Lässt sich jeder Schaden begleichen?

Brigitte Hieronimus, 31.01.2020

Brigitte Hieronimus
Brigitte Hieronimus

Wann und wie oft ich aus Schaden klug geworden bin, ergäbe eine unendliche Geschichte. Doch irgendwann war ich wohl klug genug, immer weniger Schaden anzurichten. Üblicherweise geht man von Folgendem aus: Haben wir einen Schaden erlitten, sind wir Opfer der Umstände geworden und erheben Anspruch auf Schadenersatz. Richten wir einen Schaden an, sind wir Täter - oder Täterin – und sollten uns um Schadensregulierung bemühen. Verhindern wir einen Schaden nicht, werden wir zu Mittätern. Mich interessiert also, ob sich jeder Schaden restlos begleichen oder verhindern lässt?  

Das letzte Mal habe ich hier über meine Erfahrungen geschrieben, die ich als Hospitierende in einem Männergefängnis gemacht habe. Ich durfte als Beobachterin teilnehmen und zuschauen, wie sich eine Gruppe von Männern während des Anti Aggressions-Trainings verhielt. Fast alle haben Gewalterfahrungen innerhalb der eigenen Familie erlebt. Dabei handelte es sich nicht nur um Prügel, sondern auch um Foltererfahrungen. Von meiner Kollegin erfuhr ich, dass einem von ihnen die Hoden angezündet wurden und ein anderer von seinem Vater auf eine heiße Herdplatte gesetzt wurde … Beim Zuhören drehte sich mir vor Schmerz der Magen um. Und fast geleichzeitig spürte ich eine unglaubliche Wut auf diese grausamen Väter und hätte sie am liebsten denselben Qualen ausgesetzt. So schnell wurde also auch ich in Gedanken zur Täterin.

 Aus therapeutischer Sicht ist mir klar, dass diese Väter womöglich Opfer früher Gewalttaten geworden sind. Doch nützt mir dieses Wissen wirklich? Geht es nicht eher darum, bewusst wahr zunehmen, wie rasch man sich selbst – wenn auch nur in Gedanken - in eine Opfer Täter Dynamik verwickelt? Wie blitzartig diese Reflexe im Hirnstamm auflodern? Kämpfen und flüchten sind biologisch gesunde Reaktionsmuster bei drohender Gefahr. Wenn das nicht möglich ist, kommt es zu einer Art Totstellreflex. In der Tierwelt funktioniert es manchmal so; das angreifende Tier lässt von seiner Beute ab. Bei Menschen ist das eher selten der Fall. Ein Mensch spaltet sich während einer Gewalterfahrung, die mit Todesangst einhergeht, auf. Es handelt sich dabei um ein Notfallprogramm der Psyche. Das Unaushaltbare trennt sich ab vom körperlichen Erleben und ist dem Bewusstsein nicht mehr zugänglich – auch nicht, wenn das schreckliche Erleben vorbei ist – es bleibt abgesondert. Je jünger man ist, desto hilfloser ist man der Angst ausgesetzt und desto weniger ist es möglich, diese gesunden Reaktionsmuster bei Gefahr einzusetzen. Jedoch bleibt das Erlebte auf der unbewussten Ebene präsent und führt ein Eigenleben. Gewaltbereite Menschen sind in der Regel Opfer von frühen Gewalttaten geworden, jedoch fühlen sie die Schmerzen und die Angst ihrer eigenen Opfererfahrung nicht mehr. Stattdessen wütet in ihnen blanke Wut, Zorn und Hass, die sie an Wehrlosen ausagieren. Und das können dann auch die eigenen Kinder sein …

So möchte ich die Frage, ob man aus Schaden klug wird, so beantworten: Wenn ich heute als erwachsener Mensch gewahr werde, wie rasch auch ich jemanden verurteile, der Gewalt ausübt und nach Vergeltung rufe, dann wäre es an der Zeit zuerst bei mir nachzuschauen. Wo bin ich selbst Opfer geworden und habe dieses Erleben verdrängt? Und worauf reagiere ich unbarmherzig und mitleidlos? Das wäre der Schlüssel zu meiner verletzten Seele. Ich könnte mich durch das Erinnern wieder selbst berühren und Mitgefühl für mich selbst entwickeln. Dann wäre ich tatsächlich aus Schaden – nämlich dem was meiner seelischen Entwicklung geschadet hat – nicht nur klug, sondern einsichtsvoll und vernunftbegabt geworden. 

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