oder reichen unterschiedliche Dosierungsangaben für Männer und für Frauen?
Es braucht beides. Ja, teilweise muss man wirklich nach neuen Medikamenten suchen, zum Beispiel bei Problemen mit den Herzkranzgefässen haben wir wenig Medikamente die frauentypische Syndrome – Spasmen, Funktionsstörungen, Längseinrisse verhindern. Hier braucht es einen Wechsel in der Zusammensetzung der Studiengruppen, beginnend bei den Vorversuchen im Tier wo wir oft nur mit der jungen männlichen Maus arbeiten. Bis heute können für neue Arzneimittel gegen Herzinfarkt mehr als 80% Männer in den Studien und weniger als 20% Frauen sein.

Und doch werden Frauen trotz allem älter als Männer?
Das stimmt, sie sind aber erwiesenermassen häufiger krank als Männer. Da ist aber nicht allein das Geschlecht ausschlaggebend, sondern dafür sind vor allem soziokulturelle Aspekte verantwortlich. Frauen kümmern sich zuerst um die Anderen, stecken die eigenen Bedürfnisse oft zurück. Frauen sind von der Biologie her zwar etwas robuster als Männer, aber soziokulturell wird dieser Vorteil aufgehoben.

Der Titel eines Kapitels in Ihrem Buch heisst: Ändern Sie Ihre Prioritäten zugunsten Ihrer Gesundheit. Was gehört da vor allem dazu?
Gesundheit ist nicht einfach nur Abwesenheit von Krankheit. Frauen neigen zur Selbstausbeutung. Wir sollten lernen auf das eigene Wohlbefinden zu achten. Die eigene Lebenseinstellung hinterfragen, überlegen, was tut mir gut, womit erhole ich mich am besten, Sport und Bewegung in den Alltag integrieren, mit einer Freundin ausgehen, einfach herausfinden, was Freude macht und dies dann auch kultivieren. Das ist leicht gesagt und schwer getan, dennoch sollte frau es versuchen. Männer müssen bereit sein, die Familienpflichten mit den Frauen zu teilen, wenn diese berufstätig sind. Und Frauen müssen dazu bereit sein oder dies sogar einfordern.

Es gefällt mir, wie Sie beschreiben, dass Frauen ihre weiblichen Lebenserfahrungen viel stärker nutzen sollten als Kraftquelle. Können Sie etwas dazu sagen?
Frauen müssen ihr ganzes Leben mit Herausforderungen umgehen, welche direkt mit ihrem Geschlecht zusammenhängen, wie z.B. monatliche Menstruation, Schwangerschaften, Geburten, meist auch Verhütung. Der Reichtum und die Chance dieser geballten weiblichen Lebenserfahrung wird häufig nicht als Kraftquelle erkannt, im Gegenteil, der Fokus richtet sich oft auf das Negative; Last, Schmerzen, Risiko, Belastung, Alterseinsamkeit, Falten und Brustkrebs sind Schlagwörter welche diese Frauenerfahrungen beschreiben. Kehren wir diese Negativspirale um und sehen mit wachem Blick die Vorteile und Ressourcen, welche in jeder dieser Lebenserfahrung als Frau stecken. Das wirkt sich unmittelbar auf unser Lebensgefühl und damit auch auf unsere Gesundheit aus.

Ihr Buch ist eine Fülle an Wissen, an neuen Erkenntnissen und den Umgang mit diesen. Und doch stellen Sie am Schluss fest, dass es noch viele Vorbehalte gegen eine Gendermedizin gibt. Was kann man – auch wir als Laien – tun, um dies zu ändern?
Am besten bei sich selbst anfangen, viel zu viele Frauen geben die Verantwortung über ihr Leben Männern ab, den eigenen aber auch Vorgesetzten, Ärzten etc.. Mit Freundinnen und anderen Frauen darüber reden, sensibilisieren für eine Gendermedizin, sich engagieren. Es sind mittlerweile rund 50% aller Ärzte Frauen, aber verantwortlich in den Verbänden sind immer noch 80-90% Männer. Es reicht nicht, sich seinen eigenen überschaubaren Bereich zu organisieren, Frauen sollten mehr bereit sein zu expandieren, den eigenen Garten verlassen zu Gunsten der Allgemeinheit. Wie gesagt, dazu braucht es oft zwei.

Frau Prof Regitz, ich danke Ihnen herzlich für das Interview

Frau Prof. Dr. med. Dr. h.c. Vera Regitz-Zagrosek ist die Pionierin der geschlechtersensiblen Medizin in Deutschland Sie ist Gründungsdirektorin des Berliner Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité Berlin, sowie Gründerin der Deutschen und der Internationalen Gesellschaft für Gendermedizin. Sie ist an der Charité und an der Universität Zürich tätig. An der medizinischen Fakultät der Universität Zürich war sie «Anna Fischer Dückelmann Gastprofessorin» und ist nun Beraterin zur Integration von Gender in das Medizinstudium. Darüber hinaus ist sie an dem CAS Gendermedizin beteiligt, in dem Postgraduierte sich in Gendermedizin weiterbilden können. Mit 10 Modulen, die getrennt auch als Weiterbildungen gebucht werden können, und alle wesentlichen Bereiche der Gendermedizin abdecken, wird an den Unis Zürich und Bern in 2021 erstmals umfassendes Wissen angeboten. www.gender-medicine.ch

Das Gespräch führte Verena Lüthi, Redaktorin

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