Elisabeth Neuhold Büchel, 24.06.2018
Nachdem
Leon seine schweissnasse, schlaffe Hand
rasch zurückgezogen hat, lässt er sich auf den Stuhl plumpsen. Ohne
Aufforderung. Er schaut gelangweilt zum Fenster hinaus, kaut auf seiner
Unterlippe und zieht seine Schirmmütze tiefer in die Stirn. Sein Vater
zerquetscht mir zur Begrüssung beinahe die Finger. Er sieht mich auffordernd
an, gibt seiner Freude mich kennenzulernen überschwänglich Ausdruck und faselt
etwas von guter Zusammenarbeit und Interesse. Meine Anmerkung, dass es dazu
genügend Gelegenheiten gegeben hätte in den letzten drei Jahren – Elternabende,
Musicalaufführung, Projektpräsentationen – ignoriert er. Dafür lobt er die
Inneneinrichtung des Schulleitungsbüros. Ich strecke und schüttle meine Finger
und setze mich gegenüber von Vater und Sohn. „Leon, zieh bitte deine Mütze
aus“, fordere ich den Fünfzehnjährigen auf. Herr Tobler doppelt eifrig nach. Der
Junge legt murrend seine Kopfbedeckung auf die Zettel, die auf dem Tisch liegen
und fährt sich mit den Händen durchs Haar, um seine Frisur in Form zu bringen.
Sein Vater knallt den Schlüssel seiner Harley auf den Tisch und stützt die
Hände auf seine weit gespreizten Oberschenkel. Sein leinenes Sommerhemd ist nur
bis zur Hälfte zugeknöpft.
Ich beschliesse, meine Strategie zu ändern - kein Smalltalk, sondern direkte
Konfrontation. Doch Papa Tobler kommt mir zuvor. Er erkundigt sich nach dem
Verbleib von Frau Stella Bella. „Sie meinen Frau Stellano, die
Mathematiklehrerin von Leon,“ korrigiere ich ihn. „Sie wird am Gespräch nicht
anwesend sein, da sie verhindert ist.“ Sie hat sich in letzter Minute wegen
Menstruationsbeschwerden entschuldigt. Na ja. Herr Tobler ist sichtlich
enttäuscht und wirft einen Blick auf die Uhr. In einer halben Stunde ist der
Anpfiff zum Champions Leage Finale und ich überlege mir kurz, ob ich das
Gespräch absichtlich etwas in die Länge ziehen soll. „Das ist jetzt aber verdammt
schade. Wissen Sie, ich hätte die Angelegenheit natürlich gerne selber in
Augenschein genommen, also ich meine, mich vergewissert, ob die Anschuldigungen
gerechtfertigt sind. Es gibt Dinge, da muss ein Vater einfach hinschauen. Auch
wenn sie unangenehm sind. Vor allem wenn es sich um eine junge und unerfahrene
Lehrerin handelt, die … wie haben Sie es ausgedrückt? … beleidigt wurde.“
Ich nicke, ziehe die Überreste einiger fleddrig zerrissener Papierschnipsel unter der Schirmmütze hervor und streiche sie vor Tobler glatt. Während sein Vater laut vorliest, scheint Leon etwas ungemein Interessantes an der Zimmerdecke entdeckt zu haben. Er zupft an den flaumigen Barthaaren auf seiner Oberlippe. Das picklige Gesicht wirkt gelangweilt.
„Verdammt
geile Titten, Knackar…, warum ziehen Sie nicht jeden Tag das weisse T-Shirt an,
ihre neuen Jeans sind …“
In gespielt entrüstetem Ton wendet sich Tobler an seinen Sohn und will wissen,
ob er das geschrieben habe. Leon zuckt gleichgültig mit den Schultern und wirft
einen Blick auf sein Smartphone. „Also ja? Wie!? Gibt mir eine Antwort!“ „Kann
schon sein“, murmelt der Junge.
„Du wirst dich bei deiner Lehrerin entschuldigen! Verstanden! Das geht gar
nicht! Hat dir deine Mutter denn keinen Anstand beigebracht, Junge Junge! Und
hier“, Tobler klopft mit den Fingerknöcheln auf einen der Zettel – nun scheint
er ehrlich erbost, „hier, was wolltest du schreiben, hä! Ihre Jeans sind …
was?!“ Erneut hebt Leon die Schultern und schürzt die Lippen. Sein Vater
poltert weiter, kritisiert die unleserliche Schrift sowie die Rechtschreibung „…
und Arsch schreibt man gross, das ist ein Verb, verdammt nochmal, lernst du
eigentlich nichts Schlaues hier in diesem Betrieb!? …“ Ich lehne mich für ein
paar Minuten zurück. Schliesslich unterbreche ich diese Alibitirade und verlese
das Strafmass: schriftliche Entschuldigung an Frau Stellano, ein Mittwochnachmittag
Arbeit mit dem Hauswart.
Ich könne ihn ruhig für drei Nachmittage einteilen oder noch besser Samstage,
dann mache er nichts Dümmeres, offeriert mir Tobler und schielt wieder auf die
Uhr. „Wir haben unsere Richtlinien,“ entgegne ich, “vielleicht können Sie
selber schauen, dass er am Samstag nichts Dummes macht.“
Mit sachlicher Freundlichkeit verabschiede ich mich von den beiden und werfe
die Zettel in den Papierkorb. Während das tiefe Brummen der schweren Maschine
und das darauffolgende Knattern des Mofas sich entfernen, wird mir plötzlich
heiss. So heiss als würde mich jemand ungefragt in einen Backofen schieben.
Verdammte Scheisse, jetzt geht das wieder los!