Kein einziges Wort - nie

Renate Schwertel, 21.09.2022

Renate Schwertel
Renate Schwertel

Mein Sohn Kenny kam nicht behindert zur Welt. Er wurde gesund geboren und plötzlich krank, dann schwerkrank und dann ganz ganz langsam behindert. Er wurde nicht behindert von heute auf morgen, sondern er wurde es so nach und nach in kleinen Schritten und mit jedem Tag ein klein wenig mehr. Heute ist er 32 Jahre alt. Er sprach in seinem Leben kein einziges Wort. Niemals, bis heute nicht.

Wir sind mit ihm zu vielen Ärzten, Ärztinnen und Therapien gefahren und haben so viele sehr interessante Menschen kennengelernt. Neben der klassischen Schulmedizin haben wir alles ausprobiert, was uns hilfreich erschien, immer mit der Vorstellung, dass wir nichts tun wollen, was Kenny zusätzlich quält und dass wir uns nicht finanziell über den Tisch ziehen lassen.

Ein Besuch bei einem ayurvedischen Arzt ist mir in ganz besonderer Erinnerung geblieben. Wir hatten einen Termin vereinbart in der Hoffnung, die alte indische Gesundheitslehre könne uns einen Hinweis geben, wie wir Kenny helfen könnten, seine Leiden zu verringern und seine Entwicklungsmöglichkeiten zu stärken.

Ich fand es ganz besonders beeindruckend, mit wie viel Respekt dieser ayurvedische Arzt Kenny behandelt hat. Bei all unseren Begegnungen in Krankenhäusern, mit Ärzten und Ärztinnen wurden wir meistens freundlich behandelt, aber dies hier war etwas anderes, es war mehr als Freundlichkeit, es war eine ganz dichte, eindringliche Form von Aufmerksamkeit, von Achtung Kenny und uns gegenüber, die ich ganz besonders beeindruckend fand. Dieser ganz besondere Respekt des Arztes, der in der ganzen Atmosphäre des Raums zu spüren war, hat mich seltsam angerührt.

Kenny lag auf einer Matte auf dem Boden, er hatte einen schlechten Tag, war erschöpft und etwas weggetreten, schlapp und kaum ansprechbar. Wir, seine Eltern und sein Bruder Dennis saßen bei ihm. Ich weiß noch, dass ich traurig war, Kenny so liegen zu sehen und dass ich versuchte, meine Traurigkeit nicht zu zeigen.

Wir hatten vor dem Behandlungstermin Kennys Geburtsdaten übermittelt, aus denen der Arzt Informationen erhalten hat, die er auf der Grundlage der hinduistischen Idee der Reinkarnation interpretiert hat.

Im Hinduismus und im Buddhismus spielt die Idee der Reinkarnation eine zentrale Rolle.

Nach hinduistischer Vorstellung ist der Mensch in seinem innersten Wesen eine unsterbliche Seele, die sich nach dem Tod des Körpers eine neue Erscheinung sucht. Die Art dieser neuen Erscheinung, sei es Mensch oder Tier, hängt davon ab, was der Betroffene in seinem früheren Leben getan hat.

Nach dieser Lehre gibt es Menschen, die diesen Kreislauf von Werden und Vergehen überwunden haben. Diese Menschen waren in ihrem letzten Leben große Meister, große Yogis, die durch ihr Wissen, ihre Denkweise, ihre Taten vom Rad der Wiedergeburt erlöst sind. Aus irgendeinem Grund kommen aber einige dieser großen Meister, dieser Yogis doch noch einmal in einer menschlichen Reinkarnation auf die Welt, obwohl sie dies eigentlich gar nicht mehr nötig hätten.

Soweit die hinduistische Lehre. Das kann man nun glauben oder auch nicht. Es spielt aber gar keine Rolle. Das Entscheidende für mich war, dass dieser Glaubenshintergrund die Grundlage war für den berührenden Respekt, der Kenny und uns entgegengebracht wurde. Denn der Arzt sprach davon, dass Kenny in seinem früheren Leben einer dieser Yogis war, der eigentlich, bereits erlöst vom Rad der Wiedergeburt, nicht mehr auf diese Welt hätte kommen müssen, dass er nicht auf dieser Welt sei, um uns Leid zu bringen, sondern „to bless you“, uns zu segnen. Nicht nur uns, seine Eltern und seinen Bruder, sondern alle, die mit ihm zusammen sind und sich mit ihm beschäftigen. Es war ein ganz unglaublicher und besonderer Moment.

Ich habe mir oft überlegt, was dieses „to bless you“ bedeuten mag und wenn ich mir Kennys Wirkung auf uns, seine Familie und auf all seine Erzieher, Lehrer, Therapeuten und Betreuer vorstelle, dann sehe ich, dass er bei vielen von uns das Allerbeste zum Vorschein gebracht hat und bringt. Er lockt und fördert unsere Geduld, unser Mitgefühl im besten Sinne, unsere Zuwendung, unsere Liebe, er setzt Kräfte in uns frei, von denen wir keine Ahnung hatten. In diesem Sinne segnet er uns wirklich, denn ohne ihn wäre all dieses Wachstum unserer Möglichkeiten nicht denkbar gewesen und das Beste in uns nicht in diesem Ausmaß zum Vorschein gekommen.

Auch wenn ich selbst mit der Idee der Reinkarnation nicht viel anfangen kann, so hat dieser Behandlungstermin und die Kraft der Worte „to bless you“ doch eine nachhaltige Wirkung auf mich über die Jahre hinweg und ich sehe meinen Sohn ein klein wenig anders als vorher, bemühe mich, nicht seine Erkrankung im Vordergrund zu sehen, nicht nur zu sehen, was er uns abverlangt, sondern auch, was er uns mitgebracht hat.

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