Lockdown

Zora Debrunner, 30.04.2020

Anita Debrunner
Anita Debrunner

Als vor über einem Monat der Lockdown gestartet wurde, traf es mich unvermittelt und so hart, als würde ich rücklings vom Sattel eines Pferdes geschleudert. Von einem Tag auf den anderen wurde alles, worauf ich die letzten anderthalb Jahre gearbeitet hatte, auf Eis gelegt: Auftritte und Lesungen wurden abgesagt, meine Jagdprüfung im Juni, auf die ich mich so gefreut hatte und auf die ich offenbar alles, sowohl Energie als auch Zeit, ausgerichtet hatte ebenfalls.
Ich fühlte mich schon einige Tage unwohl, reagierte in der Nacht vom 16. auf den 17. März mit hohem Fieber, starker Angst und Husten. Ich hielt Rücksprache mit meiner wirklich tollen Hausärztin, die mich auch sofort zum Covid-Test im Spital anmeldete.

Die Situation im Spital Wattwil erinnerte mich an eine surreale Szene aus dem Film 1984. Ich musste zu einem Hintereingang gehen, wo mich eine Ärztin mit Schutzmaske, Handschuhen und Desinfektionsmittel empfing. Der Covid-Test war sehr schmerzhaft, er wird mit einem Tupfer durch die Nase gemacht. Ich hab geheult vor Schmerzen. Ich konnte mit einem Mal nachempfinden, wie es den Pestkranken im Mittelalter ging. Man wird von einem Moment zum anderen einfach zur unberührbaren Person. Ich hatte Glück; mein Test war negativ. Ich hatte tatsächlich „nur“ eine Grippe.

Ich blieb fast eine Woche „liegen“. Ich schlief sehr viel, schmuste mit der Katze. Es war, als wäre jegliche Energie aus mir entflohen und während dieser Zeit hatte ich zum ersten Mal im Leben einen Eindruck, wie es ist, wenn man depressiv ist.

Ich hatte zur gleichen Zeit Kontakt mit meinen Eltern. Mein Vater ist mittlerweile stark gehbehindert und hat eine leichte Demenz, meine Stiefmutter pflegt ihn sehr engagiert und liebevoll. Ich erfuhr, dass alle Angebote, alle Therapien, die er besuchte, abgesagt waren. Für ihn und sie eine Katastrophe. Mein Vater, der ehemalige Langstreckenläufer, will sich nämlich nicht damit zufriedengeben, dass er älter wird. Er arbeitet hart in der Physiotherapie mit seinem Körper. Für ihn war der Lockdown ein Schlag ins Gesicht.
Ich versuchte telefonisch Hilfe für die beiden zu organisieren, doch sie winkten ab. Sie hatten sich eingerichtet und laut meiner Stiefmutter „leben wir beide seit über einem Jahr in der Selbstisolation.“ Ich sollte mir also keine Sorgen mehr machen. Die beiden machten ihr Ding. Aber ich bemerkte, Familie ist mein wunder Punkt.

Schliesslich ging ich wieder zur Arbeit. Der erste Tag war erschöpfend. Obwohl auf unserer Wohngruppe, wo Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung leben, alles wie immer lief, hielt ich es die ersten Tage kaum aus. Ich war sehr schnell müde, weinte mehrmals auf dem Heimweg im Auto.

Mein Team und ich wuchsen in diesen Wochen mehr zusammen. Kein Wunder, wenn frau ausser dem Freund oder Mann nur noch die Arbeitskolleginnen regelmässig sieht! Wir organisierten uns so, dass jede Frau so Dienst tun konnte, dass sie mit allen Belastungen den eigenen Alltag bewältigen konnte. Die einen sorgten sich um ihre Eltern, Geschwister, Familie im Ausland. Wir Pflegenden sind keine Roboter.

Gleichzeitig souverän Menschen betreuen, die über Wochen keinen direkten Kontakt mehr zu ihren Familien haben können, kostet Kraft. Wir unterstützen alle einander mit guten Gesprächen, gehen füreinander einkaufen. Das Ziel war und ist, dass jede eine Chance hat, körperlich und auch mental gesund zu bleiben. Mir tat es gut, dass ich mich wieder wirksam fühlte. Die Kräfte kamen wieder zurück.

Schliesslich durfte ich mit meinem Jagdgötti ins Revier gehen. Der Wald und meine Jagdkollegen sorgten dafür, dass ich wieder Hoffnung schöpfte. Ich darf nun für ein Jahr im Revier mithelfen und dabei sein und mich so erneut für die Prüfung vorbereiten. Nun kehrten meine Lebensgeister zurück und ich erkannte umso klarer, was mir wichtig ist.

Am Arbeitsplatz wurde die Situation nun schwieriger: Es schien, als brechen bei vielen Betroffenen, den Angehörigen alte Wunden und Ängste auf. Da kamen plötzlich Emotionen an die Oberfläche, die offenbar jahrzehntelang mit viel Energie unter Verschluss gehalten wurden. Meine Mitarbeiterinnen und ich waren nun professionell und menschlich gefragt: Wir führen zahlreiche Gespräche, halten Wut und Trauer und Angst aus. Aber es gibt auch noch andere Erfahrungen. Mehrere Frauen in meinem Umfeld sind schwer an Krebs erkrankt und die aktuelle Situation ist für sie noch schwieriger und bedrückender, besonders wenn sie in die Chemo in ein Spital gehen müssen. Es ist absolut eindrücklich, wie diese Frauen, die mit sich selbst im Reinen sind, die wissen, wo sie stehen im Leben, ihrem Umfeld Kraft schenken, ermutigen, motivieren. Es scheint, dass gerade jetzt Resilienz umso mehr dort auftaucht, wo man sie gar nicht erwartet.  

Für uns Pflegende ist die aktuelle Situation gravierend: Die Verantwortung für die uns anvertrauten Menschen lastet auf uns, wir wissen, wie wichtig es ist, soziale Kontakte zu meiden. Aber auch hier erkennt man ganz leicht, warum wir Pflegenden in diesem Bereich arbeiten: Es ist Empathie, Liebe zu den Mitmenschen und die Fähigkeit, sich selber auch mal aushalten zu können. Das finde ich eine wunderschöne Erfahrung, bei aller Härte der aktuellen Belastung.

Neue Interaktionsformen machen die Runde. Vor über zwei Jahren startete ich „mein“ Projekt, schwerst beeinträchtigte Menschen skypen zu zeigen, damit sie via Bild und Ton Kontakt zu ihren Familien halten können. Anfangs wurde ich belächelt. „Jaja, die Debrunner, dieser Tech-Freak…“, jetzt sind meine Bewohnerinnen und Bewohner praktisch die Vorreiter bei uns im Heim. Meine Mitarbeiterinnen fühlen sich gestärkt, weil sie sich seit Jahren mit dem Knowhow auseinandersetzen konnten. Jetzt sind sie diejenigen, die wissen, wie man die Tablets und Laptop einstellen und bedienen muss. Das macht mich glücklich und dankbar.

Ich bin immer wieder von neuem erstaunt, wie unglaublich anpassungsfähig wir Menschen sind. Wie viel wir aushalten können und wie es möglich ist, dass wir selbst in schwierigen Momenten hoch kreativ werden. Das ist eine unglaubliche Gabe und wir sollten sie häufig(er) nutzen.

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