Alles hat seine Zeit

Petra Lienhard, 29.10.2019

Petra Lienhard
Petra Lienhard

Mein Lebensweg ist gespickt mit Überraschungen und Geheimnissen. Ich hatte als junges Mädchen in meinen Träumen ziemlich präzise Vorstellungen. Natürlich ab und zu etwas hochgegriffen. Doch die meisten Wünsche haben sich erstaunlicherweise trotzdem irgendwann tatsächlich erfüllt. Sicher nicht eins zu eins! Aber bei genauerem Betrachten sind meine hochfliegenden Ziele der heutigen Realität ziemlich nahegekommen: «Alles hat seine Zeit!» 

In den sechziger Jahren galt für ein Mädchen als wichtigstes Ziel, gut situiert zu heiraten und den Ehemann samt Kindern glücklich zu machen. Natürlich blieb auch ich von diesem Denken nicht verschont. Besonders die jungen Frauen standen damals im Blickpunkt. Sie mussten keusch, züchtig, sittsam sein und ja keine Schande über die Familie bringen. Auf Grund dieser Tatsache nistete sich gedanklich ein kleiner roter Verbotspfeil während der Suche nach dem passenden Partner in meinem Hinterkopf ein: "Unter gar keinen Umständen ein uneheliches Kind in die Welt setzen!" Ich erinnere mich noch sehr gut an dieses Gefühl, so, als wäre es erst gestern gewesen. Zumal die sexuelle Aufklärung nicht zu den Stärken meiner Eltern gehörte. Freundinnen munkelten, bei einem Zungenkuss werde ein Mädchen sofort schwanger. Öffentlich auf dem Schoss eines jungen Mannes zu sitzen, galt allgemein, bei den Erwachsenen als Zeichen für: "Leicht zu haben" oder: "Die teilt doch mit jedem ihre Matratze". Die Suche gestaltete sich also nicht einfach, denn die Augen der urteilenden Gesellschaft lauerten überall. Nach der Heirat so hiess es: "Dein Mann, das Oberhaupt der Familie, bestimmt dein weiteres Leben!" Ich überlegte: "Das bedeutet, durch die Eheschliessung werde ich automatisch zu seinem Untertanen?! " Sicher nicht! Meine Nackenhaare stellten sich. «Kommt gar nicht in die Tüte!» Diese Art zu leben erschien mir nicht besonders erstrebenswert. Ich wollte Geld verdienen und unabhängig sein. Also erlernte ich den Beruf der Damen- und Herren-Friseurin. Nach drei Jahren Ausbildung, mit dem Gesellenbrief in der Hand. war ich stolz wie Oskar! Jetzt hiess es für mich: "Auf zu neuen Ufern, raus aus Deutschland!" Ich wählte drei Länder, um mich zu bewerben; Frankreich, England und die Schweiz. Auf alle Bewerbungen bekam ich eine positive Rückmeldung. Mich zu entscheiden viel mir wirklich nicht leicht.

Eine innere Stimme flüsterte mir zu: "Entscheide dich für die Schweiz!" Okay, dann also auf in die Schweiz. Das war Neuland in allen Bereichen. Dass Schweizerdeutsch nicht gleich Deutsch ist, damit hatte ich nicht gerechnet. Doch ich wollte mich in diesem wunderschönen Land heimisch fühlen und dazu gehörte auch, dass ich möglichst rasch diesen frischen, lustigen Dialekt verstehen und auch sprechen lerne. Ich tat es mit Inbrunst und zum Glück fiel es mir nicht schwer. Heute ist die Schweiz zu meiner Heimat geworden.

Jetzt aber zu meinem damaligen geheimnisvollen Gefühl. Beruflich unabhängig und mit eigenem Geld unterwegs zu sein, das war das Eine. Zum anderen träumte ich ebenso davon, einen mich liebenden Mann kennenzulernen. Und siehe da, dieses wunderbare Gefühl beförderte mich schon nach wenigen Monaten geradewegs in die Arme meines zukünftigen Ehemannes. Da war endlich ein Mensch, der mir zuhörte. Zum Glück konnte ich mit den wenigen schon erlernten Sätzen punkten. Ich wurde sexuell nicht bedrängt, stattdessen durfte ich seine ungehemmte Fröhlichkeit geniessen. Er zeigte mir die Schweiz von ihrer schönsten Seite. Jedes Wochenende sammelte ich neue Eindrücke. Im Rückblick war es wohl die leichteste und schönste Zeit in meinem bisherigen Leben. Bis zur offiziellen Verlobung im darauffolgenden Jahr waren wir «per Sie». Ich war geachtet, beworben und geschätzt. Der kleine rote Pfeil in meinem Hinterkopf verwandelte sich in Vertrauen. Ohne schwanger zu sein heiratete ich meinen Traumprinzen. Später stellte sich heraus, dass innerhalb seiner ganzen Familie alle Frauen wegen vorzeitiger Schwangerschaft heiraten mussten. Das machte uns mächtig stolz und unangreifbar.

Wir waren ein gutes Gespann und jeder gemeinsame Lebensabschnitt enthielt gute aber auch schwere Augenblicke! Oft waren unsere Wünsche und Ziele nicht identisch, aber auf geheimnisvolle Weise schubste uns das Leben immer in die richtige Richtung. Er wollte auswandern, ich nicht! Aber wir liebten uns, was sollte da schon passieren? Nach einem Umweg über Kanada landeten wir in Amerika. In dem Augenblick als wir unser neues Domizil betraten, fühlten wir uns zuhause. Ich glaubte ein Déjà-vu zu erleben! Ich kannte dieses Haus bereits aus meinen Träumen! Ich dachte, vielleicht bin ich jetzt einem Geheimnis auf der Spur?

Schlussendlich war es nicht wichtig, wir waren einfach nur glücklich! Es machte plötzlich alles Sinn. Nach den wenigen, aber sehr glücklichen Jahren verloren wir durch ein verheerendes Feuer unser Zuhause. Durch den Verlust des Arbeitsortes wurde auch unsere Anwesenheit nicht mehr geduldet. Wir waren fassungslos. Also zurück zum Anfang wie beim Spiel "Mensch ärgere dich nicht". Die Devise lautete nicht aufzugeben, sondern aufstehen, Krone richten und von Neuem eine Heimat suchen.

Diese Zeit in den Staaten prägte sich tief in unsere Seelen ein. Erst später begriffen wir, dass es der richtige Zeitpunkt war, die Vereinigten Staaten zu verlassen. Die politischen Veränderungen in Amerika wären für uns nicht kompatibel gewesen. Erst jetzt, wo ich den Verlauf unseres gemeinsamen Lebens Revue passieren lasse, fällt mir dies wie Schuppen von den Augen.

Auf geheimnisvolle, unergründliche Art verlief unser Leben gelenkt wie durch einen roten Faden. In das Leben zu vertrauen und es anzunehmen, das ist vielleicht der Schlüssel zum Glück. In dieser festen Überzeugung versuche ich jetzt auch den Tod meines Ehemannes anzunehmen. Die mir so vertraute geliebte zweite Hälfte fehlt an allen Ecken und Kanten. Doch die Erinnerung siebenundvierzig Jahre gemeinsam durch turbulente Zeiten gegangen zu sein, kann mir keiner mehr nehmen.

Wenn ich an die Zukunft denke, erwarten mich bestimmt noch etliche geheimnisvolle, am Anfang wieder unverständliche Ereignisse! Guten Mutes nehme ich die Herausforderung an, intensiv zu leben und in das Leben zu vertrauen!

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