Trauer

Renate Schwertel, 28.04.2023

Renate Schwertel
Renate Schwertel

Trauer

Mein Sohn Kenny kam gesund zur Welt, im Alter von 5 Monaten wurde er krank. Nach und nach wurde mir klar, dass seine Entwicklung deutlich hinter der Gleichaltriger zurückblieb. Mein Sohn lernte sitzen, aber nicht krabbeln, er lernte stehen, aber nicht laufen. Er konnte auf seinen Knien nach vorne hüpfen und sich so aus eigener Kraft im Raum bewegen. Im Laufe der Jahre hat er jedoch alles wieder verlernt.Die nicht beherrschbaren epileptischen Anfälle haben alles Gelernte wieder gelöscht, wie ein nasser Schwamm auf einer beschriebenen Tafel.

Erst war die Hoffnung da, die Behinderung könnte leicht ausfallen. Vielleicht wird er keinen Schulabschluss machen aber doch lesen und schreiben lernen. Vielleicht wird er keinen Sport treiben können, aber doch gewiss laufen lernen. Erst so nach und nach haben sich die Hoffnungen eine nach der anderen aus dem Staub gemacht. In kleinen Portionen wurde ich mit den Tatsachen konfrontiert, dass Kenny ein schwerst mehrfach behindertes Kind ist und auch bleiben wird.

Diese Erkenntnis hatte mehrere Jahre Zeit, sich so nach und nach einzuschleichen. Ich weiß nicht, ob es einfacher ist, dieses Wissen in seiner ganzen Tragweite auf einmal schlucken zu müssen, zum Beispiel bei der Geburt eines offensichtlich behinderten Kindes oder ob die jahrelangen Veränderungen, Verschlechterungen mir gnädig immer nur so viel zugemutet haben, wie ich aktuell verkraften konnte. Irgendwann habe ich selbst die letzten tapfer ausharrenden Hoffnungen auf eine weniger schwere Behinderung und auf ein relativ eigenständiges Leben weggeschickt. Ich konnte es nicht mehr ertragen, wie sich Hoffnungen in mein Leben eingenistet haben, nur um dann geschlagen davon zu schleichen.

Dieser Prozess war für mich mit großer Trauer verbunden. Ich verlor etwas, ich musste etwas aufgeben, ich musste mich von etwas trennen. Mein gesundes Kind verabschiedete sich von mir, meine Vorstellungen von einem gesunden Kind lösten sich auf. Ich musste mich von dem gesunden Kind verabschieden und das kranke und behinderte Kind annehmen und willkommen heißen.

Am Anfang war ich verwirrt über diese Gefühle der Trauer und des Verlustes und habe sie als unangemessen empfunden. Dieser Weg des Abschieds wurde von meinem schlechten Gewissen begleitet. Mein Kind war schließlich nicht gestorben, nur meine Vorstellungen, nur meine Hoffnungen. Mein Sohn war und ist nur ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte.

Heute trauere ich nicht mehr um den Verlust, heute trauere ich darum, dass mein Kind die Fülle der Möglichkeiten, die das Leben uns Gesunden schenkt, nicht auskosten kann.

Er kann nicht mehr essen, das Schlucken funktioniert nicht mehr richtig und er wird über eine Magensonde ernährt. Der Genuss des Essens, das Schmecken von Nahrung, die unglaubliche Fülle an Geschmackserlebnissen stehen ihm nicht mehr offen. Er kann sich nicht aus eigener Kraft bewegen, im Bett nicht umdrehen, seine Lage im Rollstuhl nicht selbst verändern. Er hat keine Worte, kann nicht sprechen. Wenn wir mit ihm reden, versteht er die Stimmung, die Atmosphäre, aber nicht die Bedeutung der Sprache.

Die Trauer ist immer in der Nähe, nicht durchgehend präsent aber doch im Hintergrund immer spürbar und lauernd. Sie wartet auf verzagte Zeiten, um dann hervorzukriechen.

Ich kämpfe nicht mehr dagegen an, da ich in meinem Leben die Erfahrung gemacht habe, dass der Kampf gegen die Gefühle, die ich gerne loswerden möchte, diese nur immer weiter verstärkt.

Gott sei Dank hat die Trauer einen natürlichen Feind. Das ist der Zorn. Und so anhänglich und klettenhaft die Trauer auch sein will, so sehr sie auch versucht, sich in meinem Leben gemütlich einzurichten, der Zorn kommt in kurzen heftigen Stößen daher, ruft die Trauer zur Ordnung und verhindert erfolgreich, dass sie die Macht übernimmt. Dieser Zorn findet kein Ziel, keinen „Schuldigen“ und so schnell und aufbrausend er wie ein Blitz einschlägt, so schnell macht er sich auch wieder davon, mit der erschöpften Trauer im Schlepptau.

Ich kann die Krankheit und Behinderung meines Sohnes nicht ändern, ich kann sie nur akzeptieren und das ist wirklich eine Herausforderung. Seine Lebensumstände kann ich beeinflussen, seine Pflege und Therapien gestalten. Der Trauer und dem Zorn kann kann ich etwas zur Seite stellen und nach den schönen Aspekten des Lebens Ausschau halten, es trotz allem genießen, Freundschaften pflegen, Musik hören, mir selbst eine Freundin sein und damit mein inneres Kraftflämmchen immer wieder nähren, Energie sammeln und einen Teil davon an meinen Sohn Kenny weitergeben.

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