Manche Männer werden erst im Krematorium warm

Julia Onken / Mathias Jung, 04.03.2020

Julia Onken und Mathias Jung
Julia Onken und Mathias Jung

Wir haben gelernt, uns zu schützen, indem wir nicht fühlen; was eine schreckliche Gefahr darstellt, denn dadurch werden wir wirklich minderwertige Menschen oder nicht menschlich und sind von einer echten Beziehung zu anderen Menschen so weit wie nur möglich entfernt.
(Anais Nin: Absage an die Verzweiflung) 

Klaus war empört. Fast hätte er die Therapie geschmissen. Ich hatte ihn in der ersten Sitzung ein „emotionales Sparschwein“ genannt. Er sei, so wagte ich zu sagen, gefühlskarg gegen andere und gegen sich selbst. Ob sein Herzinfarkt nicht in Wahrheit ein Seeleninfarkt gewesen sei, eine Art psychosomatischer Retourkutsche?

Was war geschehen? Klaus, ein ungemein tüchtiger Bauingenieur, verheiratet, zwei Kinder, brach mit fünfundvierzig Jahren beim Richtfest eines Neubaus plötzlich zusammen. Ein Krankenwagen brachte ihn unverzüglich ins städtische Krankenhaus. Die Ärzte diagnostizierten Herzinfarkt. Aber nicht nur das. Der Patient habe, so stand es später im medizinischen Bericht, seit Jahren Bluthochdruck, sei übergewichtig, Kettenraucher und „neige zu Alkoholabusus“, wie es so vornehm hieß, das heißt Klaus trank. Als selbstständiger Bauunternehmer sei er angesichts der hartnäckigen wirtschaftlichen Rezession unter ständigem Stress gestanden, „eheliche Unstimmigkeiten“ hätten die Krisenlage verschärft. Tatsächlich unterhielt Klaus in seiner knappest bemessenen Freizeit eine Außenbeziehung mit einer anderen Frau. Klaus war nüchtern und sachlich wie ein Zollstock. Als er zu mir kam, zeigte er keine echte Therapiebereitschaft („Compliance“). Die Therapie stellte vielmehr für ihn nur das kleinere Übel dar. Der Chefarzt, der „Professor“, ein Halbgott in Weiß, vor dem Klaus schweren Respekt hatte, hatte ihm eigentlich den mehrwöchigen Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik ans kranke Herz gelegt. Das wollte Klaus auf keinen Fall. Im schwante Übles. In der Gruppentherapie, so befürchtete er, müsse er eine Seeleninventur seines Lebens vornehmen. Gefühle aber, so betonte Klaus wörtlich mir gegenüber, „fallen nicht in mein Ressort“. Und: „Für Sentimentalitäten habe ich keine Zeit.“

Im Fall Klaus konnte ich das Männersyndrom Gefühlsarmut gleichsam am lebenden Objekt studieren. Der schizoide Mann hasst jegliche Abhängigkeit. Sie erscheint ihm weiblich. Klaus erlaubte sich weder beruflich noch privat irgendeine Form der Abhängigkeit. Seine Frau Gabriele (beide Namen, wie alle folgenden, geändert) hatte ihn seit Jahren gebeten, einen Kompagnon und Partner in sein Bauunternehmen zu koopieren, um die immense Arbeitslast und Verantwortung auf zwei Schultern zu verteilen. Das erlaubte sich Klaus nicht. Wie viele Männer zog er es vor, als einsamer Steppenwolf durch die Geschäftswelt zu schnüren. Gabriele war es auch, die Klaus auf seine immer wieder auftretende depressive Verstimmtheit, seinen überhöhten Alkoholkonsum und seine zwei Schachteln Zigaretten pro Tag ansprach. Auch schlug sie vor, die schwächelnde Sexualität zwischen ihnen zum Gegenstand einer Paarberatung zu machen. Das war alles umsonst, denn was ein echter Mann ist wie Klaus, der negiert nicht nur die Gefühle der Abhängigkeit, sondern weigert sich auch, um Hilfe zu bitten, seine Angst zu zeigen und sein Innerstes zu öffnen. Er glaubte vielmehr, mit den Drogen Arbeitssucht, Alkohol, Nikotin und Sexsucht seelisch zu überwintern. Denn auch mit der Freundin wagte er keine emotionale Tiefe, sondern praktizierte Sex pur. Er nötigte sie, mit ihm Pornokassetten anzuschauen. Er besuchte sie grundsätzlich nur, um Sex mit ihr zu haben. Als die Geliebte das erkannte und ihn nach drei Jahren rausschmiss, beschleunigte das seinen Herzinfarkt. Dieser war natürlich durch seine Fehlernährung, die daraus resultierende Adipositas, den Alkohol und Nikotinmissbrauch ursächlich veranlasst. Klaus ging mit sich selbst über Jahre hinweg physisch und psychisch barbarisch um, frei nach dem Aphorismus des Polen Stanislav Jerzy Lec: „Die meisten Menschen sind Mörder. Sie töten einen Menschen. In sich selber.“

Als ich Klaus fragte: „Wann hast du zum letzten Mal geweint“, antwortete er nach langem Nachdenken zögernd: „als Kind“. Große Jungen weinen nicht, Männer erst recht nicht. Weinen ist für Männer meist gleichlautend mit „sich nicht beherrschen“. Dagegen sagt Goethe: „Lasst mich weinen! Das ist keine Schande. Weinende Männer sind gut.“ (West-östlicher Diwan). Und, im Tasso: „Die Träne hat uns die Natur verliehen,/den Schrei des Schmerzes, wenn der Mann zuletzt/ es nicht mehr trägt.“

Trotz schweren inneren Widerstandes ließ sich Klaus auf die Einzeltherapie bei mir ein. Ich mochte ihn, weil er in der Tiefe seines Herzens ein einsamer und tapferer Junge war. Er fasste Vertrauen zu mir. Er genoss mich vorübergehend als den „guten Vater“, den er nie gehabt hatte. Sein Vater war ein gefühlskalter, leistungsbesessener Antreiber gewesen, der Klaus beim geringsten Vergehen schlug. Jetzt lernte Klaus die Nähe zu mir, einem Mann, auszuhalten, ja zu genießen. Er erlernte die Umarmung zwischen Männern. Er begann über das Leiden und die Einsamkeit des kleinen Klaus zu weinen, ohne sich vor mir zu schämen.

„Manche Männer werden erst im Krematorium warm“, sagt ein feministisches Sprichwort sarkastisch. Aber ist es so ganz unwahr? Als Klaus nach der Beendigung seiner Einzeltherapie mit Gabriele in die Paartherapie zu mir kam, wurde ihm seine kommunikative Gefühlsarmut richtig deutlich. Gabriele sagte ihm: „Du bist meistens unseren Konflikten ausgewichen. Du hast geschwiegen. Du hast alles in dich hineingefressen, den Stress im Beruf, den Stress mit mir, den Stress mit den Kindern. Das meine ich wörtlich. Als ich dich kennenlernte, wogst du achtzig Kilo, jetzt bringst du einhundertzehn Kilo auf die Waage. Wenn du geredet hast, hast du einen Schwall von Worten losgelassen, ohne jegliche innere gefühlsmäßige Beteiligung. Du hast doziert. Du hast mir und den Kindern nie richtig zugehört. Noch schlimmer: Du hast seit Jahren keine Fragen mehr gestellt. Du hast selbst dann keine Fragen gestellt, als ich mich dir sexuell verweigerte, weil ich deine Lieblosigkeit nicht mehr ertrug. Als ich dich fragte, ob du eine Freundin hättest, bist du einfach nur wütend geworden und hast alles abgestritten. Dabei habe ich dich nicht inquisitorisch gefragt, sondern ich wollte Klarheit. Über deine Trauer über die Sinnlosigkeit deines täglichen Stresses sprachst du nicht. Du hast alles verdrängt. Sei mir nicht böse, aber manchmal bin ich froh über deinen Infarkt. Er hat dich endlich zum Sprechen und hierher in die Paartherapie gebracht. Aber musste es wirklich so weit kommen?“

Gefühle, Fragen stellen, sich offenbaren, Tränen und Trauer zuzulassen – das alles ist anstrengend. Es bedeutet Liebesarbeit. Sie ist zu lernen, auch für Männer. Ich kann in diesem Zusammenhang das Geschwätz nicht mehr hören, dass die Männer vom Mars und die Frauen von der Venus kommen, dass Männer eben sachbezogen und die Frauen naturgemäß gefühlshaft seien. Natürlich ist Anatomie Schicksal. Natürlich verstärkt die weibliche Gebär- und Stillfähigkeit die fürsorglichen und emotionalen Potenzen der Frau. Aber jeder Mann weiß doch, dass er in der Lage ist, ein wahres emotionales, gestisches und sprachliches Feuerwerk zu entfalten, wenn es um die Eroberung einer begehrenswerten Frau geht. Da können Männer verbal sprudeln wie ein Wasserfall. Sie können sanft sein, tausend Fragen stellen und ganze Nächte reden.

Aber die Sprache und das Sprechen sind Herrschaftsinstrumente. Wer herrscht, der zeigt dem Untergebenen keine Gefühle und hält sich sprachlich knapp. Herrschaftsmänner sind im gewissen Sinne soziale Idioten (altgr.: idios, eigen, in sich verschränkt), weil sie nicht zuhören können. Ein Mann, der zuhören gelernt hat, achtet auf Gestik, Gesprächsduktus und Stimmmodulation. Das ist eine weibliche, dienende Qualität. Männliche Journalisten und Therapeuten müssen sie sich deshalb meist professionell aneignen.

Klaus hatte sich auf dem Bau wie in der Familie eine schneidende männliche Befehlssprache angewöhnt. Wer wissen will, was das ist, der lese von Luise F. Pusch Das Deutsche als Männersprache oder von Senta Trömel-Plötz Gewalt durch Sprache: Die Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen. Gabriele meinte zu Klaus: „Du blickst mich kaum an, wenn du mit mir sprichst. Meistens kommen deine Kommandos an mich und die Kinder, wenn du vor dem Fernseher sitzt oder hinter der Zeitung. Dein Tonfall dabei ist hart und konzessionslos.“

Der amerikanische Therapeut Herb Goldberg diagnostizierte in seinem Buch Der verunsicherte Mann (Reinbek bei Hamburg 1979): „Das Verhalten vieler heutiger Männer ist in mancher Beziehung den Verhaltensmustern autistischer Kinder analog. Bei solchen Kindern besteht eine extreme Abwehrhaltung gegen menschlichen Kontakt, während sie gleichzeitig von unbelebten Objekten fasziniert und ganz auf sie fixiert sind. Eine andere Person zu berühren, eigene Gefühle auszudrücken, überhaupt jede Beziehung zu anderen wird als traumatisch erfahren und möglichst gemieden. Der heutige Mann ist so in seiner Autowelt eingekapselt, dass er oft mehr emotionale Kraft für seinen Wagen aufbringt als für irgendeinen Menschen. … Welches sind denn die geknebelten Emotionen, Impulse und Bedürfnisse des Mannes? Die Antwort, so glaube ich, ist: mehr oder weniger alle.“

Schweigen ist die grausamste Lüge der Männer. Daran zerbrechen viele Ehen. Die Mehrheit der Paarkonflikte beruht nicht auf prinzipieller Unverträglichkeit der Partner, sondern auf dem Verlust des tiefen Gespräches zwischen ihnen. Statt miteinander zu sprechen, stülpen sie sich gegenseitig ihre Projektionen über: „Du liebst mich nicht. Du bis so gleichgültig. Du bist so egoistisch.“ „Wer miteinander spricht“, so bekannte Willy Brand einmal bei seinen Friedensgesprächen mit dem Osten, „der schießt nicht aufeinander“.

 

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