Béatrice Stoessel, 24.07.2019
Wenn Verzicht befreit! Allein schon diese Aussage bringt mich in Rage. Wieso soll ich verzichten? Was kann ich dadurch gewinnen? Man muss dazu vielleicht folgendes wissen. Ich wuchs als Nachkriegsmodell auf. 1945 geboren und römisch-katholisch erzogen. Damals galten ganz andere Erziehungsgrundsätze als heute. „Du musst kleine Opfer bringen, das sieht der liebe Gott und wird dich irgendwann dafür belohnen“, so das Credo der Mutter. Im Religionsunterricht wurde diese These mehr als nur gut geheissen. Ergo lernte ich: Wer verzichtet tut Gutes zum Wohle der Gemeinschaft und profitiert irgendwann. Wann genau stand in den Sternen. Wer egoistisch handelt kommt bestimmt in die Hölle oder mindestens ins Fegefeuer, was in etwa der Niedergarmethode meines Backofens entspricht. Immer leicht köchelnd warm halten mit solch einschränkenden Zitaten und ja nicht damit aufhören, so bleibt das Kind schön brav. Und brav war ich, bei Gott.
Denke
ich jedoch an diese Zeiten zurück, so sehe ich Bilder vor meinem geistigen
Auge, welche in meiner Familie nicht zwingend auf Verzicht ausgerichtet waren.
Papa gönnte sich ein schönes Auto und fuhr damit zum Fischen. Natürlich
brauchte er den Wagen auch für seine Arbeit im Aussendienst. Damit verdiente er
das Geld für die Familie. Mama gönnte sich jedes Jahr zu Ostern einen neuen
Frühlingshut, der selbstverständlich zum Kostüm, den Schuhen und der Handtasche
passen musste. Das Schwesterherz erbettelte oder ertrotzte sich ihre Wünsche
stets mit grossem Erfolg, trotz den Opferpredigten der Frau Mama. Einzig bei
mir wurden die strengen Massstäbe an- und in die Tat umgesetzt. Wenn ich einen
Wunsch aussprach kam in neunundneunzig von hundert Fällen die Antwort: „Jetzt
nicht du auch noch, du bist doch die Grosse und Vernünftige. Und du weißt, man
muss ab und zu ein kleines Opfer bringen.“
Irgendwie ging diese Philosophie bei mir in Fleisch und Blut über. Es gab einiges worauf ich im Lauf meines Lebens verzichtete auch ohne Opferpredigt. Ich gebe es zu, ich war anfänglich schlicht zu dumm, zu brav, zu naiv, um den Bann des Verzichts zu durchbrechen. Es brauchte seine Zeit und dauerte bis ich begriff, dass ich für mein Glück ganz allein verantwortlich bin. Doch als ich es erkannte, taten sich für mich Welten auf. Ich lernte zu differenzieren. Prüfte, was ich wirklich will und was nur eine Laune war. Stellte fest, dass ich viele Regeln über Bord werfen kann, weil sie unnötig einschränken. So schwor ich mir, dass ich ganz sicher auf nichts mehr warten will. Wieso auch?
Und deshalb verzichte ich noch so gerne auf falschen Dünkel und Moral. Auf sogenannte Freunde die immer etwas von mir fordern, aber nichts zurückgeben. Auf Regeln, die ich einhalten soll, weil es zum guten Ton gehört.
Oh –
ich bemerke grad, ich verzichte ja doch und dieser Verzicht ist herrlich befreiend.
Frei von falschen Vorstellungen geniesse ich unbeschwert und ohne schlechtes
Gewissen mein Leben. Folge einem Lockruf in die Berge, oder lasse mich mit
feinem Essen verwöhnen. Gönne mir das Abenteuer den Zürichsee schwimmend zu
durchqueren. Will nochmals ein Buch schreiben. Es muss sein, denn mit 74
Jahrringen auf dem Buckel bin ich auf der Zielgeraden des Lebens. Es duldet
keinen Aufschub. Jetzt oder nie.