Wenn eine Saite springt

Meta Zweifel, 27.05.2021

Meta Zweifel
Meta Zweifel

Die Dorfkirche war voll besetzt, viele Leute wollten am Abschiedsgottesdienst für Amanda Lauber (Name geändert) teilnehmen. Als der Pfarrer die Ansprache von Lukas, Amandas einzigem Sohn, ankündigte, erhöhte sich die allgemeine Aufmerksamkeit. Wie würde Lukas das Wesen seiner Mutter und die Ehe seiner Eltern schildern? Amanda und ihr schon vor Jahren verstorbener Mann galten als Inbegriff eines ewig glücklichen, alterslosen Liebespaares.

Auf dem Weg zum Tram Richtung Stadt oder auch beim Einkauf gingen die beiden immer eng beisammen Arm in Arm oder mit einem Arm um die Hüfte des Partners geschlungen. Sie nannten sich «Mein Liebster» und «Du meine Liebste» - und Amandas Mann Max versäumte es nie, ihr am Samstag einen Strauss Blumen vom Markt mitzubringen –wirklich sehr beneidenswert. 

In seiner Ansprache erinnerte Lukas an die künstlerische Begabung seiner Mutter und kam schliesslich auch auf die innige Verbindung seiner Eltern zu sprechen. «Meine Eltern waren aber zwei eigenständige und ausgeprägte Persönlichkeiten. Es gab auch Auseinandersetzungen und heftige Diskussionen. Erreichte die Diskussion einen gefährlichen Höhepunkt, pflegte mein Vater im Hausflur nach seinem Hut zu greifen und spazieren zu gehen», erklärte Lukas. Um dann nach einer Kunstpause hinzuzufügen: «Und mein Vater ging sehr häufig spazieren». 

Ein amüsiertes Raunen ging durch den Kirchenraum, auf vielen Gesichtern leuchtete ein Lächeln auf. Ach so! - auch diese Ehe hatte Ecken und Kanten gehabt, auch diese Verbindung war nicht immer und unentwegt das pure Glück gewesen.

Dieses Paar musste vermutlich keinen Seitensprung verkraften, aber lernen, mit gelegentlichen, die Harmonie störenden Saiten-Sprüngen umzugehen. Das zärtliche Miteinander war nicht bloss Show, sondern wohl der ständige Versuch gewesen, aus der Ehe eine Art Kunstwerk zu machen.

Wenn eine «Saite springt»

Erschrickt ein Pferd, weil ein ihm unbekannter Gegenstand auf dem Weg liegt, fällt es aus dem Trott und macht einen Seitensprung. Spricht man von «Seitensprung» in einer Paarbeziehung, runzelt das moralische Empfinden die Stirn und schnellen Augenbrauen empört in die Höhe. Ohne auf das mächtige Thema Schuld, Treue und die breite Palette von Schuldzuweisungen eingehen zu wollen: Wäre es nicht sehr oft sinnvoll und zielführend, über die Auswirkungen von Saiten-Sprüngen nachzudenken? Springt bei einem Streichinstrument eine Saite, ist der Klang gestört, die Harmonie gefährdet. Ein Bild, das sich durchaus auf die Beziehungsebene übertragen lässt.

Eine 75-jährige Frau gibt in einem vertraulichen Gespräch Episoden aus ihrem Leben preis. «So lang ist das her – aber seltsamerweise erinnere ich mich noch ganz intensiv daran, wie mein Mann und ich vor dem Schreibtisch des Professors für Gynäkologie sassen. Er musste uns eröffnen, dass mein Mann zeugungsunfähig sei und erläuterte uns die medizinischen Fakten. In der Folge eröffnete er uns, dass da immerhin die Möglichkeit einer Fremdinsemination bestünde – er erwähnte eine Methode, die damals, vor vielen Jahrzehnten, noch sehr fremd und ungewöhnlich war». 

Nachdem das Paar das Spital-Gebäude verlassen hatte und wie zwei Schiffbrüchige auf der Strasse stand, sagte der Mann, was der Professor da erwähnt habe, komme überhaupt nicht in Frage. Die alte Frau erinnert sich: «Später habe ich schon verstanden, dass er total enttäuscht, niedergeschlagen und nicht in der Lage war, die richtigen Worte zu finden. Aber ich war tief verletzt, fühlte mich ganz und gar übergangen und alleingelassen. Meine Meinung war offensichtlich nicht gefragt, über mich und mein Leben wurde verfügt. Und ich liess dies einfach geschehen….» 

Die Frau muss damals und erst recht später begriffen haben: Da war eine Saite gesprungen. Jahrelang hoffte sie vergeblich auf ein klärendes, vielleicht sogar liebevolles, teilnehmendes Wort – vergeblich.

Und sie selbst versäumte es ebenfalls, über die Demütigung von damals zu sprechen. Man blieb beisammen, jeder tat seine Pflicht. «Als ich Jahre danach einen einfühlsamen Mann kennenlernte, kam mir in den Sinn, dass «Seitensprung» im Französischen als «Aller voir ailleurs» umschrieben wird. Man sieht sich anderweitig um und nimmt wahr, was einem schmerzlich gefehlt hat. 

Dieser Frau ging es weder um Rechtfertigung noch um Entschuldigung, einfach um die Feststellung: Der Sprung auf die Seite, weg vom gewohnten Weg, hat nicht immer nur mit Lust und Leichtfertigkeit zu tun. Sondern eben mit einem Saiten-Sprung, der nie richtig erkannt und behoben worden ist.

Dem Pfarrer und Schriftsteller Jeremias Gotthelf wird man gewiss nicht moralische Oberflächlichkeit vorwerfen wollen. Aber tiefe Lebensweisheit und ein Hauch von grosszügiger Güte werden spürbar, wenn Gotthelf schreibt: «Die Liebe ist weder theoretisch und gottlob nicht wissenschaftlich. Sondern akurat noch so, wie sie Gott geschaffen hat. Nicht zum Dividieren, Spekulieren, Subtrahieren, sondern sich zu freuen über Freudiges und zu weinen, wenn es wieder dahin geht».

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