Meta Zweifel , 29.05.2020
Keine Frage: Demokratie braucht Diskussion, braucht freie Meinungsäusserung, braucht die Gegenüberstellung von unterschiedlichen Standpunkten. Oft empfängt das demokratische Gemeinwesen wertvolle Inspirationen von Menschen, die sich nicht auf ausgetretenen geistigen Trampelpfaden bewegen, sondern sich neue Denkweisen gestatten.
Selbst in der Corona-Krise ist die Gesellschaft auf widerständige Menschen angewiesen, die nicht gleich alles für wahr halten, was man ihnen an sogenannten Fakten und Einschätzungen vorsetzt. Leider haben aber auch viele selbsternannte Querdenker Hochsaison. Sie wissen alles und alles besser. Sie halten Rückschau und erklären, was alles hätte anders gemacht oder rascher verordnet werden müssen, oder was besser gar nicht erst veranlasst worden wäre. Diese "Hätte-hätte-Fahrradkette"-Theoretiker beschränken sich häufig nicht auf eine Analyse. Abgesehen davon, dass diese Leute meist keine Lösungen oder Perspektiven anzubieten haben, so kochen sie nicht selten Ängste hoch. Oder sie schaffen Verunsicherung, die wiederum der Nährboden ist für abstruse Verschwörungstheorien. Manche greifen tief in ihre gut gefüllte Wortschatz-Kiste und provozieren so Angst-Szenarien. Wenn beispielsweise die in München lebende, renommierte Politikwissenschaftlerin Regula Stämpfli schreibt, selbst die Schweizer Demokratie habe " widerstandslos und über Nacht tausende von Existenzen ins Unglück stürzen können ", hat diese Dramatik möglicherweise einen negativen und lähmenden Effekt. Niemand wird bestreiten, dass das behördliche Krisenmanagement ein Räderwerk von schwerwiegenden wirtschaftlichen Konsequenzen in Gangs gebracht hat. Den Spielregeln des " Hätte-hätte-Fahrradkette"-System folgend müsste nun aber auch erwogen werden, was alles hätte geschehen können, wenn die Behörden weniger restriktiv gehandelt hätten.
Der Philosoph Sokrates soll gesagt haben:
"Der Kluge lernt aus allem und vom jedem, der Normale aus seinen
Erfahrungen und der Dumme weiss alles besser." In den nächsten Monaten
und Jahren wird sich zeigen, wer was und wie viel aus dem ganzen Krisengeschehen gelernt hat, und welche Erfahrungen vielleicht sogar
nützliche und notwendige Veränderungen und Entwicklungen antreiben. Die Profi-Besserwisser bringen uns auf jeden Fall
keinen Schritt weiter.
Randbemerkung zum "Hätte-hätte-Fahrradkette"-System:
Nicht selten macht es sich auch breit, wenn man über den Verlauf des eigenen Lebens nachdenkt. Was hätte man doch alles anders, besser, mit grösserer Souveränität, mit mehr Mut und Anstand oder mit mehr Fleiss und Konsequenz gestalten, bewältigen und erledigen wollen... So wenig befriedigend dies auch sein mag: Manches muss man sich selbst verzeihen. Man hat mit dem Wissens- und Erfahrungsstand von damals Fehler begangen, die sich vielleicht sogar heute noch auswirken.
Jetzt kann man nur noch hoffen, dass man in der Lage ist, aus allem und von jedem zu lernen und sich selbst einigermassen zu vervollständigen.