Vogelfrei | Elisabeth Scarpatetti

Elisabeth Scarpatetti, 30.12.2021

Elisabeth Scarpatetti
Elisabeth Scarpatetti

Mit einem Mal wusste sie, was zu tun war. 

Mit einem Satz war sie aus dem Bett und hatte ihren braunen Koffer unter dem Kasten hervorgezogen. Schon wenige Minuten später stand dieser gepackt vor ihr. Ein letztes Mal an diesem späten Abend betrachtete sie prüfend ihr blasses Gesicht im Spiegel und ärgerte sich über die dunklen Ringe, die sich tief unter die braunen Augen eingegraben hatten. 

Dann war sie auch schon auf der Straße und der kalte Winterwind blies ihr etwas Farbe auf die Wangen. Sie schaffte es, sich nicht ein einziges Mal umzudrehen, als sie die baumgesäumte Allee entlanglief. Einsam hallten ihre Schritte auf dem Asphalt. Tief zog sie sich die Kapuze ihrer Winterjacke ins Gesicht und hoffte inständig, dem Nachbarn nicht zu begegnen. Mehr denn je fürchtete sie seine Neugier und hätte auch nicht gewusst, was antworten auf seine Fragen.

Und obwohl sie auf dem kurzen Weg zum Bahnhof niemandem aus dem Dorf begegnet war, fühlte sie sich erst besser, als sie endlich im kleinen Regionalzug saß, zusammengekauert in ihrem Sitz, ungeduldig die Abfahrt herbeisehnend. Endlich das erlösende Ruckeln, der Zug setzte sich in Bewegung. Sie spürte, wie ihr Atem ruhiger wurde und das Zittern nachließ. Müde schloss sie die Augen. 

Was würde Leo wohl den Kindern erzählen, wenn sie alle nach dem Training heimkamen und ihre Mutter nicht wie gewohnt im Wohnzimmer vorfanden? Und wann würde er begreifen, dass sie dieses Mal wirklich losgefahren war, ohne rechtzeitige Ankündigung? Diese Mal ohne Wenn und Aber. Ohne kübelweise Vorgekochtes am Herd und im Kühlschrank und ohne die zahllosen farbigen Spickzettel, üblicherweise am Kühlschrank angebracht, mit Anweisungen, Terminen und Erinnerungshilfen für Leo und die Kinder.

Sie fühlte sich ausgebrannt, leer, seit Wochen schon. Hatte das Gefühl, aufgerieben zu werden von all den Verpflichtungen und Aufgaben, die hartnäckig an ihr klebten, seit Jahren, seit der Geburt des ersten Kindes. Wann hatte sie aufgehört, das Leben zu genießen, fröhlich und ausgelassen zu sein, auch mal etwas Verrücktes zu tun? Wann hatte sie stattdessen angefangen, zu funktionieren, verlässlich und präzise, wie ein Schweizer Uhrwerk?

Darüber wollte sie nun nicht mehr nachdenken, nicht mehr heute. Jetzt fuhr sie weg. Nur für ein paar Tage. Allein sein. Loslassen. Durchatmen. Mal wieder frei sein. Frei. Frei wie ein Vogel. Vogelfrei.

Bevor sie in den nächsten Zug einstieg, den schnelleren, größeren, wusste sie längst, wohin sie wollte. Der Vogel hatte es ihr eingegeben. Das seltsame schwarze storchenähnliche Tier mit dem langen, dünnen gebogenen Schnabel, das im Herbst urplötzlich auf der kahlen Birke vor ihrem Haus gelandet war. Und dort mindestens zehn Nächte einsam verbracht hatte. 

Ganz oben auf der Baumspitze, sich putzend und die abstehenden Federn fleißig mit dem dünnen Schnabel säubernd. Nein, schön war er nicht gewesen, der gefiederte Geselle. Interessant allemal. Er hatte es sofort geschafft, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Jeden Abend stand sie viele
Minuten bange am Zimmerfenster, die Ankunft des Vogels erwartend. Und jedes Mal fürchtete sie von neuem, er könne am Ende des Tages nicht wiederkommen, sondern längst weitergeflogen sein, weiter zu einem anderen Schlafplatz. 

So frei und ungebunden, wie er war. Er leistete ihr Gesellschaft, wenn sie abends allein daheim war und auf das Ende des Trainings und das Heimkommen Leos und der Kinder wartete. Er brachte sie zum Lachen, wenn er seinen Kopf keck in ihre Richtung streckte, so als wusste er um sein Publikum hinter der Fenstergardine. Ein paar Mal war sie anfangs in den Garten gelaufen, hatte sich bemüht, den Vogel mit Getschilpte und Gepfeife vom Baum zu locken, hatte Vogelfutter bereitgestellt und sogar Regenwürmer ausgegraben, ohne zu wissen, was so ein Rappe eigentlich fraß. Dann hatte sie Derartiges aufgegeben und hatte sich auf das Beobachten beschränkt. Der Vogel war in all der Zeit ihr gutgehütetes Geheimnis geblieben, seine Anwesenheit hatte sie eifersüchtig vor Familie und Nachbarn verschwiegen.

Sie wusste, eines Tages würde er verschwinden, so plötzlich, wie er aufgetaucht war. Und er würde sie zurücklassen mit einem Gefühl von Wehmut und Verlassenheit.

Über das Internet hatte sie längst herausgefunden, dass der Vogel eine ausgewilderte Waldrappe war. Aufgezogen von Menschenhand, irgendwo am Bodensee. Da er einen Peilsender am Fuß trug, war es nicht schwer, den Namen des Gefiederten herauszufinden, ja sogar seine Flugroute konnte sie über eine Handy- App verfolgen. Und so wusste sie längst um das Winterquartier des Zugvogels, den sie seit dem Herbst schmerzlich vermisste.

Die kleine Lagunenstadt in der südlichen Toskana erklärte sie jetzt zum Ziel ihrer seltsamen Reise. Sie hatte beschlossen, den großen schwarzen Vogel zu besuchen. Um zu sehen, wie es ihm ging. Um herauszufinden, wohin er floh vor den grauen Wintern. Um sich frei zu fühlen, ungebunden. So wie der Vogel. Vogelfrei.

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