Wandelgeister, Schattengewächse, Schlafverhinderte.

Simone Buser, 27.05.2019

Simone Buser
Simone Buser

Die Kirchenglocke schlägt plötzlich nur noch einmal. Ich schleiche durch die Räume. Ein Licht nach dem anderen erlöscht draussen vor meinem Fenster. Direkt gegenüber zeichnet sich ein Schatten hinter einer noch erhellten Scheibe ab. Ich rücke mein Rückgrat zurecht und hoffe inbrünstig, dass die Gestalt keine klareren Konturen annimmt, unsere Privatsphären nicht auch nur für einen Augenblick ineinanderfliessen und wir uns plötzlich, ungewollt und unvorbereitet gegenüberstehen. Zwar von der Nacht umhüllt, aber nicht an einem trainierten Bizeps oder weichen Busen friedlich schlummernd, sondern entlarvt als nachbarschaftliche Wandelgeister, Schattengewächse und Schlafverhinderte.

Drangsaliert von eingebildeten Bettwanzen, nerventötenden Schnarchgeräuschen, Rückenplagen, Kontostand und Verstrickungen im Beziehungsdickicht erscheint ihnen am Morgen danach jede Parkbank als paradiesische Insel. Ihr Kopf ist oft beduselt von all den farbigen, kleinen runden und viereckigen, zusammengestampften Pülverchen, deren Wirkung sich in der Gewöhnung schon längst ausgeschliffen hat. Nein, mich mit ihnen zu solidarisieren, liegt mir ferner als der Bärenschlaf, der mir als junge Frau noch vergönnt war, bevor schreiende, entzückende kleine Nervensägen die Nächte in Scheiben schnitten und die Hormone in den Keller sausten. Achtung: Das Wachliegevirus ist oft weiblich, ansteckend, weist neurotische Züge auf und setzt sich leicht im Unterbewusstsein fest.

Wenn die Dunkelheit mich nicht verschluckt, die Träume nur als Schäume im nächtlichen Entspannungsbad hängen bleiben, lulle ich mich selber ein, entfalte eine Gelassenheit von ganz besonderer Güte, genährt vom Bewusstsein, dass ich lebe, egal zu welcher Stunde. Kurz nach dem zweiten Schlag beisse ich selbstvergessen in ein dick mit Butter beschmiertes Honigbrot, kredenze einen würzigen Baldriantee dazu. Ein Festmahl, nur nachts erlaubt, ein köstliches Kalorienplus für unfreiwillige Eulenvögel. Früher habe ich mich in den Bettlacken hin und her gewälzt, alle paar Minuten panisch auf den Wecker geschielt, die Zahlen hypnotisiert, Verflossene aufgelistet und sie idealisiert oder verbannt, den Beruf gewechselt, Mann, Kinder und Mutter samt Schwiegermutter ins Pfefferland gewünscht. Die verbleibende Lebensspanne ausgerechnet, im Zeitraffer all die vertanen Chancen durch den Fleischwolf gedreht, Wunden geleckt und Dämonen heraufbeschwört.

Zum Glück ist das vorbei, ein bisschen Altersweisheit wohl. Die Aussenhülle nicht mehr in der Vollblüte, dafür mit fest in der Scholle verankertem Stamm und hochaufschiessenden Ästen, vertrau ich auf die in mir angelegte evolutionsbiologische Konditionierung. Dieser Film wird wohl auch noch auf einer älteren Rolle abgespult. Wäre ich eine Urzeitfrau, würde der Stein jetzt vor die Höhle gerollt, also ab unter die Decke, Augenbinde über den Kopf. Das Surren meines kleinen Ventilators ganz hinten in der Zimmerecke simuliert das Knistern des Feuers. Abgeschottet, mit gesättigtem Bauch und fellig weich eingebettet trägt die Lesestimme meines Hörbuches mich in fremde Länder und in die Köpfe von Menschen anderer Kulturen.

Das Sechsuhrgeläut vermischt sich mit der vollkehligen Stimme einer Amsel, deren Gesang mich sogleich mit der Welt versöhnt. Sie jubiliert herzerweichend in mein wohliges Dösen, bis ein ätzender Digitalton jäh ihr Lied zerreisst. Taghell, nachtschwarz, das Dämmerlicht dazwischen, fliesst das Werden und Vergehen in wundersamer Symphonie ineinander. In meinem Mikrokosmos manchmal aus dem Takt und doch immer in vollendeter Harmonie.

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