Zora Debrunner - Verformt und ausgehöhlt

Zora Debrunner , 29.05.2020

Zora Debrunner
Zora Debrunner

Ich gebe es zu, ich bin müde. Ich möchte einfach nur schlafen und an der Sonne liegen. Die letzten Wochen waren brutal. Ich bewege mich als Pflegende in zwei Welten:

Da gibt es die geordnete Welt unserer Institution, die Kolleginnen, die sich alle an die Regeln halten, die professionell mit Desinfektionsmittel und Masken und allem Pipapo umgehen und – die Welt „da draussen“.

Die Welt „da draussen“ zeichnet sich dadurch aus, dass die zuvor wie gelähmten Menschen, die sich nicht mehr aus dem Haus trauten, die zuerst Hamsterkäufe tätigten, sich jetzt wieder unbekümmert unter andere mischen. So als wenn nichts gewesen wäre.

Vor einigen Tagen wurde ich Zeugin, wie ein älterer Mann eine junge Verkäuferin verbal aggressiv angemacht hat, weil die sich getraute, ihm zu sagen, er müsse hinten anstehen an der Schlange, Abstand wahren und sich die Hände desinfizieren. In seiner Macho-Welt war dies wohl zu viel des Guten. Er schrie sie an, fuchtelte vor ihr herum und beleidigte sie. Sie blieb cool.

Natürlich habe ich schon zuvor solche Menschen erlebt, in meiner eigenen Zeit an der Kasse waren sie selten, aber dafür umso angsteinflössender. In diesen Tagen scheinen aber jene Leute, die null Respekt vor anderen haben, wie tagblinde Tiere an die Oberfläche zu strömen. Sie beschweren sich über die Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit, ihres Rechts auf Shopping und die Möglichkeit, jederzeit die Grenzen von Menschen zu überschreiten, die im Verkauf, in der Pflege, als PolizistIn oder im öffentlichen Verkehr arbeiten.

Da wird geflucht, beschimpft, gespuckt, geschlagen, gehustet und gerast, was das Zeug hält. Immer nur „ICH! ICH! ICH!!!“

Ich kanns nicht mehr hören. Ich mag nicht mehr.

Ich mag die Reden über „ist ja nur wie eine Grippe!“ und den fröhlichen Hedonismus nicht mehr anschauen und anhören. Ich mag von wohlstandsverwöhnten Männern und Frauen nicht mehr hören, dass die ganzen Corona-Patienten ja eh drauf gegangen wären, so als wäre ihr Leben aufgrund des Alters nichts mehr wert und nur noch eine Belastung. Ich mag meine Energie nicht jenen schenken, die dankbar jede Chance nutzen, ihren Fremdenhass und ihren Antisemitismus zu feiern und andere mit ihren lebensfeindlichen Ansichten zu vergiften.

Stattdessen sehne ich mich nach meinen Eltern, meinem Vater, den ich endlich mal wieder in den Arm nehmen und drücken will, ohne Angst, ihn krank zu machen. Ich sehne mich nach meinen Freundinnen aus dem Verein. Fast alle Feste, die wir dieses Jahr geplant hatten, alle Treffen sind abgesagt. Keine Musik, keine lange Tafel, an der viele Menschen zusammensitzen und gemeinsam essen und trinken, kein zwangloses Miteinander mehr.

Doch könnte ich es überhaupt noch? Haben mich die vergangenen Wochen nicht zu sehr verformt und innerlich ausgehöhlt? Ich habe Mühe, Menschen zu treffen, tue mich schwer damit, irgendwo hin zu gehen, jemanden zu grüssen. Die Befürchtung, mich anzustecken und vor allem den anvertrauten betreuten Menschen zu schaden, ist gross, die Verantwortung lastet schwer.

Frieden finde ich draussen an der frischen Luft. Im Garten. Wenn ich den frisch verliebten Elstern zuschaue. Wenn ich im Wald bin und mich nur auf den Atem und das Grün konzentriere. Die Natur hat etwas heilendes, etwas tröstendes. Die Bäume und die Wildtiere kümmern sich nicht um Corona, Verschwörungstheorien und Distanzregeln. Sie sind einfach.

Trost und Ablenkung fand ich auch beim konzentrierten schönen Schreiben, beim Brushlettering und der Kalligrafie. Ich bemerkte, wie gut es tut, etwas Schönes zu machen. Diese Konzentration aufs Wesentliche, dieses meditative Schreiben will ich auch in Zukunft weiter führen.

Vielleicht gibt es ja auch in deinem Leben, Corona sei Dank, neu erkannte, wohltuende Angewohnheiten?

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