Loslassen - und was dann?

Meta Zweifel, 04.11.2020

Meta Zweifel
Meta Zweifel

„Media vita in morte sumus“ – mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben: So sangen die Mönche im frühen Mittelalter im Coral. Während Jahrhunderten lebten die Menschen gleichsam mit dem Tod an ihrer Seite. Noch kannte man keine hoch wirksamen Medikamente, und noch gab es keine Hightech-Medizin. Was blieb anderes übrig als demütige Schicksalsergebenheit und unterwürfige Akzeptanz eines höheren Willens? Allerdings liegt mit dem um 1400 entstandenen Schriftstück „Der Ackermann und der Tod“ ein Dokument vor, welches bezeugt, dass schon damals Menschen gegen den Tod rebellierten. Der „Ackermann“ will und kann nicht einfach „loslassen“. Er weint, mit lauten Klagen lehnt er sich gegen den Tod seiner Frau auf. Für ihn ist der Verlust seiner geliebten Gefährtin ein Skandal.

Seele im Schockstarre
Ein freundlicher Samstagabend mit Aussicht auf einen friedlichen Sonntag mit einem Familientreffen am Abend.

Ein Telefonanruf – und alles wird abgrundtief dunkel. Der Sohn, der sich mit guten Freunden getroffen hatte, ist auf der Strasse zusammengebrochen, ist ins Universitätsspital eingeliefert worden, liegt nun auf dem Operationstisch.

Das Entsetzen verwandelt sich in Erstarrung. Warten, warten.

Dann der Anruf: „Mama, er hat es nicht geschafft.“ Aorta-Aneurysma, das Ärzteteam hat 20 Stunden lang operiert, aber es gab keine Rettung.

In 48 Stunden hat sich das Leben verändert. Es wankt in seinen Grundfesten. Was Bestand zu haben schien und das Vertrauen ins Dasein stärkte, liegt in Trümmern. Durch die Seele hallt der uralte Menschheitsschrei „Warum??“. Er erschallt überall, weltweit und in schauerlicher Misstönigkeit.

Wie soll man weiterleben? Wie sich zurechtfinden in der Erbärmlichkeit und Brüchigkeit eines Lebens, dem eine wichtige Stütze weggebrochen ist?

Die Theorie vom loslassen
Zuwendung, Trostversuche, Beileidsbezeugungen aller Art – und nach kurzer Zeit dann die Floskel: „Du bist doch eine starke Frau, du schaffst das. Du musst loslassen. Und dankbar sein für alles, was dir mit diesem Kind, deinem Sohn, geschenkt worden ist und was du mit ihm zusammen hast erleben dürfen.“

Ach ja, alles gut gemeint und alles wahr – auch wenn manche Formulierungen besser zu einem Leben passen würde, das man in Todesanzeigen gerne als „lang und reicherfüllt“ zu bezeichnen pflegt.

Loslassen. Ein Wort, das zu häufig und oft so unbedacht gebraucht wird, dass es ähnlich verschlissen wirkt wie das Wort „Achtsamkeit.“ Was genau soll losgelassen werden? Der Zorn über den unverständlichen Verlust? Das schmerzliche Bedauern, viele Gelegenheiten verpasst, Gutes unterlassen und den geliebten Menschen trotz aller Liebe zu wenig erkannt zu haben? Und wenn Loslassen mit Gottergebenheit zu tun haben sollte – wo lässt sich diese Zuversicht abrufen?

Vom Mystiker Meister Eckart stammt der Satz „Man muss erst lassen können, um gelassen zu sein.“ Sein Lehrsatz bringt zum Ausdruck, dass das Loslassen und Seinlassen nicht verordnet werden kann und nicht in jedem Fall ein geeignetes Therapieziel ist, schon gar kein rasch erreichbares. Es geht hier um einen Prozess, der sehr lange dauern kann. Wenn nicht gar lebenslang.

Unterwegs zu den Ressourcen
Im Gemenge der Trostwort-Kieselsteine findet sich manchmal ein schimmerndes Steinchen, das man aufheben und immer wieder in die Hand nehmen und betrachten kann. Eine solche Kieselstein-Botschaft hiess: „Sei dankbar für Trost und Zuwendung. Aber erwarte nicht, dass dich irgendwer aus der Höhle des Leides herausführen kann. Du musst ganz allein den Weg finden. Besinn dich auf deine Inneren Quellen. Suche deine Ressourcen. Was kannst du gut, was tut dir gut? Was gibt dir Antwort, wenn du mit deiner Seele sprichst?“

Keine Flucht, auch keine oberflächlichen Ablenkungen. Es geht um den Versuch, aus dem Wirrsal von Schmerz, Selbstquälerei, Leid und Selbstmitleid heraus zu finden. Für den einen mag Maltherapie eine Ressource sein, für den anderen ist es die Musik oder ein neues Wissensgebiet, Meditation oder Waldwanderungen. Oder aber aufrichtige und liebevolle Zuwendung zu Mitmenschen. Der englische Schriftsteller John Berger schreibt in einer seiner Erzählungen von einer Frau, die den Tod ihres jungen Sohnes nicht „loslassen“ kann. „Sie klammerte sich dreissig Jahre lang an dieses Leid. Denn es war alles, was ihr von ihrem Sohn geblieben war und woran sie sich klammern konnte.“

Jedoch: Dieses Leid „gab ihr ein Gefühl der Solidarität mit jedem anderen, der litt. Ihr Leid suchte das Leid anderer, so dass sie Seite an Seite stehen konnten.“

Loslassen? Glücklich der Mensch, der sich im Leid nicht selbst loslässt, sondern zu sich selbst und seinen inneren Quellen zurückfindet.

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