Wo fängt Missbrauch an?

Silvia Trinkler, 17.01.2018

„Me too“ zieht um die Welt, schlägt Wellen, löst Aktionen und Reaktionen verschiedenster Art aus. Solidarität wird erkennbar. Ich fühle mich zwar nicht betroffen, doch dann fallen mir täglich neue grenzwertige Begebenheiten ein.

Damals beim alten Zahnarzt: Die Furcht vor seinen Wurstfingern, die nicht nur in meinem Mund herumtasteten. Die  Mutter nahm meine Angst ernst, münzte sie auf die Zahnbehandlung, sass brav neben dem Behandlungsstuhl und hielt meine Hand. Der Vater hingegen degustierte mit dem Dentisten im Nebenraum den als Zahlungsmittel mitgebrachten Bauern-Schnaps. Zwischendurch kontrollierte der alte Lustmolch den ausgetrockneten Mundraum und die Löcher in meinen Zähnen. Gleichzeitig tastete er an meinem knospenden Busen herum, kniff mich in die Wange wie bei einem Kleinkind. Er grinste mich aus seinem rötlichen pausbäckigen Gesicht frech an. Ich krächzte unverständlich, gepeinigt, mit dem Speichelsauger im Mund und wartete angsterfüllt bis er von der nächsten Runde Schnaps aus dem Nebenraum zurückkam. Etwa zur gleichen Zeit durfte ich im Musikverein ein Instrument lernen. Zwanzig Franken betrug die Miete für die Trompete; die Ausbildung wurde vom Präsidenten und einem Helfer ehrenamtlich geleistet. Diese brachten uns jeweils nach dem Unterricht nach Hause. Sie liessen uns ein paar Hundert Meter von zuhause entfernt aussteigen. Der Lenker holte die Instrumente aus dem Kofferraum und wir verabschiedeten uns hastig. Wichtig war, nicht die Letzte zu sein, denn diese wurde hart mit Körperkraft ans Fahrzeug gedrückt und versucht ihr die Zunge in den Mund zu stecken. Die anderen beiden Mädchen waren davon gerannt.

Wo fängt Missbrauch an? Was ist ein Übergriff? Wo sind die gesetzlichen Grenzen? Wo die persönlichen? Lüsterne Blicke, mit den Blicken ausziehen... eine saloppe Phrase? Der visuelle Missbrauch fängt da an, wo die beäugte Person sich in ihrer Privatsphäre gestört fühlt oder gestört fühlen würde, wenn sie es wüsste. Er muss vom Opfer nicht bemerkt werden, trotzdem überschreitet der Täter Grenzen. Das „Nachpfeifen“ ist der Übergang vom visuellen zum verbalen Missbrauch. Die einschlägigen Angebote des schwergewichtigen Unternehmers: „Du als Alleinerziehende willst sicher auch wieder einmal schick essen gehen.“ Ein langer Blick, dann der Nachsatz: „Bezahlen kannst du dann in Naturalien.“ Ich grüsse den eingebildeten Trottel heute noch. Oder der zweite missbräuchliche Zahnarzt, ich könnte seine Mutter sein. Er schüttet mir während der Behandlung sein „Herz“ aus: „Ich musste mich unterbinden lassen, dabei habe ich Sperma einfrieren lassen. Ich will ja von den Frauen nicht wegen meines guten Einkommens hereingelegt werden und für ein kleines sexuelles Vergnügen dann 20 Jahre Alimente bezahlen müssen.“ Ohnmächtig liege ich auf dem Behandlungsstuhl....Der körperliche Missbrauch ist eindeutiger. Der Chef nach der Weihnachtsfeier, der mich netterweise nach Hause bringt und zum Abschied nicht nur Wangenküsschen erwartet.... der Vereinskollege, der zwischen Bar und Toilette grapschen und küssen will.... dem hab ich direkt eine geknallt ! Er macht heute noch einen Bogen um mich herum.

Warum schweigen Frauen und Mädchen in diesen konkreten Situationen? Warum habe ich geschwiegen und mir Vieles und noch einiges mehr gefallen lassen? Damals in meiner Jugend wäre ich auf taube Ohren gestossen. Meine Mutter hätte mir die Schuld gegeben. Frauen hätten züchtig und folgsam zu sein. Mein Vater hätte mir eine Ohrfeige gegeben und geschrien was mir einfalle, solche Dinge von ehrwürdigen Männern zu behaupten. Eine freche Göre mit liederlicher Fantasie! Meine Glaubwürdigkeit wäre grundsätzlich bezweifelt worden. Schamgefühl spielte auch eine Rolle. Aufklärung war ja nicht nötig auf dem Bauernhof. Die Kinder sehen ja wie es bei den Kühen läuft. Ja aber eben, ein Stier und zwanzig Kühe. Genau! diese blöden Kühe! Ebenfalls hatte damals wie heute der Glaube einen großen Einfluss: Warum wird Eva heute noch als Schuldige bezeichnet? Wäre es nicht an der Zeit die Schuld und die Verführung mit Selbstverantwortung zu tauschen?Warum müssen Frauen sich verschleiern, damit Männer nicht sexuell überreizt werden? Wo ist da die Eigenverantwortung der Männer? Warum werden Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen oft über ihr Äusseres beurteilt?

Meine Gedanken gehen zurück zu Eva und dem angebissenen Apfel. Im Moment wird die Männerwelt mit angebissenen Äpfeln beworfen. Und was passiert dann? Wenn wir Frauen die Äpfel liegen lassen, verfaulen sie am Boden der Realität und nähren weiterhin Ungeziefer und Unkraut und etliche Männer lachen sich ins Fäustchen.

Damit die Solidarität Wirkung hat, muss in jedem Menschen ungeachtet des  Geschlechts eine Veränderung der menschlichen Werte, der Wertschätzung und der Gleichbehandlung des Weiblichen passieren. Wir Frauen müssen Respekt und Gleichheit einzufordern. Jede Frau ist gefordert „Me too“ zu thematisieren ohne die Männer zu pauschalisieren und generell zu beschuldigen. Die Männer übernehmen diese Verantwortung nicht für uns! Wir sind das starke Geschlecht. Worauf warten wir?

Autorinnen

Batliner Benita

Batliner Benita

Büchel Neuhold, Elisabeth

Büchel Neuhold Elisabeth

Dressler Birgit

Dressler Birgit

Hengartner Monika

Hengartner Monika

Keller Eveline

Keller Eveline

Klassen Anna

Klassen Anna

Gaby Kratzer

Kratzer Gaby

Petra Lienhard

Lienhard Petra

Lüthi Verena

Lüthi Verena

Marti-Neuenschwander Monika

Marti-Neuenschwander Monika

Julia Onken

Julia Onken

Beatrice Stössel

Beatrice Stössel

Silvia Trinkler

Trinkler Silvia

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