Monika Marti, 22.03.2018
Gutgelaunt und voller Tatendrang treffe ich im Büro ein und öffne meine Mailbox. Augenblicklich gerät mein Herz ins Stolpern. Im Posteingang befindet sich eine Nachricht vom eidgenössischen Steuerbüro. Max Berger – Steuerexperte – sieht eine Buchprüfung bei mir im Betrieb vor. Ich möge doch so freundlich sein und ihm den vorgeschlagenen Termin von nächster Woche bestätigen. Vor meinem geistigen Auge erscheint nullkommaplötzlich ein Bild des Absenders. Ein grossgewachsener, schlanker Mann in aufrechter Haltung. Massgeschneiderter Anzug. Ein kantiges Gesicht mit hämischem Grinsen. Das argwöhnische Auge mit Brille versehen. In Sekundenschnelle drängt sich die Gewissheit in mein Herz: Meine Buchführung wird dieser Kontrolle nicht standhalten. Ich bin keine gelernte Buchhalterin. Was ich tue, tue ich lediglich nach bestem Wissen und Gewissen. Herr Berger wird mit meiner Arbeit nicht zufrieden sein. Er wird Fehler finden. Er wird anschuldigen. Richten. Verurteilen. Ich sehe in den nächsten Tagen viel Arbeit auf mich zukommen. Jeder Beleg, jede Buchung des vergangenen Jahres muss nochmals kontrolliert und auf Richtigkeit überprüft werden. Mein Brustkorb verengt sich, mein Atem wird kurz und schwer. Ich arbeite unkonzentriert.
Die nackte Angst hält Einzug und bestimmt mein Denken, Erinnerungen tauchen auf: Das zusammengekauerte auf Schläge wartende Kind in mir hebt seinen gesenkten Blick. Ich reiche ihm die Hand. Spreche ihm Mut zu. Und Fürsorge. Vertrauensvoll legt das Kind seine Hand in die Meine und erhebt sich. Allmählich verblassen die Bilder und ich beruhige mich. Ich sage mir, das war einmal und ist nun alles vorbei.
Im Geist vereint treten wir Max Berger bei seinem Eintreten gleichsam wertschätzend und wohlwollend entgegen. Bereitwillig und zuversichtlich werden alle nötigen Akten vor ihm ausgebreitet. Seine Fragen beantworten wir würdevoll. Einige davon bleiben ungeklärt. Nach getaner Arbeit verlässt Max Berger das Büro. Nicht ohne zu erwähnen, dass keine nennenswerten Ungereimtheiten gefunden wurden und die Buchführung sehr sauber gehalten sei. Der Gefürchtete zieht friedlich von dannen. Dankbar schaue ich ihm hinterher.
Was bleibt ist die ernüchternde Wahrheit: Der Wolf im Schafspelz wohnt in mir.