Sie leidet und duldet

Petra Lienhard, 28.04.2019

Petra Lienhard
Petra Lienhard

Für mich ist es sehr schwierig die Beziehung zwischen mir und meiner Mutter zu beschreiben. Ich brauchte 10 Jahre, um mich mit ihrem für mich viel zu frühen Tod, sie wurde nur 62 Jahre alt, abzufinden. Als junge Frau stellte ich sie auf ein Podest und war davon überzeugt: Sie leidet und duldet! Die Opferrolle war ihr auf den Leib geschrieben. Sie zelebrierte ihre Rolle meisterhaft, denn so wurde für mich der Vater zum Täter. Später, als Ehefrau und Mutter, begann ich das langsam zu hinterfragen. Wieso eigentlich? Doch sie war nie bereit mit mir über die Geschehnisse vor und während ihrer Ehe zu reden. Ich bin überzeugt, sie hatte viel Trauriges erleben und auch erfahren müssen. Aber erzählen, nein, das kam für meine Mama nicht in Frage. Ich weiss nur Bruchstücke aus ihrem Leben und es gibt sehr wenige Fotos, die ich retten konnte. Alle anderen hatte sie vor ihrem Tod verbrannt.

Mein Vater, ihre grosse Liebe, hatte sie verlassen! Ohne Vorwarnung! Warum? Ich habe bis heute keine Ahnung was vorgefallen war. Um sich den Ehemann wieder zurück zu holen, setzte sie mich schon als als dreijährige für ihre Zwecke ein. Das weiss ich heute! Sie wusste ganz genau, dass ich Vati sehr viel bedeutete. Doch nichts brachte den untreuen Ehemann zurück. Sie klagte: Ich liebe ihn doch! Warum hat er sich eine andere gesucht? Damals war dies für mich natürlich genau so unverständlich, wie für meine Mutter. Denn Mama war bildschön, sie hatte Charme, war warmherzig, stets sehr adrett gekleidet und ihm, wie es sich damals gehörte, auch untertan. Sie liess sich von meinem Vater verprügeln und war trotzdem darauf bedacht ihm keinen Schaden zuzufügen. Ehrlich gesagt: Ich verstand die Welt nicht mehr. Warum um alles in der Welt wollte sie so einen Mann zurück haben?

Die Vermittlerrolle, Mutter und Vater wieder zusammenzubringen, war sehr anstrengend. Nach meiner Ausbildung brauchte ich unbedingt geografischen Abstand. Ich entschloss mich für die Schweiz und verliess Deutschland. Damit lag auch eine Landesgrenze zwischen uns. Diese Abnabelung brachte endlich Ruhe und Ordnung in mein Leben. Meinen Rucksack, gefüllt mit Schlichtungsversuchen zwischen den Eltern, konnte ich endlich beiseite legen. Ausserdem entschied ich mich für Funkstille zwischen Mutter und Tochter. Das gab jedem die Gelegenheit über unsere Beziehung nachzudenken.

Ich blieb nicht lange allein. Ein junger Mann trat in mein Leben. Das Aufgebot wurde bestellt. Mein Glück war perfekt. Ich hatte nur einen Wunsch, dieses Glück mit meiner Mama zu teilen. Und tatsächlich ging mein Herzenswunsch in Erfüllung. Ihr frisch gebackener Schwiegersohn umgarnte sie mit seinem Humor und seiner Unbeschwertheit.

Unser erster Sohn wurde geboren. Meine Mutter blühte auf: „Endlich Oma!“ dabei lachte sie aus vollem Herzen. Wir beide waren uns noch nie so nah. Heute bin ich dankbar für diese sehr intensive fröhliche Zeit. Eine kurze Arztvisite, nur um zu wissen, ob bei ihr alles OK war, bescherte uns die Diagnose Krebs. Meine Mutter starb innerhalb eines Jahres.

Es schmerzt mich immer noch sehr, nichts Persönliches über Mama und der ganzen Familie zu wissen. Ich bin das Schlusslicht aus unserem Clan und kann niemanden mehr Fragen. Doch an die letzte gemeinsame Zeit denke ich mit sehr viel Liebe zurück.

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