Lieber Jürg Jegge

Julia Onken, 10.04.2017

Nein, ich schreibe Ihnen nicht, um mich den Beschimpfungen gegen Sie, die derzeit in den Medien zu lesen sind, anzuschliessen. Ich schreibe Ihnen, um etwas richtig zu stellen oder zu ergänzen. Vor allem aber auch darum, um der Dämonisierung Ihrer Person eine differenziertere aber auch kritische Beurteilung entgegen zu stellen.

Sie waren einst Lichtfigur für alle, die selbst Kritik sowohl an der autoritären Erziehung als auch an pädagogischem Übereifer zu leiden hatten. Viele waren selbst durch Zwänge, Sanktionen und Bestrafungsstrategien geschädigt und Ihr Eintreten für eine neue Denkart war der Beginn eines neuen Verständnisses für die eigene Misere, die sich in Blockaden und Verklemmung zeigten. Sie haben nicht nur Pädagogen beeinflusst, sondern auch psychotherapeutisch Tätige – zu denen auch ich gehöre. 

Auch ich habe die Zeit des Umbruchs der 68er Jahre miterlebt. Die sexuelle Befreiung aus den zum Teil krankmachenden gesellschaftlichen Zwängen und ihrer Doppelmoral war angesagt. Es war eine grosse Umbruchswelle im Gange, die quasi alles auf den Kopf stellte und besonders von der linken Intellektuellenszene freudig aufgenommen und auch umgesetzt wurde. Viele pilgerten zu Bhagwan nach Puunah, der sie von der eigenen blockierten Sexualität befreien sollte, andere versuchten es vor Ort. Dass es nach unten keine Altersgrenze gab, implizierte sich bereits im Bemühen, sich aller Fesseln und Grenzen zu befreien. Eltern zeigten sich selbstverständlich nackt vor ihren Kindern, was ja noch vor wenigen Generationen unvorstellbar gewesen war.

Es gab keine Grenzen mehr. Und man ging davon aus, dass das auch für die Kinder gut sei, im ganz natürlichen Verlauf der Entwicklung mit Sexualität konfrontiert zu werden. Auch die einst als eisernes Gesetz geltende Regel, keine sexuellen Kontakte zwischen Therapeut und Patientin zu unterhalten, wurde durchlässiger. In der Supervision gehörten Besprechungen mit derartigen Themen zum Alltag.

Der Zeitgeist war also von einem Klima der grundsätzlichen Befreiung von sämtlichen auferlegten Moralvorstellungen was Sexualität betraf, geprägt. Und kaum jemand der Beteiligten kam auf die Idee, etwas Unrechtes zu tun – wenngleich es bei den meisten in der Beziehung zu Kindern immer klare Grenzen gab, die sie nie überschritten hatten.

Sie, lieber Herr Jegge, handelten ganz im Zeitgeist und ich plädiere dafür, einerseits diesen Hintergrund in die Beurteilung Ihres Handelns miteinzubeziehen, andrerseits aber auch die schwerwiegenden Fehler aufzudecken, die Ihnen unterlaufen sind.

Wie sie in einem Interview sagten, gingen sie davon aus, den Kindern, an denen sie sexuelle Handlungen verübten, etwas Gutes zu tun, diese entweder vor Verklemmung und Blockade zu befreien oder sie davor zu schützen. Ihre Absicht war, den Kindern ein zukünftig freies Leben zu ermöglichen. Hier liegt ein grosser Irrtum vor und ich gehe davon aus, dass es sich vorweigend um Ihre eigene Befriedigung pädophiler sexueller Wünsche handelte. Es ist nun nicht redlich, lieber Herr Jegge, im Nachhinein die eigene Bedürftigkeit auszublenden und diese in einer Ideologie zu verpacken.

Der zweite Fehler der Ihnen unterlaufen ist, beschreiben Sie ebenfalls selbst. Sie gingen davon aus, dass es den Kindern Spass gemacht habe, da sie ja immer auch mitgemacht hätten. Gerade als Pädagoge sollte Ihnen doch bekannt sein, dass Kinder in der Lage sind, vieles, was Ihnen höchst unangenehm und zuwieder ist, hinzunehmen und zwar dann, wenn es von einer Person ihres Vertrauens kommt. Sie wurden von den Schülern verehrt und geliebt. Viele haben vielleicht zum ersten Mal erlebt, dass sich jemand um sie kümmert, der sie wertgeschätzt, fördert und auch liebt. Das ist doch auch längst bekannt, wenn es um sexuellen Missbrauch in der Familie geht! Wie kann ein Mädchen die Wünsche seines Vaters abwehren, wenn es diesem Mann doch zugetan ist und ihn von Herzen liebt? Kinder sind vor allem liebend, sie lieben auch jene Personen, die sie schlecht behandeln oder gar misshandeln.

Wenn ich Sie um etwas bitte, dann um dies, dass Sie nun im Rückblick den Opfern nicht auch noch die Verantwortung in die Schuhe schieben und ihnen unterstellen, sie hätten ja selbst an den sexuellen Begegnungen mit Ihnen ihr Vergnügen gehabt. Diese Demütigung sollten Sie ihnen ersparen.

Sie haben also die moralische Verantwortung vollumfänglich selbst zu tragen. Das ist keine leichte Aufgabe. Es braucht Kraft und den Willen, um Fehler einzusehen und diese aus tiefster Überzeugung zu bedauern.

Ich wünsche Ihnen eine erkenntnisreiche Zeit der Selbstreflexion.

Julia Onken

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