Elisabeth Neuhold Büchel, 18.04.2018
Es war ein strahlend blauer Herbsttag. Ein Tulpenzwiebelsetztag. Ein Quitteneinkochtag, ein Sommerkleiderverräumtag, ein Obstkuchenundkaffeetag.
Vieles hätte Erna tun können, an diesem
Tag. Und einiges hätte sie vielleicht sogar ein wenig glücklich gemacht. Aber an
diesem ersten Oktober sass sie mit zittrigfeuchten Händen in einem
Spitalkorridor und fragte sich, wer sie hierher gebeamt hatte, ohne Vorwarnung
herausgerissen aus ihrem beschaulichen Leben und auf diesem Chromstahlsessel
platziert hatte. Sie las Flyer von Selbsthilfegruppen, psychologischen
Beraterinnen und Perückenateliers, um sich irgendwie zu beschäftigen. Die junge
Frau vis a vis mit dem farbigen Turban starrte zur Decke, das schweigende
Ehepaar hielt sich an den Händen.
Wie wird Stefan reagieren? Die Kinder? Wird Jonas nachhause kommen? Wird sie es
sein, die die anderen tröstet und allen Mut macht? Oder würde sie endlich
wieder einmal von jemanden in den Arm genommen werden? Aus dem geplanten
Kurzurlaub im Südtirol übernächste Woche würde nichts werden. Den wird sie
absagen müssen, den Jassnachmittag auch, die kleine Elena kann nicht zum Grosi
in die Ferien kommen. Grosi wird nämlich im Spital sein. Operation, Chemotherapie,
Untersuche… Keine Fahrradtour mehr. Vielleicht nie mehr. Mit einem Räuspern
versuchte sie sich aus ihren Gedanken zu reissen. Wieder anzukommen. Hier,
jetzt. Aber was zum Teufel machte sie hier?
Als die junge Frau mit dem Turban ins Sprechzimmer gebeten wurde, sprang Erna so
schnell vom Stuhl, dass sämtliche Flyer, die sie auf den Oberschenkeln
gestapelt hatte, zu Boden fielen. Umständlich raffte sie sie wieder zusammen
und sortierte sie in das Gestell. Sie hatte es bei ihrer Nachbarin miterlebt. Und bei Inge. Die vielen Leute an
Inges Beerdigung. Würden bei ihr auch… Und dann die Frau vom Coiffeur. Kathrin?
Karin? Karina? Egal, ist ja auch schon ein paar Jahre her. Italienerin war sie,
hatte wunderschönes schwarzes Haar.
Irgendwie hat sie es immer gewusst. Sie hat es geahnt. Eines Tages wird es auch
uns treffen, hat sie gesagt. Stefan hat nur gelacht, warum sollte es, hat er
gemeint, hör auf zu grübeln. Aber sie hat es gewusst. Sie hat es gewusst. Sie
hat es immer gewusst! - Wenigstens trifft es keines von den Kindern. Erna empfand das Warten wie eine grausame,
zähe Ewigkeit. Und doch erschrak sie, als sie aufgerufen wurde. Sie wollte sich
mit einem Nicken von dem Ehepaar verabschieden und stolperte über ihre Handtasche.
Die Assistentin hielt lächelnd die Tür offen.
Eine Stunde später sass sie in einem Kaffee bei dem kleinen See. Die Sonne stand noch immer am Himmel, der Kellner bewegte sich elegant und geschmeidig. Die Enten stritten wie eh und je um Brotbrocken, die ihnen von Spaziergängern zugeworfen wurden. Und doch fühlte sich heute alles anders an. Klar, sauber, strahlend, als wäre der Staub der Selbstverständlichkeit von einem heftigen Regenguss weggespült worden. Als hätte sich eine sanfte Aura von Dankbarkeit um alles gehüllt. Wie schön die Welt war. Ernas Hand zitterte. Der kleine Löffel in der Espressotasse klimperte, als sie die Tasse zum Mund führte. Das dunkelgelockte Mädchen mit dem rosa Tüllkleidchen lächelte ihr mit erdbeereisverschmierten Mund zu und ignorierte die Rüge ihrer Mutter, die ein Papiertaschentuch auseinanderfaltete. Carola hiess sie, die Frau vom Coiffeur. Carola Monastra. Ein schöner Name für eine schöne Frau. Erna tupfte sich diskret mit der Serviette eine Träne aus den Augenwinkeln. Dann hob sie den Teller vors Gesicht, zwinkerte über den Rand dem Mädchen zu und leckte die Brosamen des Apfelkuchens und den Rest der Schlagsahne weg.
Wieder und wieder hörte sie die Stimme der jungen deutschen Ärztin wie eine Melodie, die man nicht aus dem Kopf bringt. „Unser Verdacht hat sich nicht bestätigt, Frau Seger. Sie können beruhigt nachhause gehen. Heute ist ein Obstkuchenundkaffeetag.“