Lieber Papa

Lena W. , 17.01.2019

Lieber Papa

Nun hat unsere Beziehung doch noch ein einigermassen gutes Ende gefunden. Ich hatte eine schlaflose Nacht, der Vollmond schickanierte mich, ich lag wach und dachte nach, auch über Dich, wie so oft in letzter Zeit. Dann kam um 3 Uhr das Telefon: Papa ist gestorben. Ich wusste keine Worte, nur eine Ratlosigkeit ergriff mich. Inzwischen habe ich mich an den Gedanken gewöhnt, dass Du tot bist, und ich bin selbst erstaunt darüber, wie es mir beinahe Erleichterung verschaft. Seltsam, es ist, wie wenn der Tod auch jene Schwierigkeiten, die ich mit Dir hatte, verschwinden lässt

Tags darauf gehe ich meiner Arbeit nach, als ob nichts geschehen wäre. Stelle mich gewissenhaft den Anforderungen um mich herum – wahrscheinlich hättest Du nun Freude an mir, bei soviel Beherrschung und Kontrolle über meine Gefühle. Die hirntechnische Seite funktioniert wenigstens reibungslos. Im seelischen Bereich allerdings herrscht Chaos und eine tiefe Trauer. Um was ich trauere, weiss ich zwar nicht so genau. Dass es Dich nicht mehr gibt? Dass ich Dich für immer verloren habe? Nein. Es ist anders, verkreuzter, verzwackter, kaum zu verstehen, unlogisch: Der Tod gibt Dich mir zurück. Mit Deinem Tod kann ich besser umgehen, als mit Deinem Leben. So bin ich zwar traurig, gleichzeitig aber erlöst von einer Pein, die sich stets wie eine drohende Wolke über viele Jahre meines Lebens spannte.

Einst liebte ich Dich. Und ich wurde von Dir zurückgeliebt. Aber die Umstände haben uns in eine beinahe unerträgliche Situation hinein manövriert. Unsere gegenseitige Zuneigung wurde strapaziert, erhielt Löcher bis sie schliesslich drohte, ganz auseinander zufallen. Es folgten Missverständnisse und Kränkungen. Und nur mit Hängen und Würgen gelang es uns, das fragile Beziehungsgewebe wenigstens dem Schein nach einigermassen beieinander zu halten. Dabei hat alles so vielverprechend angefangen.

Du erinnerst Dich? Als wir uns das erste Mal anlässlich einer Gala-Veranstaltung begegneten? Ich wurde Dir als die neue Freundin Deines Sohnes vorgestellt. Du hast mich mit grosser Herzlichkeit begrüsst und irgendwie kam es mir vor, als ob wir uns bereits seit vielen Jahren kannten. Ich trug ein langes schlichtes nachtblaues Abendkleid, ein dezentes einreihiges Perlencollier mit dazupassenden winzigen Ohrringen unterstrich die Einfachheit meines Outfits. Ich ahnte nicht, dass Du vor allem Wert auf eine klassische unauffälige Elleganz legtest. Ich entsprach also dem perfekten Bild. So stand ich also vor Dir. Du, der Gransegneur und Gastgeber der Veranstaltung kamst auf mich zu und sagtest: „Ich habe mir immer eine Tochter gewünscht. Jetzt ist dieser Wunsch in Erfüllung gegangen.“ Und in diesem Moment war die Sache klar. Ich glaube, ich habe nichts gesagt, aber dabei nur gedacht, so muss es eben sein. Schliesslich war ich eine vaterlose Tochter, eine, die vom Vater übersehen und vergessen wurde, eine die mit einer Sehnsucht im Bauch in die Welt hineinlebte und überall versucht, den Phantomschmerz Vater zu lindern, ohne nachhaltigem Erfolg. Und dann kamst Du und adoptiertest mich auf der Stelle als Deine Tochter. Und plötzlich hatte ich den besten und liebsten Vater auf der ganzen Welt. Darüber hinaus wurdest Du später mein Schwiegervater und somit auch von dieser Seite durchaus legitimiert, Vaterschaft zu leben. 

Und ich genoss es in vollen Zügen. Endlich einen Vater zu haben, der in der Lage war, sowohl die geistige als auch die materielle Welt in meinen damaligen Augen formvollendet zu repräsentieren.  Ich war jung und ich hatte tausend Fragen, die mich bewegten. Wir führten lange Gespräche, im Nachhinden denke ich, es war eine einseitige Angelegenheit , denn ich hörte Dir vor allem zu, ja, eigentlich hörte ich immer zu, ich sprach wenig und ich hatte ja auch nicht so viel zu sagen. Und Du hast es genossen, dass Dir jemand mit grösster Aufmerksamkeit und Bewunderung zuhörte. Im Gegenzug aber nahmst Du mich in meinem Wissendrust ernst und versorgtest mich mit der entsprechenden Lektüre. Ich wurde Deine gelehrige Schülerin, Du führtest mich in die Welt der Philosphie ein. Wir lasen uns gegenseitig Texstellen vor, die uns besonders beeindruckten. Dann hast Du auch kleinere Veranstaltungen organisiert, wo wir Gedichte von Gitarrenklängen begleitet rezitierten. Zudem lachten wir viel, Dein Humor, irgendwie ganz speziell und ausserordentlich geistreich, steckte mich an und oft konnte ich mir nichts Schöneres vorstellen, immer in Deiner Nähe zu sein. Vater und Tochter. Dein Sohn, mein Mann also, hatte nichts gegen diese Innigkeit einzuwenden, im Gegenteil, ihm ging vor allem Kulturelles eher auf die Nerven. Und auch Paula, Deine Frau, also meine Schwiegermama, sah mit Wohlgefallen auf unsere Vertrautheit. Ich liebte sie ebenfalls, mehr noch, ich verehrte sie und sie war mir ebenfalls sehr zugetan. Es hätte immer so weiter gehen können. 

Meine ehelichen Schwierigkeiten begannen unmerklich. Im Nachhinein denke ich, dass ich erste Anzeichen deshalb erfolgreich ingnorierte, weil ich befürchtete, aus meinem Vater-Tochter-Paradies heraus gestossen zu werden. Die Vorstellung einer Trennung von meinem Mann, die zugleich auch eine Distanzierung von Dir zur Folge gehabt hätte, war für mich nicht denkbar. So zog sich der Ehekonflikt in die Länge, verdichtete sich dafür aber immer stärker, bis er irgendwann wie eine Lawine über uns hinwegrollte und die Scheidung unvermeidbar wurde. Ich wollte mit Dir darüber sprechen, aber Du hattest keine Zeit, wolltest Dein Tagesritual nicht mit solch profanem Zeug stören lassen. So habe ich nie mit Dir darüber gesprochen, wäre von Dir in meinem Kummer wohl auch nicht verstanden zu worden. Um ein solches Gespräch zu führen, hättest Du mir zuhören und Dich einfühlen müssen. Aber Empathie war nicht unbedingt Deine Stärke. Eine völlig absurde Situation also. Zudem hätte ich mich einer Sprache bedienen müssen, die ausserhalb Deines Wertekodexes stand. Was wäre geschehen, wenn ich Dir gesagt hätte: „He, Dein Sohn ist das grösste Arschloch, das man sich vorstellen kann, er bumbst mit anderen Weibern herum und spielt den untadeligen Saubermann. Er Sohn ist gerade im Begriff, den Verstand zu verlieren, er interssiert sich nicht mehr für unsere Kinder, ist nicht mehr ansprechbar, irgendwie ist er sich selbst abhanden gekommen und hat nur noch eines im Kopf: Herumvögeln!“ Du hättest mich wohl zurecht gewiesen, hättest mir die Levitten verlesen, wie ich über Deinen Sohn spräche, in dieser vulgären Art, da könne er nicht ernsthaft darauf eintreten. Damit hattest Du eben immer Probleme, wenn man emotional in Wut gerät, wenn der Zorn in einem aufstieg, dann hast Du Dich abgewandt, das war Dir dann zu primitiv. Aber wie hätte ich denn sprechen sollen? Gewählt, druckreif und ohne Schmauchspüren meiner Gefühle? Da hätte ich Deine Hilfe gebraucht. Du wolltest nicht. 

Nachdem Dein Sohn und ich durch die Beziehungshölle geschritten waren teilten wir mit: Wir lassen uns scheiden. Und wieder herrschte Schweigen im Walde. Kein Wörtchen wie etwa, falls Du mich brauchst, ich bin da usw. Einfach nichts. Nur stoisches Schweigen. Und als ich dann geschieden wurde, war ich aus Deinem Leben verschwunden. Die Trennung von meinem Mann war folgerichtig und setzte einen logischen Schlusspunkt. Aber die Trennung von Dir geschah ungerechtfertigt. Ich liebte Dich noch immer. Du warst mir noch immer Vater, wichtigste Person, die mir so viel bedeutete. 

Der Ausschluss war gründlich. Nur zweimal im Jahr meldeste Du Dich bei mir: Zu Weihnachten und zu meinem Geburtstag. Jedesmal schriebst Du mir formvollendet berührende Briefe, schenktest mir grosszügig Geld. Aber ich konnte mich nicht darüber freuen. Ich wollte keine schönenen aber leere Worte, ich wollte keine Geldgeschenke, sondern die Beziehung zu Dir. Und dann tat ich etwas, was für Dich bis zu Deinem Tod kaum verständlich war. Ich schrieb Dir einen Brief und bat Dich, mir zukünftig keine Geschenke und auch keine Briefe mehr zu schreiben. Ich begründete mein Anliegen, ich beschrieb, dass es für mich unerträglich sei, lediglich zweimal im Jahr von Dir ein Lebenszeichen zu erhalten. Als ich den Brief in den Briefkasten warf, donnerte gerade ein Flugzeug über meinem Kopf hinweg. Ich erschrak und dachte: Jetzt werde ich für diesen Ungehorsam bestraft, jemand wirft eine Bombe auf mich. 

Das war dann das vorläufige Ende. Du reagiertest nicht auf meinen Brief. Allmählich ging es mir wieder besser, mehr noch, ich war auf dem Weg zu mir. Im Nachhinein bin ich davon überzeugt, dass ich in Deiner Nähe nie zu mir hätte finden können. 

Nach vielen Jahren sind wir uns zufällig an einem Harfenkonzert wieder begegnet. Wir umarmten uns. Die alte Vertrautheit flammte für einen flüchtigen Moment wieder auf. Nach der Veranstaltung fuhr ich Dich und Deine Begleiterin nach Hause. Und dann sassen wir noch bis in die Morgenstunden zusammen, wir lachten, wie früher, Du sprachst über Deine bevorzugten Themen Philosophie – wie früher, ich erzählte Dir etwas aus meinem Leben, was sich alles ereignet hatte – und ich glaube, Du hörtest mir zu. Du wolltest, dass ich noch etwas länger bliebe. Und ich solle bald wieder kommen. Beim Abschied wusste ich um die Entgültigkeit. Drei Wochen später starbst Du einen friedlichen Tod.

Warum ich Dir das nun alles schreiben wollte, weiss ich auch nicht. Vielleicht wollte ich Dir einfach danken, dass Du mir für einige Jahre ein liebender Vater warst – und ich Deine Dich liebende Tochter sein durfte. 

Deine Lena

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